Bundesverfassungsgericht - „Eine Ökodiktatur darf es nicht geben“

Im Eiltempo soll der Bundestag heute das Klimaschutzgesetz verschärfen. Das Bundesverfassungsgericht lässt dem Parlament kaum eine andere Wahl. Staatsrechtler Sebastian Müller-Franken hält dieses Klimadiktat aus Karlsruhe für hochproblematisch und warnt vor gravierenden Freiheitseinschränkungen.

Der Staatsrechtler Sebastian Müller-Franken kritisiert das Bundesverfassungsgericht für seinen Klimabeschluss / Max Kratzer
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Daniel Gräber leitet das Ressort Kapital bei Cicero.

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Sebastian Müller-Franken ist Professor für Öffentliches Recht an der Philipps-Universität Marburg und lebt in München.

Herr Professor Müller-Franken, das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Klimabeschluss eine sehr weitreichende Entscheidung getroffen. Warum ist aus der Staatsrechtswissenschaft bisher so wenig dazu zu hören?

Sebastian Müller-Franken: Das Gericht hat eine grundlegende Weichenstellung vorgenommen, die Folgen für die Gesamtarchitektur von Staat und Gesellschaft haben wird. Über einzelne Details wird diskutiert, zum Beispiel ob man nicht mehr auf marktwirtschaftliche Instrumente statt auf staatliche Regulierung setzen sollte. Aber der grundsätzliche Rahmen, in dem sich die weitere klimapolitische und verfassungsrechtliche Diskussion bewegen wird, der ist nun gesteckt. Wer diese grundstürzende Entscheidung hinterfragt, schwimmt gegen den Strom.

Aber Sie tun es?

Man muss zumindest fragen dürfen, ob diese Entscheidung in ihren rechtlichen Herleitungen dem entspricht, was man hätte erwarten können. Meine Antwort darauf ist Nein. Denn bisher hatte das Bundesverfassungsgericht bei der Erfüllung des Staatsziels Umweltschutz stets den weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers betont. Dies war auch der Grund, weshalb die Grünen 2018 versucht haben, den entsprechenden Grundgesetzartikel zu verschärfen. Völkerrechtlich verbindliche Ziele und Verpflichtungen des Klimaschutzes sollten künftig alle staatliche Gewalt unmittelbar binden. Diese Verfassungsänderung hat im Bundestag keine Mehrheit gefunden. Ein Jahr später brachten die Grünen ihren Vorschlag erneut vor, wieder ohne Erfolg. Doch nun schreibt das Gericht das Pariser Klimaabkommen verfassungsrechtlich fest und erreicht so das gleiche Ergebnis.

Was der Verfassungsgeber abgelehnt hat, interpretiert das Verfassungsgericht also nachträglich ins Grundgesetz hinein. Wie geht das?

Indem es dem Umweltschutzartikel des Grundgesetzes die Pflicht des Staates entnimmt, Klimaneutralität herzustellen, und das Pariser „Unter-zwei-Grad-Ziel“ zu einer aktuell noch zulässigen Konkretisierung dieses Zieles erklärt. Zuvor hat es in einem Sachbericht die tatsächlichen Grundlagen des Klimawandels in einer Weise festgeschrieben, dass es ein Zurück hinter das Pariser Abkommen nicht mehr geben darf. All das erstaunt.

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Der Sachbericht beschäftigt sich mit den wissenschaftlichen Grundlagen des Klimawandels. Was erstaunt Sie daran?

Die Entscheidung darüber, was in welcher Weise in den Sachbericht aufgenommen wird, trifft eine Vorentscheidung für den Ausgang des Verfahrens. Das Gericht hat in seinem Bericht auch Aussagen zusammengetragen, bei denen die Annahme überrascht, hier bestehe „nahezu Einhelligkeit“ in der Wissenschaft. 

Können Sie ein Beispiel nennen?

Ein wesentlicher Baustein der Entscheidung ist die Annahme, es gebe sogenannte „Kipppunkte“, bei deren Überschreiten es zu abrupten und irreversiblen klimatischen Veränderungen kommt. Diese Annahme ist wirkmächtig, jedoch unter Wissenschaftlern nicht unbestritten. So antwortete ein Direktor des Hamburger Max-Planck-Instituts für Meteorologie noch im vergangenen Jahr auf die Frage der FAZ, welche Kipppunkte ihm besondere Sorgen machten, „keiner“, da er zur Entwicklung und Bedeutung dieser Elemente zu anderen Einschätzungen kommt. Daher erstaunt, dass das Gericht nicht mündlich verhandelt und dabei Klimaforscher verschiedener Institute befragt hat. In den Verfahren zur Eurorettung hat das Gericht stets unterschiedliche Finanzwissenschaftler in seine mündlichen Verhandlungen eingeladen. Hier meinte es, darauf verzichten und den maßgebenden Forschungsstand zu naturwissenschaftlichen Streitfragen höchster Komplexität selbst beurteilen zu können.

