Mode - Allgemeine deutsche Geschmacksverweigerung

Jetzt, im Sommer fallen die letzten ästhetischen Hemmungen der Männer auf Deutschlands Fußgängerzonen. Dass sich die Deutschen hartnäckig weigern, sich stilvoll zu kleiden, darüber müssen wir reden

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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Stilfrage. Ab sofort schreibt Alexander Grau in seiner Kolumne alle 14 Tage über guten und schlechen Geschmack.

„Die Deutschen haben entweder den Geschmack verloren, oder sie haben nie welchen besessen“ – schreibt Anton Tschechow in einem Brief kurz vor seinem Tod 1904. Pointierter hat es eigentlich nur noch George Grosz ausgedrückt: „Deutsch sein heißt immer: geschmacklos sein“. Er hat dann noch hinzugefügt: „dumm, hässlich, dick und unelastisch“. Lassen wir das mal so stehen. Es soll hier nicht um deutsche Intelligenz gehen, deutsches Übergewicht oder deutsche Turnerkunst. Doch über die deutsche Weigerung, sich geschmackvoll, elegant oder stilsicher zu kleiden, werden wir zu reden haben.

Muss das wirklich sein, hört man umgehend den Chor der Bedenkenträger und Verantwortungsbewussten, haben wir denn keine anderen Sorgen? Sind wir tatsächlich so hedonistisch, konsumorientiert und selbstverliebt, dass wir uns über Klamotten Gedanken machen, während die Welt im Elend versinkt, in Umweltverschmutzung, Krieg und Ungerechtigkeit?

Nun wusste schon der wunderbare Oscar Wilde, dass Moral immer die letzte Zuflucht der Leute ist, die die Schönheit nicht begreifen. Doch im Grunde geht es hier nicht um das Verhältnis von Ethik und Ästhetik. Die deutsche Geschmacksverweigerung und selbstgefällige Bräsigkeit ist vor allem das Abbild einer Gesellschaft, um deren Verständnis von Freiheit, Individualismus, Kultur und Tradition es düster bestellt ist.

Doch beginnen wir noch mal von vorne. Stimmt denn die Diagnose überhaupt? Sind wir Deutschen tatsächlich so geschmacklos und ästhetisch unbedarft? Oder ist das nur eines dieser augenzwinkernd vorgetragenen Klischees? Italiener sind eitle Gockel, Franzosen haben Eleganz und Esprit und Deutsche, nunja, sind die ewig tumben Germanen, an denen jeder zaghafte Versuch der Verfeinerung und Zivilisierung abperlt wie Wasser an ihren imprägnierten Outdoorjacken?

Klischees wären keine Klischees, wenn sie nicht eine Spur Wahrheit enthielten. Und insbesondere in diesem Fall muss man zugestehen, dass das Bild des grobschlächtigen und unbedarften Ureinwohners Germaniens nicht ganz aus der Luft gegriffen ist. Ein Blick in eine deutsche Fußgängerzone an einem beliebigen Nachmittag reicht aus: Eher eingepackt als gekleidet schiebt sich die amorphe Masse in ihren form- und farblosen Kombinationen aus Allwetterjacken, Jeans und Gesundheitstretern durch die Einkaufstraßen.

Bricht irgendwann auch noch überraschend der zweiwöchige Sommer aus, fallen die letzten ästhetischen Hemmungen: Dann reißt sich der sonnenentwöhnte Germane bar jedes Schamgefühls alles von seinem bleichen und schwammigen Leib, was entfernt an Kleidung erinnert. In Flip-Flops latscht er mit T-Shirt und kurzer Hose durch die Innenstadt, als sei diese der heimische Garten. Die für kultivierte Menschen eigentlich nahe liegende Idee, dass man sich im öffentlichen Raum anders bewegt und anders kleidet als zu Hause, liegt ihm unendlich fern.

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Freiheit, Individualität und Autonomie bedeuten für den durchschnittlichen Hunnen vor allem, sich jeder Konvention zu entledigen, insbesondere jeder Übereinkunft des gesitteten Geschmacks, und sich vollkommen hemmungslos seinen Trieben und Neigungen hinzugeben. Und die sind bestimmt von dem tiefen Bedürfnis nach Bequemlichkeit und einem ausgeprägten Hang zu einem phlegmatischen Pragmatismus, der in dem Ablegen jeder Form von Kultur den Höhepunkt individueller Entfaltung sieht.

