Neues Wahlrecht - Mit der Brechstange

Die Ampelkoalition hat insbesondere CDU und CSU mit der Wahlrechtsreform überrumpelt. Das neue Wahlrecht wird den Graben zwischen Volk und Repräsentanten noch vertiefen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sollte die Unterschrift verweigern und das Gesetz zurück in den Bundestag schicken.

Die Fraktionsvorsitzenden der Ampel-Parteien, Britta Haßelmann (Grüne), Rolf Mützenich (SPD) und Christian Dürr (FDP) letzte Woche im Bundestag / dpa
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Autoreninfo

Jens Peter Paul war Zeitungsredakteur, Politischer Korrespondent für den Hessischen Rundfunk in Bonn und Berlin, und ist seit 2004 TV-Produzent in Berlin. Er promovierte zur Entstehungsgeschichte des Euro: Bilanz einer gescheiterten Kommunikation.

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Warum tun sie das? Warum beschädigen SPD, Grüne und FDP die ohnehin kümmerlichen Bestandteile direkter Demokratie im deutschen Wahlrecht? Weil sie es können. Weil sie hier eine Chance sehen, gleich zwei Konkurrenten um die Macht dauerhaft zu benachteiligen, sogar zu beseitigen. Weil sie entweder so gut wie nie (FDP), nur ausnahmsweise (Grüne) oder von Jahr zu Jahr weniger (SPD) Chancen haben, in den Wahlkreisen ihre Direktkandidaten durchzubringen, also eine ausreichende Anzahl von Wählerinnen und Wähler von einer bestimmten Person zu überzeugen. Die Serie von Mega-Pleiten der SPD innerhalb weniger Wochen in Mainz, in Frankfurt am Main, in Kassel, einst Heimspiele für Genossen, geben beredtes Beispiel.

In einem Heer von Verlierern waren Parteien und ihren Fraktionen die direkt gewählten Abgeordneten schon immer ein wenig suspekt, schöpfen diese doch ein gesteigertes Selbstbewusstsein aus ihrem Status. Beliebtheit zuhause, gar noch über mehrere Wahlperioden hinweg, macht nicht völlig unabhängig, aber doch ein ganzes Stück unabhängiger von den Listenparteitagen, auf denen – gerne unter fragwürdigen und klandestinen Umständen im berühmten Hinterzimmer – über Karrierechancen und ganze Biografien gekungelt und entschieden wird.

Verhältniswahl diszipliniert ungemein

Eigene Linie first, Anpassertum und Opportunismus second – das stinkt den Vorturnern, weshalb sie in dieser Woche eine historische Chance witterten und nutzten, die Bedeutung der Erststimme einzudampfen und Folgsamkeit zu steigern, denn wer als Mitglied des Bundestages in der Fraktion zu oft aus der Reihe tanzt, läuft Gefahr, beim nächsten Mal leider, leider in der Landesliste ein wenig abzurutschen oder gar nicht mehr zum Zuge zu kommen. Das diszipliniert ungemein. Strafe einen, erziehe hunderte.

Erststimme, Direktmandat – gerade für das linksgrüne Parteiestablishment sind das Synonyme für Unbeherrschbarkeit und Populismus. Dem galt es entgegenzutreten, auch um den Preis eines – und das muss man erst einmal hinbekommen – lagerübergreifend verheerenden Medienechos an diesem Wochenende.

Die Argumente, die am Freitag im Bundestag für die nunmehr mit der Brechstange durchgesetzte Änderung des Wahlrechts vorgebracht wurden, waren zum guten Teil unzutreffend, irreführend, ja hanebüchen. Es wurde von SPD und Grünen so getan, als erfordere das Grundgesetz als Pflicht das Verhältniswahlrecht (Zweitstimme), während das Mehrheitswahlrecht (Erststimme) lediglich ein mehr oder weniger luxuriöses, jedenfalls entbehrliches, mittlerweile aber sogar schädliches Zubehör darstelle, dem wir die Aufblähung des Parlaments zu verdanken hätten und das deshalb zurückgestutzt gehöre. Man erwarte Dankbarkeit, denn endlich werde das Parlament geschrumpft.