Und das führt dann dazu, dass aus dem Umweltschutz-Artikel des Grundgesetzes das Staatsziel Klimaneutralität wird? 

Ja, das ist die zentrale Weichenstellung. Als der Artikel 20a im Jahre 1994 in die Verfassung eingefügt wurde, gab es den Begriff Klimaneutralität noch gar nicht. Wenn man sich vorstellt, was Klimaneutralität bedeutet: dass der Staat, wenn er das Ziel einhalten will, zu unglaublichen Freiheitseinschränkungen und im Ergebnis zur Hintanstellung aller anderen verfassungsrechtlichen Ziele und Prinzipien gezwungen ist. Dann wird deutlich: Das kann nicht der Inhalt des Artikels 20a sein.

Aber die Karlsruher Richter schreiben auch, das Klimaneutralitäts-Gebot genieße keinen Vorrang gegenüber anderen Verfassungsrechtsgütern und Verfassungsprinzipien.

Ja, das schreiben sie. Aber sie schreiben zur gleichen Zeit, dass Klimaneutralität zwingend anzustreben ist. Und das Gericht sagt auch: Je stärker der Klimawandel fortschreitet, umso dringlicher macht sich das Gebot des Klimaschutzes geltend. Die Frage ist, ob hier nicht das Verfassungsgericht als Verfassungsrechtsetzer tätig geworden ist, indem es den Artikel 20a entgegen der Intention zu einer Übernorm gemacht hat, dem sich alles Weitere unterzuordnen hat.

Was war denn die ursprüngliche Intention?

Dem Artikel 20a ging eine lange Diskussion voraus. Schon im Jahre 1983 hat eine Sachverständigenkommission, die sich mit der Ergänzung des Grundgesetzes um Staatszielbestimmungen beschäftigen sollte, für eine Aufnahme des Zieles Umweltschutz votiert. Es ging damals noch nicht um die globale Erwärmung, sondern um Umweltverschmutzung durch giftige Abwässer, verunreinigte Luft oder Müll. Damals war ein solches Staatsziel umstritten und konnte sich nicht durchsetzen. Vor allem CDU und CSU befürchteten, dass die Spielräume des Gesetzgebers zu stark eingeengt würden. Jahre später entfachte die Wiedervereinigung eine verfassungspolitische Dynamik, und man einigte sich nach langen Beratungen auf einen Kompromiss.

Wie zeigt sich dieser Kompromiss an der konkreten Formulierung im Grundgesetz?

Dort heißt es, der Staat schütze die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere „im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung“. Soll heißen: Der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und der Tiere ist eingebettet in die Gesamtheit der Verfassung, er genießt keinen unbedingten Vorrang. Zudem ist die Rede vom „Schutz durch die Gesetzgebung nach Maßgabe von Gesetz und Recht“. Damit bringt das Grundgesetz die primäre Verantwortung des Gesetzgebers wie auch die Gestaltungsoffenheit des Staatsziels zum Ausdruck.

Und darüber hat sich das Bundesverfassungsgericht nun hinweggesetzt?

Ich denke schon. 2013 hat der damalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle geschrieben, Artikel 20a verpflichte zu weiteren Reduktionen des Treibhausgasausstoßes. Vollkommen richtig. Aber er sprach nicht davon, der Artikel ziele auf Klimaneutralität. Den Begriff gab es damals schon. Voßkuhle hat ihn nicht verwendet, weil er die Norm so auflädt, dass alle Beteuerungen, es bliebe gesetzgeberischer Spielraum, zu Lippenbekenntnissen werden. Der Druck, den die Norm dadurch entfaltet, ist so enorm, dass sich alle anderen Staatsziele und Verfassungsprinzipien im Konfliktfall unterzuordnen haben.

An welche Konflikte denken Sie?

Da gibt es eine ganze Reihe. Das Sozialstaatsprinzip zum Beispiel. Es zielt nicht nur auf die Abwehr von Not und Armut, sondern auch auf Teilhabe an der sozialen Normalität, wo immer diese liegen mag. Gehört eine Flugreise heute hierzu, soll diese künftig wieder zu einem Luxusgut für die Bezieher höherer Einkommen werden. Der Staat will Wohlstandsdifferenzen nicht abbauen, sondern künstlich errichten. Das ist neu. Genauso beim Fleischkonsum. Es gibt Konzepte, den Fleischkonsum deutlich zu verteuern durch eine neue Verbrauchsteuer oder eine Ergänzungsabgabe. Teile der Bevölkerung finden das richtig. Aber denen macht es auch nichts aus. Nur der sogenannte kleine Mann, der über ein niedrigeres Haushaltseinkommen verfügt, soll diesen Verzicht leisten – dem Klima zuliebe.

Die finanziellen Lasten eines radikalen Klimaschutzes sind insgesamt enorm.