Und so trampelt der gemeine Deutsche mit seinen luftgepolsterten Kunststoffsohlen durch die Welt, um die Beine schlackert die Kargohose, der man so praktisch die Beine abnehmen kann, und der Oberkörper ist ein Polyesterungetüm gehüllt, das ganz viel Taschen und Reisverschlüsse hat und dessen Manschetten sich sinnigerweise mit Klettverschlüssen enger stellen lassen.

Einen Anzug trägt man in Deutschland nur, wenn es gar nicht anders geht: in den Büros, in denen noch ein Dresscode herrscht oder bei offiziellen Anlässen. Verirrt sich der bundesrepublikanische T-Shirt-Träger dann doch mal in einen, ist alles zu groß: die Hose staucht auf den Schuhen auf und umschlackert die Beine, die Ärmel enden irgendwo an den Fingerknöcheln und das Hemd ist aus Stoffmassen gefertigt, die für ein zweites reichen würden.

 

Über die Gründe für deutsches Banausentums ist viel gerätselt und spekuliert worden. Nahm das Unglück schon seinen Lauf, als Arminius im Teutoburger Wald den Beitritt Germaniens zur zivilisierten Welt verhinderte? Liegt es an der verspäteten Nationenbildung, die ganz nebenbei auch dazu führte, dass Deutschland nie eine Metropole bekam, in der Geschmack, Stil und Handwerkskunst eine urbane Kleidungskultur hätten hervorbringen können, die auch in die Provinz ausstrahlt? Oder ist – wie fast bei allem – auch hier das Dritte Reich schuld, das allem Zackigen, Haltungsbetonten und Schneidigen den Beigeschmack des Faschistoiden verlieh und im Gegenzug das Schluffige, Schlabbrige und Ausgebeulte mit der Aura des Zivilisierten, Widerständigen und Moralischen adelte?

Immerhin könnte das auch erklären, weshalb in Deutschland alles Unachtsame, Unansehnliche und Unmodische als Ausdruck moralischer Integrität gilt. Das Gute kommt in Deutschland in ausgelatschten Tretern und Regenjacken daher, während Maßanzüge, rahmengenähte Lederschuhe und exquisite Hemden hochgradig verdächtig sind. Kleidungsstücke, die jedem Italiener, Franzosen oder Engländer als Zeichen von Kultur gelten würden, haftet im Land der Germanen zudem das Odium des Oberflächlichen an. Gedankliche und menschliche Tiefe, so meint man hier, achtet nicht auf ihr Äußeres. Nur dumme und gedankenlose Menschen verschwenden Zeit und Aufmerksamkeit auf ihr Erscheinungsbild.

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Da wundert es auch nicht mehr, dass Freiheit und Individualität für den deutschen Michel vor allem bedeuten, sich der Welt möglichst rüpelhaft und ungehobelt präsentieren zu dürfen. Freiheit ist für den durchschnittlichen Germanen die Freiheit, rülpsend seine Molle auf öffentlichen Plätzen zu konsumieren, mit fettigen Fingern schmatzend einen Döner in der U-Bahn zu verzehren und jedem Mitmenschen fröhlich seine Tattoos zu präsentieren, die unter der kurzen Hose und dem T-Shirt mit dem lustigen Spaßmotiv hervorlugen.

Doch Freiheit ist nicht die Freiheit, sich schlecht zu benehmen und sich in seiner wurschtigen Bequemlichkeit zu suhlen. Zivilisierte Völker wissen, dass Freiheit, die nicht einfach nur Rücksichtslosigkeit ist, sich ausschließlich in einem privaten Raum entfalten kann, der durch die Fassade von Konventionen und tradierten Stilnormen überhaupt erst geschaffen wird. Individualität, das modische Spiel mit Kleidungsvorschriften und Etiketten ist überhaupt nur dann möglich, wenn es Normen gibt, die man ironisch und kreativ brechen und interpretieren kann. Aber dieses Menschenbild schmeckt für den deutschen Windjackenträger dann doch verdächtig nach Individualismus, Eigensinn und einem elitären Freiheitsempfinden. Viel wohler fühlt er sich in der nivellierenden Ästhetik der Masse, irgendwo zwischen ordinärem Proletenschick und Spießigkeit. Da kann man die eigene Gedankenlosigkeit, Faulheit und Primitivität auch noch mit der Moral von Bescheidenheit und Genügsamkeit garnieren. Und so gesehen, ist das Verhältnis des Deutschen zur Mode ein Abbild für das ganze Land und seiner Beziehung zur Welt.

 

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