Ukraine-Krieg - „Deutschland hat sich gründlich entwaffnet“

Der ehemalige polnische Außenminister Radek Sikorski beklagt im Interview die deutsche Arroganz gegenüber den osteuropäischen Partnern, spricht sich für mehr Waffenlieferungen an die Ukraine aus – und erklärt die Gründe für die schlechten deutsch-polnischen Beziehungen.

Soldaten fahren im November auf dem Truppenübungsplatz Pabrade mit einem Panzer vom Typ Leopard / dpa
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Rob Savelberg ist Deutschland-Korrespondent für De Telegraaf, die auflagenstärkste Zeitung der Niederlande. Er lebt seit 1998 in Berlin.

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Radek Sikorski (59) war polnischer Verteidigungsminister, Außenminister und Parlamentspräsident. Der heutige liberal-konservative Europaabgeordnete tritt für Härte gegenüber Putins Russland ein.

Herr Sikorski, vor mehr als einem Jahrzehnt warnten Sie vor deutscher Passivität; auch Polen müsse deutsche Führung in Europa akzeptieren.

Lassen Sie uns genau sein. Ich sagte: „Ich habe weniger Angst vor deutscher Macht als vor deutscher Untätigkeit.“ Und diese Worte sind auch heute noch gültig angesichts der Katastrophe in der Ukraine.

Die Deutschen scheinen weniger bereit als Polen, sich mit den Problemen in der Ukraine zu befassen.

Ja, wir sind die deutschen Panzerabwehrminen. Welches Problem auch immer im Osten auftaucht, wir werden es zuerst sehen. Und die Deutschen können sich anpassen.

Warum ist Deutschland so zögerlich, schwere Waffen wie etwa Leopard-Panzer an die Ukraine zu liefern?

Deutschland hat sich in den vergangenen Jahren gründlich entwaffnet, man hat nur wenige Vorräte. Eine Gruppe von Ländern könnte jedoch gemeinsam Leoparden kaufen und sie Ukraine abgeben.

Vor dem russischen Einmarsch im Februar gab es mitunter die Befürchtung, dass die Nato-Norm – mit Verteidigungsausgaben in Höhe von zwei Prozent des BIP – zu hoch angesetzt sei. Denn dann würde die Bundeswehr aufgrund der hohen deutschen Wirtschaftskraft in Europa militärisch dominieren.

Ich verstehe das. Aber Berlin muss jetzt trotzdem mehr Munition und Waffen kaufen. Am besten wäre eine EU-Armee, die gemeinsam auch von Ländern wie Frankreich und Polen geführt wird. Aber eben gemeinsam, um Deutschlands Nachbarn nicht zu verschrecken. Deutschland allein ist zu groß für Europa, es macht ein Viertel der europäischen Wirtschaft aus. Wenn es militärisch zu schnell zu stark wird, werden alte Ängste zurückkehren. Und das wollen wir nicht.

Haben Sie keine Angst, dass die deutsche Dominanz, sowohl wirtschaftlich als auch militärisch, zu groß werden könnte?

Deutschland ist und bleibt das größte und reichste Land in Europa mit den meisten Bürgern – mit oder ohne die EU. In Brüssel geht es auch darum, die deutsche Macht über die EU-Institutionen zu verwalten. Wir haben das in vielen Bereichen getan, und jetzt muss es auch in den Bereichen Verteidigung und Energie, beim Öl und beim Gas geschehen.

Warum hat man in Berlin vor dem Einmarsch in der Ukraine nicht auf Polen und auf die baltischen Staaten gehört, die immer wieder vor einer russischen Aggression gewarnt haben?