Dem Volk nicht zu viel Einfluss

Diese Art einer Beweisführung ist in politischer wie verfassungsrechtlicher Hinsicht kompletter Quatsch. Der Gesetzgeber, also eben dieser Bundestag, wäre im Gegenteil sogar frei, mit einfacher Mehrheit ein reines Mehrheitswahlrecht zu etablieren, was auf ein Zwei-Parteien-System hinausliefe: Nur der Gewinner nimmt alles und wird, siehe etwa Großbritannien, Abgeordneter. Erst recht wäre es möglich gewesen, den Plan per Gesetz umzudrehen und die Erststimme zu Lasten der Zweitstimme zu stärken, also direkt gewählten MdB den Vorrang zu geben vor Listenkandidaten bei Sicherung des 630-Mitglieder-Ziels. Das hätte den lokalen Wettbewerb gestärkt, Abgehobenheit und Alltagsferne Einhalt geboten und die Macht der Parteitage, speziell der Funktionäre, verringert.

„Volksnähe“, einst ein Qualitätsmerkmal, ist aber von interessierter Seite in Verruf gebracht worden. Das neue Gesetz ist – unausgesprochen – eine direkte Folge davon. Die Abgeordneten haben Angst vor dem Souverän. Der Graben, der bis 2025 vor dem Reichstag ausgehoben werden soll, noch breiter als ursprünglich geplant, und ein Tunnelsystem, durch das Besucher künftig unter Beobachtung durch High-Tech-Sensoren geschleust werden, alles in allem leicht bizarre Sicherheitsmaßnahmen, die Reichsbürger und Pöbel auf Distanz und unter Kontrolle halten sollen, demonstrieren diese Tendenz bald auch ganz konkret in Beton. Es soll funktionieren wie eine Mauer (die keine hundert Meter hinter dem vorgesehenen antifaschistischen Schutzwall 2.0 verlief), aber nicht so aussehen.

Beinahe hätte erste GroKo FDP gecancelt

Franz Josef Strauß (CSU) und Kurt Georg Kiesinger (CDU) hatten die SPD 1966 in den Verhandlungen über eine erste Große Koalition fast einmal so weit, die einzige damals verbliebene Opposition, die FDP, per Wahlrechtsreform ins Nirwana zu schießen. SPD-Stratege Herbert Wehner gab sich aufgeschlossen, tat jedenfalls so, während sich der Vorsitzende Willy Brandt als designierter Außenminister bedeckt hielt und alle Optionen offen halten wollte.

Keine zwei Jahre später, auf dem Nürnberger SPD-Parteitag von 1968, wurde das Mehrheitswahlrecht von den Delegierten zwar nicht beerdigt, aber auf Wiedervorlage reduziert, weil die Entfremdung von Kanzler Kiesinger („Häuptling Silberzunge“) und der Union insgesamt nach kurzer Zeit bereits so weit fortgeschritten war, dass es die Genossen für klüger hielten, die Tür zu den Freidemokraten nicht vollends zuzuschlagen, zumal die SPD-Basis die Verhältniswahl traditionell ohnehin für „gerechter“ hielt, weil sie ein Minimum an imperativem Mandat garantierte. Es könnte ja sein, dass man die FDP noch braucht. Eine clevere Entscheidung, wie sich bald zeigen sollte.

Allerdings gab es auch aus den Reihen der machtverwöhnten Union Anzeichen für eine zunehmende Skepsis gegenüber einer derart brachialen Änderung des Wahlsystems. Die Christdemokraten waren sich über die Folgen für sie selbst, jeder Abgeordnete ganz privat, keineswegs im Klaren, befürchteten bei der anstehenden Bundestagswahl unerwartete Ergebnisse bis hin zum Verlust des Kanzleramts nach dann 20 Jahren.