Das Grundgesetz sagt, wir müssen das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht wahren, das heißt nach Preisstabilität, Vollbeschäftigung, außenwirtschaftlichem Gleichgewicht und Wirtschaftswachstum streben. Das sind alles Ziele, die mit dem Staatsziel Klimaneutralität in Konflikt geraten können. Nicht zuletzt verbietet das Grundgesetz prinzipiell die Aufnahme weiterer Schulden. Da der Erhöhung bestehender und der Einführung neuer Abgaben Grenzen gesetzt sind, müsste zur Finanzierung der geplanten Klimaschutzmaßnahmen die Staatsverschuldung kräftig ausgeweitet werden, weshalb auch schon die Forderung nach Aussetzung der Schuldenbremse erhoben wird. Das Verbot der Staatsverschuldung dient jedoch auch dem Schutz künftiger Generationen.

Was ist die Konsequenz des Beschlusses?

Der Bundestag hat nur noch die Funktion, darüber zu entscheiden, in welchem Maße welche Freiheitseinschränkungen vorgenommen werden. Und es müssen gravierende Einschränkungen kommen, um das Ziel der Klimaneutralität zu erreichen. Zumal das Bundesverfassungsgericht auch gesagt hat, Deutschland könne nicht darauf verweisen, dass andere Länder weniger oder gar nichts tun. Die Argumentation ist: Wir müssen auf jeden Fall unseren Beitrag erbringen, denn jede kleine CO2-Einsparung trage dazu bei, die Erderwärmung aufzuhalten.

Das Gericht schreibt auch, Klimaschutz sei zu wichtig, um ihn dem „tendenziell kurzfristiger und an direkt artikulierbaren Interessen orientierten tagespolitischen Prozess“ zu überlassen. Es misstraut offenbar der parlamentarischen Demokratie.

So ähnlich hat das Bundesverfassungsgericht früher schon einmal argumentiert, als es die politische Unabhängigkeit der Bundesbank verteidigte. Was damals die Geldwertstabilität war, ist heute die Klimaneutralität. Man kann so etwas ja politisch wollen. Aber dass dies unumkehrbar von Verfassungs wegen auf ein konkretes Ziel mit einer fixen Jahreszahl und einem auf die Stelle nach dem Komma berechneten CO2-Budget festgelegt sein soll, ist meiner Auffassung nach dem Artikel 20a nicht zu entnehmen. Das ist nicht die Aufgabe des Gerichts.

Nicht die drohenden Freiheitseinschränkungen an sich sind das Problem, sondern dass der Gesetzgeber dazu gezwungen wird?

Gesetzgeberisch wäre vieles möglich, solange die Grundrechte beachtet werden. Wenn eine parlamentarische Mehrheit vom Wähler den Auftrag dazu erhalten hat, kann sie eine rigorose Klimaschutzgesetzgebung auf den Weg bringen. Aber wenn wir einen neuen Bundestag wählen, kann dieser manches wieder zurücknehmen und ein anderes, milderes Klimaschutzkonzept beschließen. Solange er überhaupt Klimaschutz betreibt und die CO2-Einsparungen steigert, wäre das nach der herkömmlichen Betrachtung, die bis zum Beschluss des Bundesverfassungsgerichts anerkannt war, mit Artikel 20a vereinbar gewesen.

Aber Deutschland hat sich doch völkerrechtlich an das Paris-Ziel gebunden.

Das wäre kein Hindernis. Das Bundesverfassungsgericht hat es noch vor wenigen Jahren zu einem Gebot der Demokratie erklärt, dass ein neuer Bundestag Gesetze erlassen darf, mit denen er von bestehenden völkerrechtlichen Verträgen abweicht. Die von den Grünen gewollte Verfassungsänderung, die ich eingangs erwähnt habe, verfolgte ausweislich ihrer Begründung ausdrücklich das Ziel, künftigen Bundestagen das Recht zu nehmen, Klimaschutzabkommen überschreiben zu können. Der Anlauf zu dieser Grundgesetzänderung ist zweimal gescheitert. Jetzt hat das Parlament dieses Recht durch den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts verloren – ohne dass die Verfassung mit den notwendigen Zweidrittelmehrheiten im Bundestag und Bundesrat geändert worden wäre.

Ebnet dieser Beschluss den Weg in die Ökodiktatur?

Diese Forderungen gibt es. In einer Demokratie ist es nämlich schwierig, Klimaneutralität nach den Vorgaben des Verfassungsgerichts zu erreichen. Umgesetzt worden ist ja noch nicht viel, das soll jetzt mit großen Schritten kommen. Aber die Demokratie lässt sich nicht abschaffen, davor schützt die „Ewigkeitsgarantie“ des Grundgesetzes. Es wird also auch in vier Jahren wieder ein neuer Bundestag gewählt werden, und die Akzeptanz für harte Einschnitte ist noch nicht getestet worden. Ich vermute: Es wird zu Gegenbewegungen kommen, und die Politik wird darauf reagieren. Aber das ist Spekulation. Jedenfalls: Eine Ökodiktatur darf es nicht geben. 

 

Dieser Text stammt aus der Juli-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

 

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