Das war zum Teil Arroganz. Manche Deutsche meinen, sie wüssten alles besser – weil sie ein großes, reiches Land sind. Zum Teil war es auch eine falsche Vorstellung davon, wie der Kalte Krieg gewonnen wurde: Viele Linke in Deutschland sind der Meinung, dass es nur an der deutschen Ost-Politik lag, der Entspannungspolitik gegenüber der damaligen Sowjetunion. Es gehörte aber auch der Druck der Amerikaner dazu. Und vergessen Sie nicht: Der deutschen Wirtschaft ging es in den letzten Jahren dank des billigen russischen Gases gut. Sie dachten, der Wandel Russlands durch Handel würde gelingen. Sämtliche Warnungen vor Putins Aggression wurden überhört. Jetzt sagen wir in Polen: Deutschland hat sich geirrt. Wir erwarten keine Entschuldigung, aber wir erwarten von Deutschland, dass es jetzt zuhört.

Das Normandie-Format, bei dem Deutschland und Frankreich mit Moskau und Kiew verhandelten, hat am Ende nichts mehr bewirkt. Unlängst hat die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel behauptet, dieses Format sei wichtig gewesen, um der Ukraine Zeit zu verschaffen, damit sie eine schlagkräftige Armee aufbauen kann.

Das Normandie-Format hat zunächst eine weitere russische Invasion verzögert, war aber nicht rechtsgültig. Im Vertrag von Lissabon haben wir uns darauf geeinigt, eine gemeinsame Außenpolitik zu machen – und zwar von europäischen Institutionen, und nicht von zwei Ländern, die sich als Vertreter für alle aufspielen. Andere Länder mit anderen Interessen wurden ausgeschlossen. Das Normandie-Format und die Minsker Vereinbarungen sind gescheitert. Ich hoffe, dass wir uns in Zukunft wieder an die Regeln halten werden.
 

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Henry Kissinger fragte einst, wen er anrufen müsse, wenn er mit Europa telefonieren wolle …

Deshalb haben wir einen Hohen Vertreter der EU für Außen gewählt, und der spricht für Europa. Wie der Präsident des europäischen Rates. Diese führen die Politik aus. Auch die großen Mitgliedsstaaten müssen sich an das halten, was sie selbst vereinbart haben.

Das letzte Mal, als wir den Hohen Vertreter in Moskau sahen, wurde er wie ein wartender Schuljunge behandelt.

Genauso erging es den nationalen Staats- und Regierungschefs, die ebenfalls wenig erreicht haben. Die EU ist stärker, wenn wir gemeinsam handeln. Wenn wir nicht zulassen, dass die Russen uns gegeneinander ausspielen.

Warum sind die deutsch-polnischen Beziehungen derzeit so schlecht wie seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr?

Einerseits hat Deutschland Fehler gemacht mit dem Bau von Nord Stream 1 und Nord Stream 2. Es wurde keine Rücksicht auf die Interessen Mitteleuropas genommen. Aber dann hat offenbar jemand dieses Problem aus dem Weg geräumt (lacht). Der andere Grund ist die nationalistische Regierung in Polen. Die kann ein Drittel der Wählerschaft mit einer antideutschen Haltung mobilisieren. Ich glaube nicht, dass das verantwortungsvoll ist.

Warum haben Sie sich bei den USA bedankt, als die Nord-Stream-Gasleitungen gesprengt wurden?

Das war ein falscher Scherz.

Wie sehen Sie das Verhältnis der Deutschen gegenüber Polen?

Ich denke, es gibt ein Element der Schuld. Polen war Schauplatz zahlreicher Kriegsverbrechen.

Gibt es in Deutschland ein größeres Schuldgefühl gegenüber Russland als gegenüber Polen?

Ja. Obwohl die meisten Verbrechen auf dem Gebiet Polens, der Ukraine und von Belarus stattfanden.

Putin war 2009 aus Anlass des Weltkriegsgedenkens in Danzig zu Gast. Und er kam 2010 nach Katyn, wo die Sowjets im Jahr 1940 einen Massenmord an tausenden Polen, darunter größtenteils Offiziere, begangen hatten.