Wahlrecht bleibt – Brandt wird Kanzler

Genau das sollte zum Entsetzen der Union passieren – allerdings aus einem unerwarteten Grund: Der Verzicht auf eine Wahlrechtsreform entpuppte sich in den Tagen nach dem 28. September 1969 als das finale Lockmittel der Sozialdemokraten, mit den Liberalen gemeinsame Sache zu machen, nachdem der Probelauf mit der Wahl von Gustav Heinemann zum Bundespräsidenten (Auftakt zum „Machtwechsel“ – Arnulf Baring) bereits bestens geklappt hatte. Ex-FDP-Chef Erich Mende attestierte Herbert Wehner einen „glänzenden Schachzug“: Die SPD habe die Union über die Wahlrechtsreform getäuscht, um nach drei Jahren Großer Koalition erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik selbst den Bundeskanzler stellen zu können.

Wehner, zuvor lediglich Minister für gesamtdeutsche Fragen, ließ sich seinen Coup mit dem Vorsitz der Bundestagsfraktion honorieren, den er 14 Jahre lang behalten sollte. Jegliche Verhandlungen mit der Union über dieses Thema hatte er bis zuletzt mit dem seither legendären Satz bestritten: „Das war schon Quatsch vor der Wahl und das ist jetzt noch quätscher nach der Wahl.“

Loyalität der FDP bis 1982

Die Union quälte sich demgegenüber lange mit der Frage, ob sie 13 Jahre und viele Demütigungen und Machtkämpfe – Barzel, Kohl, Strauß, wieder Kohl – auf der Oppositionsbank hätte vermeiden können, hätte sie das Mehrheitswahlrecht rechtzeitig, also 1967, zusammen mit der SPD durchgesetzt. Die Loyalität der Liberalen zur SPD überstand alsdann allerlei Stürme, ja Hurrikans in Form von Ölkrisen, ÖTV-Massenstreiks und DDR-Spionen, bis der Vorrat an Gemeinsamkeiten irgendwann dann doch aufgebraucht war und sie sich von einem in seiner Partei vereinsamten Helmut Schmidt aus der Regierung werfen ließen, um Helmut Kohl am 1. Oktober 1982 mit dem ersten und bisher einzigen gelungenen Konstruktiven Misstrauensvotum zum Kanzler zu machen.

Der Wechsel in laufender Legislaturperiode zur Union stürzte die FDP allerdings in eine Krise, weil ihr die linke Hamburger Medienmacht durchaus wählerwirksam „Verrat“ vorwarf, woraus die SPD und eine Reihe von prominenten und wütenden FDP-Politikern über Nacht eine wuchtige Kampagne strickten. Zwei Wochen nach dem Bonner Koalitionsbruch flog die FDP mit 3,1 Prozent nicht nur aus der hessischen Landesregierung, sondern gleich komplett aus dem Landtag, während die Grünen erstmals in diesen einzogen.

Wer, um Gottes Willen, berät Friedrich Merz?

Zurück in die Gegenwart. Dass CDU und CSU im aktuellen Konflikt um das Wahlrecht ebenfalls keine gute Figur machen, trifft zu, ändert aber nichts an der miserablen Qualität der nunmehr geltenden Regelung. Weder Friedrich Merz noch Markus Söder haben das Desaster kommen sehen. Merz musste am Freitag im Plenum sogar zugeben, dass ihn die Tragweite der scheinbar geringfügigen Last-Minute-Änderung des Gesetzentwurfs durch die Ampel-Koalition fünf Tage zuvor überrumpelt hatte: Die Streichung der Grundmandats-Klausel, die der Erststimme bis dato politische Relevanz bis hin zur Unwirksamkeit der Fünf-Prozent-Klausel gesichert hatte.

