Der Umgang des Westens mit Russland - Nüchterne Realpolitik ist jetzt angebracht

Wie geht man mit Russland um, einem zunehmend autokratisch regierten und außenpolitisch aggressiv auftretenden Land, das Menschenrechte mit Füßen tritt? Die Nato sollte einerseits Russlands „rote Linien“ akzeptieren, andererseits die eigenen „roten Linien“ klar herausstellen. Moralische Entrüstung ist jedenfalls keine Kategorie in der internationalen Politik.

Wladimir Putin, Präsident von Russland, während einer Kabinettssitzung / dpa
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Botschafter a.D. Rüdiger Lüdeking war während seiner Zeit im Auswärtigen Dienst (1980-2018) in verschiedenen Verwendungen, u.a. als stv. Beauftragter der Bundesregierung für Abrüstung und Rüstungskontrolle und Botschafter bei der OSZE, mit Fragen der Sicherheits- und Rüstungskontrollpolitik intensiv befasst.

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Am 18. Oktober kündigte der russische Außenminister Lawrow die Schließung der russischen Vertretung bei der Nato an. Anlass war die zehn Tage zuvor von der Nato verfügte Ausweisung von acht russischen Diplomaten der Vertretung, denen Spionage vorgeworfen wurde. Westliche Politiker bedauerten zwar den russischen Schritt und unterstrichen die fortgesetzte Bereitschaft zum Dialog. Letztlich waren die Reaktionen jedoch von einem Achselzucken, einer anscheinenden Fügung in die Unausweichlichkeit der Verschlechterung der Beziehungen mit Russland geprägt. Und die Eskalationsspirale mit Russland dreht sich weiter: In dieser Woche hat US-Verteidigungsminister Austin bei einem Besuch in Kiew amerikanische Unterstützung für den ukrainischen Wunsch nach einem Beitritt zur Nato bekräftigt, was nicht unerwartet heftige Reaktionen in Moskau ausgelöst hat.

Wie geht man mit der Situation, wie geht man mit Russland um, einem zunehmend autokratisch regierten und außenpolitisch aggressiv auftretenden Land, das die Menschen- und Bürgerrechte mit Füßen tritt, die politische Opposition im Land kaltblütig ausschaltet, sich um die internationale Meinung immer weniger schert und die EU offenbar nicht für satisfaktionsfähig hält? Ist es – wie die deutsche Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer jetzt empfiehlt – erforderlich, eine härtere Gangart gegenüber Moskau einzuschlagen und die Bereitschaft des Bündnisses zur Ergreifung militärischer Maßnahmen zu verdeutlichen?

Verstärkt innenpolitische Repression

Zur Beantwortung dieser Fragen ist es sinnvoll, zunächst nüchtern eine realpolitische Bilanz zu ziehen. Was Russland betrifft, so müssen wir davon ausgehen, dass Präsident Putin sich absehbar an der Macht halten, er jedoch vermutlich auch angesichts prekärer werdender wirtschaftlicher Rahmenbedingungen stärker auf innenpolitische Repression zum Machterhalt setzen dürfte. Und selbst wenn es einen Machtwechsel in Moskau gäbe, so muss realistischerweise davon ausgegangen werden, dass dies nicht automatisch eine Erfüllung der westlichen Forderungen und Wünsche zur Folge hätte. So findet die Annexion der Krim nach Umfragen die Zustimmung von über 85 Prozent der russischen Bevölkerung; auch Nawalny dürfte sie nicht rückgängig machen wollen.

Außenpolitisch ist in Rechnung zu stellen, dass Russland die Nato-Osterweiterung – immerhin seit dem Ende des Ost-West Gegensatzes um 14 Staaten – als inakzeptablen Einbruch in seine Einflusssphäre und die schrittweise Untergrabung/ Zerstörung des beanspruchten „Sicherheitsglacis“ betrachtet. Ernst zu nehmen sind gerade auch die russischen Warnungen vor einer Nato-Mitgliedschaft der Ukraine und Georgiens. In beiden Fällen war Russland in der Vergangenheit (2008 in Georgien, 2014 in der Ukraine) bereit, militärische Mittel zur Erreichung seiner Ziele einzusetzen. Und schließlich bleibt auch zu konstatieren, dass die von den westlichen Staaten gegen Russland ergriffenen politischen und wirtschaftlichen Sanktionen nicht den gewünschten Erfolg gezeitigt haben, sondern Russland im Gegenteil ermutigt haben, durch militärisches Engagement unter anderem in Syrien seinen Status als Großmacht, der insbesondere von den USA immer wieder in Abrede gestellt wurde, geltend zu machen.