Ja. Putin kam nach Danzig. Dort begann der Zweite Weltkrieg – und nicht mit dem sowjetischen Angriff auf Polen. Und er war der erste russische Führer, der Katyn besuchte.

Wann war der Zeitpunkt, von dem an die Dinge so schief liefen?

2011, als er als Präsident in den Kreml zurückkehren wollte. Er beschuldigte den Westen wegen der Demonstrationen gegen ihn in Sankt Petersburg, insbesondere Hillary Clinton.

Sie haben gesagt, Russland zerstöre derzeit seine Wirtschaft und sei auf dem Weg, ein Vasall Chinas zu werden.

Ich sagte, Russland wolle ein kleines China werden. Aber in Wirklichkeit wird es zu einem großen Iran, sogar mit iranischen Waffen. Ein Rumpfstaat mit Marschflugkörpern. Putin ist dabei, Russlands Militär, seine Wirtschaft und vielleicht das Land zu zerstören. Das ist ein katastrophaler Fehler. Aber solche Fehler passieren oft bei Staatsoberhäuptern in ihrem dritten Jahrzehnt an der Macht. Dann fangen sie an, ihre eigene Propaganda zu glauben und gehen Wetten ein, die sie nicht gewinnen können.

Radek Sikorski / privat

Wie können der Ukrainekrieg und die Drohung Moskaus mit einem Atomschlag beendet werden?

Das einfachste ist, dass Russland keinen Atomkrieg beginnt. Niemand will das. Und den Krieg beendet man einfach, indem man sich aus der Ukraine zurückzieht. Ich kann jedenfalls versichern, dass die Ukraine Russland nicht angreifen und nicht auf Moskau losmarschieren wird. Die Lösung liegt also darin, dass Putin seine wahnwitzigen Pläne zur Wiederherstellung des russischen Reiches aufgibt.

Ist er dazu nicht zu sehr in seiner eigenen Propaganda gefangen?

Wenn es so wäre, dann soll er wenigstens nicht so wütend auf sein Opfer sein.

Wie könnte eine Lösung aussehen?

Putin wird nur dann echte Zugeständnisse machen, wenn er anderenfalls einen sehr hohen Preis zahlen muss. Der beste Weg, um dies zu beschleunigen, besteht darin, der Ukraine schneller mehr Waffen zu liefern. Wenn eine Frau vergewaltigt zu werden droht, gibt man ihr Pfefferspray. Oder man schlägt dem Angreifer auf den Hinterkopf. Aber man bittet die Frau nicht, mit dem Angreifer zu verhandeln.

In Polen ist man der Auffassung, dass die Ukrainer auch für die polnische Sache kämpfen.

In Deutschland scheint man das nicht so zu sehen. Das liegt daran, dass Polens Hauptstadt 500 Kilometer weiter östlich als Berlin liegt.

Dennoch ist die Ukraine nicht sehr weit von Deutschland entfernt.

Es werden in Deutschland ja sogar Menschen von russischen Auftragskillern getötet. Und Moskau besticht deutsche Politiker, Geschäftsleute und Journalisten. Man braucht eine ernsthafte Spionageabwehr, um den heimlichen russischen Einfluss auf Deutschland zu beseitigen.

Wie blicken Sie auf die polnische Regierungspartei PiS und deren nationalkonservative Agenda?

Ich habe eine klare Meinung zur Regierungspartei. Aber ich ziehe es vor, das in Polen zu sagen. Polens Beitrag zur Integration der Ukraine in die EU wird aber auch bedeuten, die Beziehungen Polens zur EU zu reparieren und zur Rechtsstaatlichkeit zurückzukehren.

Sehen Sie bei der nächsten Wahl eine Rolle für sich in der polnischen Politik?

Hier in Brüssel bin ich glücklich – und es ist nie gut für einen Politiker, das Fell des Bären zu verteilen, bevor er erlegt ist.

Das Interview führte Rob Savelberg.

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