Offensichtlich reichte seine Phantasie nicht aus für die Vorstellung, dass SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich tabula rasa machen, das 73 Jahre geltende, ungeschriebene, aber vielfach bewährte Prinzip des Verständigungszwangs in Sachen Wahlrecht an einem Wochenende in die Tonne treten und Grüne und FDP ihm darin widerspruchslos folgen könnten. Seinen flehenden Appell an Mützenich direkt vor der Abstimmung, eine zweiwöchige Denkfrist mit Verschiebung der Abstimmung zu gewähren, wies der SPD-Fraktionschef genüsslich zurück.

Mützenich genoss seinen Triumph

Die Gelegenheit, nach Monaten des Streites in seiner Koalition endlich einmal vor aller Augen Ge- und Entschlossenheit zu demonstrieren, wollte sich Mützenich, zerzaust nach einer Serie von Demütigungen, innen- wie außenpolitisch, nicht entgehen lassen. Der Oppositionsführer wirkte in diesem Moment hilflos. Und Beobachter fragen sich ein weiteres Mal, von wem sich Merz eigentlich beraten lässt, wie er derart unvorbereitet seine Union innerhalb weniger Tage in eine derart missliche Lage führen, ins offene Messer laufen lassen konnte.

Spätestens am Dienstag hätte Merz den Konflikt für alle sichtbar zuspitzen, den Boykott der Sitzung und der Abstimmung verkünden und organisieren müssen. Dadurch wäre uns zwar eine bemerkenswerte, hochinteressante Debatte im Bundestag entgangen, aber die Symbolkraft der leeren Stühle hätte sich eingebrannt und eine gute Grundlage geliefert für den anstehenden Kampf um die Macht per Wahlrecht, der noch Jahre andauern dürfte.

Nur: Friedrich Merz scheint keine Sekunde lang auf diese naheliegende Idee gekommen zu sein. Oder er hat sie sich ausreden lassen. So verließ er den Plenarsaal am Ende der Sitzungswoche als Verlierer, während die rot-grün-gelbe Koalition aus ihr nach Wochen heftiger Konflikte bis hin zu Zerwürfnissen unverdient gestärkt hervorging, vorläufig zumindest.

Wen hat die Union als Verbündeten?

Was nun? Die Ankündigung der Union, sie werde das neue Wahlrecht bei erster sich bietender Gelegenheit rückgängig machen, ist ja gut und schön – aber wen sieht Merz denn als Partner? Die FDP? Würde die sich mit einer Rolle rückwärts entblöden, um einen CDU-CSU-FDP-Koalitionsvertrag unterschreiben zu können? Abenteuerlicher Gedanke, selbst bei dieser irrlichternden Partei. Die Linke? Die wird, Stand heute, spätestens mit dem neuen Wahlrecht im nächsten Bundestag gar nicht mehr vertreten sein.

Die AfD? Die hat am Freitag begeistert gemeinsame Sache gemacht mit SPD, Grünen und FDP. Und umgekehrt. Schon für sich ein weiterer bemerkenswerter Vorgang mit einer hohen Verlogenheits-Komponente, was die täglichen Brandmauern, Abgrenzungen und No-Go-Forderungen von Links-Grün angeht. Also die Grünen? Das kann die Union ebenfalls vergessen, zumal Söder seinen ganzen Wahlkampf gerade auf sie als Feindbild ausrichtet. Nein: Aus dieser Nummer kommen die drei Parteien nicht mehr so leicht heraus, selbst wenn sie wollten.

Karlsruhe wird abwarten und schauen

Bleibt als vorletzte Hoffnung das Bundesverfassungsgericht. Das allerdings hat sich ausgerechnet in Wahlrechtsrechtsfragen als – mit Verlaub – ausgesprochen lahmarschig erwiesen. Dass Karlsruhe mit einer Einstweiligen Verfügung bereits für die nächste Bundestagswahl die Gesetzesänderung quasi präventiv für unwirksam erklären und die ursprüngliche Regelung wieder einsetzen wird, kann nicht als wahrscheinlich gelten.