Trend zur außenpolitischen Selbstbeschränkung

Schauen wir auf den Westen, so gibt es nach dem Afghanistan-Debakel in den USA einen Trend zur außenpolitischen Selbstbeschränkung und zur Konzentration auf den aufwachsenden Rivalen China. Und es ist nicht absehbar, ob die Präsidentschaft von Trump nur ein unseliges Intermezzo war und ob wir auch künftig von der Verlässlichkeit des Bündnisses mit den USA ausgehen können. In jedem Fall werden die USA aufgrund des zunehmenden Engagements in Südostasien Europa drängen, gerade auch in der Politik gegenüber Russland mehr Verantwortung zu übernehmen. Die Erfüllung dieser Erwartung dürfte schwierig werden, gibt es doch Spannungen und ein hohes Maß an Uneinigkeit unter den europäischen Bündnispartnern, beträchtliche Defizite in den militärischen Fähigkeiten und einen eklatanten Mangel an sicherheitspolitischer Stabilität aufgrund der Kündigung beziehungsweise Unterminierung für Europa zentraler rüstungskontrollpolitischer Vereinbarungen durch die USA (das belegen der Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa, Vertrag über den Offenen Himmel, INF-Vertrag, ABM-Vertrag).

Welche realpolitischen Schlussfolgerungen ergeben sich für die Wahrung unserer sicherheitspolitischen Interessen? Erstens, die Nato muss selbstkritisch ihre aktuelle, weitgehend einseitig auf Konfrontation gegenüber Russland setzende Position überprüfen. Dabei ist die Rückbesinnung auf die mit der Überwindung des Kalten Kriegs gemachten Erfahrungen notwendig. Damals war die Nato-Politik auf Wahrung von sicherheitspolitischer Stabilität ausgerichtet. Entsprechend hat man trotz der unüberbrückbar erscheinenden Differenzen mit der Sowjetunion und der Unfreiheit und problematischen Menschenrechtslage im Warschauer Pakt auf eine Ausweitung des eigenen Einflussbereiches nach Osten verzichtet und auf Dialog, Regeln zur Koexistenz und rüstungskontrollpolitische Vereinbarungen gesetzt.

Im Kern sollte die Nato – anders als beim diesjährigen Gipfel in Brüssel – auf die pauschale Bekräftigung einer angestrebten Mitgliedschaft von Ukraine und Georgien verzichten. Hier sind von Russland gezogene „rote Linien“ berührt. Der Verzicht ist kein Appeasement, sondern schlicht realpolitisch im Interesse europäischer Stabilität und angesichts nicht verhinderbarer begrenzter militärischer Eingriffe Russlands gegenüber den genannten beiden Staaten geboten. Gleichzeitig muss die Nato auch die eigenen „roten Linien“ klar herausstellen und den Provokationen Russlands gegenüber Nato-Mitgliedern in Mittelosteuropa entschieden entgegentreten. Insgesamt muss der politische Grundansatz des westlichen Bündnisses – die schon seit 1967 bis heute geltende Doppelstrategie des sogenannten Harmel-Berichtes, derzufolge sich die Nato auf der Grundlage einer gesicherten Verteidigungsfähigkeit zu Dialog, Zusammenarbeit und Entspannung bereit erklärt hat – wieder verstärkt in ausgewogener Weise verfolgt werden.

Eklatante Bundeswehr-Mängel

Zweitens, Nato und EU müssen in ihrem Zusammenhalt und in ihren militärischen Fähigkeiten gestärkt werden. Für Deutschland heißt das, dass schnellstmöglich die eklatanten Mängel in Ausrüstung und Personalausstattung der Bundeswehr beseitigt und das von der Nato geforderte Ziel eines 2-Prozent-Anteils der Verteidigungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt erfüllt werden müssen (auch nach den beträchtlichen Erhöhungen des Verteidigungshaushaltes der vergangenen Jahre liegt der Anteil bisher nur mehr bei circa 1,5 Prozent). Daneben darf im Interesse deutscher Glaubwürdigkeit auch die nukleare Teilhabe nicht in Frage gestellt werden.

Parallel dazu muss die EU auf die Erreichung strategischer Autonomie hinarbeiten; angesichts bestehender Vorbehalte und Hindernisse wird es entscheidend auf das enge Zusammenwirken von Deutschland mit Frankreich und anderen gleichgesinnten Staaten zur Erreichung dieses Ziels ankommen. Dabei ist zu betonen, dass eine strategische Autonomie der EU keinen Gegensatz zur angestrebten Stärkung der Nato darstellt. Sie ist im Gegenteil eine Stärkung des europäischen Pfeilers des Bündnisses und Voraussetzung dafür, dass die europäischen Partner mehr Verantwortung für die Sicherheit des Bündnisses übernehmen. Hier geht es darum, die Wirksamkeit der Verteidigungsausgaben zu erhöhen und schlagkräftige europäische Streitkräfte aufzubauen, die das gesamte Fähigkeitsspektrum abdecken (nach Angaben des IISS betrugen 2020 die Verteidigungsausgaben der EU Staaten zusammengenommen 220 Milliarden US-Dollar und überstiegen damit deutlich die Ausgaben Russlands, dessen Verteidigungshaushalt mit 61 Milliarden US-Dollar beziffert wird). Unabhängig davon ist die strategische Autonomie auch Voraussetzung für die Selbstbehauptung der EU in einem zunehmend durch die Rivalität zwischen den Großmächten geprägten internationalen Umfeld.

Nicht tatenlos zusehen

Drittens, Nato und EU müssen zu einer aktiven Sicherheitspolitik zurückkehren und dürfen der Verschlechterung der Beziehungen zu Russland und den erkennbaren Eskalationsrisiken nicht tatenlos zusehen. Schon die von der Nato 2014 als Reaktion auf die Intervention Russlands in der Ukraine und die Annexion der Krim betriebene Einschränkung der Zusammenarbeit mit Russland sowie die 2018 nach Vergiftung des Doppelagenten Sergej Skripal in Großbritannien verfügte Verkleinerung der russischen Vertretung bei der Nato sind unter diesem Gesichtspunkt problematisch gewesen. Im Interesse der in Sonntagsreden häufig beschworenen Einsicht, dass europäische Sicherheit nicht gegen, sondern nur mit Russland geschaffen werden kann, geht es um die Stärkung der Einbindung Russlands in die Architektur kollektiver Sicherheit und einen Neuansatz für die europäische Rüstungskontrolle.

Auch die Stärkung der bilateralen zivilgesellschaftlichen Zusammenarbeit könnte einen wichtigen Beitrag leisten. Hier ist besonders Deutschland gefordert, hat doch die Sowjetunion durch den Zweiten Weltkrieg die mit Abstand höchste Zahl an Toten zu beklagen (nach unbestätigten Statistiken sollen es mehr als 24 Millionen Menschen gewesen sein), was auch heute noch im kollektiven Bewusstsein der Nachfolgestaaten der Sowjetunion besonders präsent ist. Und schließlich birgt der zu erwartende Rückgang der Bedeutung von fossilen Energieträgern besondere wirtschaftliche Risiken für Russland, die auch in politischen Instabilitäten münden könnten, weshalb der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Russland eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zukommt.

Neue Rivalität von Großmächten

Viertens, die Beziehungen mit Russland sind vor dem Hintergrund der aktuellen globalen Gesamtkonstellation zu sehen. Diese besteht nicht mehr wie zu Zeiten des Kalten Krieges in einer alles überlagernden bilateralen Blockkonfrontation zwischen Ost und West, sondern in einer mit großen neuen Stabilitätsrisiken befrachteten Rivalität von Großmächten. Zudem können weder die USA noch die freiheitlich-demokratisch verfassten Staaten insgesamt eine dominante Gestaltungsmacht in diesem zunehmend unsicheren Umfeld für sich reklamieren.

Es wird deshalb mehr denn je darauf ankommen, Stabilitätsrisiken einzuhegen und Russland nicht auszugrenzen. Es würde damit nur in die Arme Chinas getrieben, wodurch die globale Machtbalance zulasten des Westens verändert würde. Allerdings wäre es mit dem Selbstverständnis Russlands unvereinbar, auf die Rolle eines Juniorpartners Chinas reduziert zu werden, was angesichts der wirtschaftlichen wie demographischen Rahmenbedingungen zwangsläufig wäre. Hier besteht also ein Ansatzpunkt für eine auf Zusammenarbeit mit Russland angelegte westliche Politik.

Engagement auf Augenhöhe

Die vorstehenden Schlussfolgerungen sind zwar realpolitisch begründet, ist aber deren Umsetzung auch realistisch? Hier sind – betrachtet man den aktuellen Diskurs, die Uneinigkeit des Westens oder gar die wahrscheinlichen Festlegungen in dem Koalitionsvertrag einer neuen Ampel-Bundesregierung – große Zweifel angebracht. Und dennoch: Ein Überdenken der Politik gegenüber Russland tut not. Empörung und moralische Entrüstung sind keine Kategorien in der internationalen Politik. Ein Russland, das sich zunehmend ausgegrenzt und in die Ecke gedrängt sieht, wird sich immer weniger um die internationale Meinung scheren. Es wird immer weniger beeinflussbar, wenn es den Eindruck hat, ohnehin nichts mehr verlieren zu können. So wird Putins Russland auch künftig vor Provokationen nicht zurückschrecken, sofern es von Europa nur mit Deklaratorik und einer Politik des Containment konfrontiert wird und es keine Perspektive für ein wirksames Engagement auf Augenhöhe sieht.

Deutschland und Europa brauchen eine glaubwürdige, einige Russlandpolitik, die nicht gutgläubig-naiv oder beschwichtigend, sondern interessengeleitet, konsequent und nüchtern-pragmatisch ist und ohne wohlfeiles moralisches Pathos daherkommt. Nüchterne Realpolitik ist heute so notwendig wie selten zuvor in den vergangenen Jahrzehnten. In einem Jahr, in dem wir uns an die deutsche Reichsgründung 1871 – vor 150 Jahren – erinnern, erscheint es angebracht, in diesem Zusammenhang die Mahnung eines der prominentesten und einflussreichsten deutschen Realpolitiker, Otto von Bismarck, zu zitieren: „In der auswärtigen Politik (sind) nicht Gefühle, sondern Interessen und Gegenseitigkeit zur Richtschnur zu nehmen.“ Sicherheit bleibt das zentrale Interesse unserer Außenpolitik; sie ist nicht mit militärischen Maßnahmen allein zu gewährleisten.

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