Erst einmal werden die Richter die konkreten Folgen der Neuregelung sehen wollen, über die sich Experten keineswegs einig sind, also sich interessiert zurücklehnen, und im übrigen zum hundertsten Mal die große Gestaltungsfreiheit betonen, die dem Gesetzgeber – siehe oben – laut Grundgesetz auch hier zu gewähren sei. Vielleicht, so das absehbare Argument, werden sich alle Befürchtungen, dass reihenweise direkt gewählte Kandidaten nicht ins Parlament gelangen, als unbegründet erweisen.

Den Rest wird eine zielgenaue, jahrelang verfolgte, weitgehend unter dem Radar der Öffentlichkeit stattfindende, durchaus linksgrünlastige Personalpolitik erledigen, die inzwischen regelmäßig auf Beschlüsse und Urteile des Bundesverfassungsgerichtes durchschlägt und „Populismus“, in welcher Form auch immer, hinter jedem Busch zu bekämpfen sucht.

Zuverlässige Hilfe kann die Union aus Karlsruhe also nicht erwarten. Klimaschutz, Europa-Freundlichkeit, Folgsamkeit gegenüber allen denkbaren Corona-Maßnahmen, Schulschließungen und Impf-Pflichten, und haben sie sich auch als noch so erratisch erwiesen – all das ist diesen Juristen mit Haltung längst wichtiger als eine Stärkung oder auch nur Beibehaltung plebiszitärer Spurenelemente und Achtung vor dem Souverän.

Der Wähler, die große Unbekannte

Tatsächlich lässt sich über die konkreten Wirkungen der Wahlrechtsreform heute nur spekulieren. Viel kommt darauf an – letzte Hoffnung – , wie der Wähler reagieren wird. Stimmensplitting, eine der wenigen Möglichkeiten, über seine Parteipräferenz hinaus Einfluss auf spätere Koalitionen zu nehmen, was die Parteiführungen naturgemäß als ärgerliche Einschränkung ihrer Optionen betrachten, wird möglicherweise an Bedeutung verlieren. „Auf Nummer Sicher gehen: Beide Stimmen CSU“ - diese Kampagne darf bereits als gesetzt gelten, vielleicht sogar 2025 auch bei der SPD.

Erststimme für eine der größeren Parteien, um deren Wahlkreis-Kandidaten nach Berlin zu schicken, Zweitstimme dem kleineren Wunsch-Koalitionspartner, was 2021 häufig FDP oder Grüne waren – das könnte seltener werden. Womit sich FDP und Grüne am Freitag selbst ins Knie geschossen hätten, für die Liberalen sogar existenzbedrohend, nimmt doch die Zahl der FDP-Wähler von 2021, die alles andere im Sinn hatten, nur nicht die Beschaffung einer Mehrheit für eine stellenweise regelrecht radikalisierte Ampel-Regierung, ohnehin augenscheinlich in hohem Tempo zu.

Risiken auch für FDP und Grüne

Sollten die Freidemokraten spätestens 2025 bei vier Prozent der Zweitstimmen landen, also nach 2013 zum zweiten Mal aus dem Bundestag fliegen, diesmal aber im hohen Bogen und vom (Ex-)Wähler ausdrücklich gewollt, dürfen sie eine wesentliche Ursache in ihrem Abstimmungsverhalten vom 17. März 2023 suchen und auch finden, während die Grünen sich – wie kürzlich wieder auf Landesebene in Berlin – erneut auf ihren harten Kern reduziert sehen könnten. Kann man machen, aber dann ist es halt eigene Dummheit.

„Wir haben ohnehin kaum Chancen auf Direktmandate, also können wir dem Koalitionsfrieden zuliebe der SPD den Gefallen tun und zustimmen“ - diese Überlegung könnte sich schon bald als nicht ausgereift, ja arg kurzsichtig erweisen, wenn es schon kein Interesse gab, die Spaltung der politischen Lager nicht noch zu vertiefen, wie es nun geschehen ist.

Steinmeiers Veto-Möglichkeit

Politische Parteien und politische Systeme insgesamt sind in einer Demokratie auf Legitimitätsvermutung angewiesen. Die Wählerinnen und Wähler dürfen nicht den Glauben verlieren, dass es wenigstens im Großen und Ganzen fair im Lande zugeht. Auch da gibt es wie angeblich beim Klima Kipp-Punkte. Deutsche Regierungen sind Weltmeister darin, anderen Ländern und uralten Demokratien unerbetenen Nachhilfeunterricht zu geben in Demokratie, Wahl-Korrektheit und Anstand.

Donald Trump war noch gar nicht gewählt, da bezeichnete ihn unser Außenminister und späterer Bundespräsident bereits als „Hassprediger“, der das „Ungeheuer des Nationalismus“ ins Weiße Haus tragen wolle, ein Mann, der wie die AfD zu jenen gehöre, die „mit den Ängsten der Menschen Politik machen“, so Frank-Walter Steinmeier am 4. August 2016. „Diesen Brandsatz kann man, den muss man in der Wahlkabine löschen.“

Wie die Bundesregierung keine vier Jahre später begann, systematisch selbst „mit den Ängsten der Menschen Politik zu machen“, wird langsam immer größeren Bevölkerungskreisen und sogar ursprünglich linientreuen Medien klar. Und „Brandsätze“ lassen sich „in der Wahlkabine“ nur dann „löschen“, wenn der Wähler wenigstens eine grobe Vorstellung hat über die Wirkung seiner Stimme und nicht zur Überzeugung kommt, es sei ohnehin egal, wie er sich entscheide, „weil die eh machen, was sie wollen“.

Ein Wahlrecht, das das Risiko in Kauf nimmt, dass ganze Bundesländer ohne zuhause im Wahlkreis verankerte Repräsentation bleiben, erfüllt diesen Anspruch nicht mehr. Und das ist, dieser Freitag hat es gezeigt, kein Versehen, das ist Absicht. Diese „Reform“ ist genau jener Brandsatz, vor dem Steinmeier neulich noch gewarnt hat.

Wenn er endlich einmal etwas Vernünftiges tun will, und dafür wird es im siebten Amtsjahr langsam Zeit, dann sollte er die Unterschrift unter dieses Gesetz verweigern und es dem Bundestag mit freundlichen Grüßen zur Überarbeitung und Konsenssuche zurückschicken. Er darf das. Eine Begründung in der Verfassung findet sich, wenn er und sein bislang wenig kompetent anmutender Apparat es nur wollen.

Ob der Bundestag, ob die Parteien seine Verweigerung akzeptieren, ist ohne Belang. Eine Umgehung seines Prüfungsrechts ist im Grundgesetz nicht vorgesehen. Wenn er nicht unterschreibt, dann unterschreibt er nicht. Basta.

Bundespräsidenten handeln sich mit derartigen Interventionen Ärger ein, schritten trotzdem schon in weitaus weniger gravierenden Fällen zur Verweigerung. „Sag nein“ – der Dauer-Sonntags-Appell der Politik an das Volk, auch um den Preis, selbst zusammengeschlagen oder sogar abgestochen zu werden – erfordert Courage, Unabhängigkeit und Rückgrat. Hier wäre es ein gefahrloser Dienst an der Demokratie; jede Sorge um Wiederwahl ist in der zweiten Amtszeit des Staatsoberhauptes nicht gegeben. Es wäre ein Dienst an zentraler Stelle, denn diese Operation am offenen Herzen, am Wahlrecht, ist gründlich misslungen.

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