Das Magazin - Wenn Walrosse reden könnten

Wenn Walrosse reden könnten und schlanker wären, hießen sie Otto Sander. Seine Stimme hat eine abgeklärte weihnachtsmännliche Ruhe, eine darum aber nicht weniger sinnliche Gegenwart: Tschechows Liebesgeschichten können sich hier groß entfalten.

Wenn Walrosse reden könnten und schlanker wären, hießen sie Otto Sander. Seine Stimme hat eine abgeklärte weihnachtsmännliche Ruhe, eine darum aber nicht weniger sinnliche Gegenwart: Tschechows Liebesgeschichten können sich hier groß entfalten. Man muss nur einmal «Die Dame mit dem Hünd­chen» hören, um an Leib und Seele zu fühlen, wie da auf einmal dem Mann Gurow die Liebe aufgeht: Er, der kalte Arrangeur seiner Affären, wird sich selbst fremd und findet sich schließlich – liebend! – im eigenen Leben wieder. Die Hör-Erfahrung ist deswegen so intensiv, weil Sander dem Text niemals vorwegläuft, sich nie dramatisie­rend verbraucht. Er ist sich des Tex­tes gewiss und verfällt nicht in die Unsitte, diesem ständig durch Stim­­mentheater etwas  hin­zufügen zu müssen.

Hannah Arendt aber kann springlebendig werden! Harsch pariert sie im berühmten Fernsehinterview mit Günter Gaus vermutete Unterstellungen, um auf den höflich Bohrenden dann doch wieder zuzugehen. In jeder Pore ist der streitbar eingreifende Gestus spürbar, der ihr Werk auszeichnet. Hören kann man außerdem ihren umstrittenen Radiovortrag zum 80. Geburtstag Heideggers. Nicht Schwarzwaldgeist weht hier, noch besonnte Erinnerung. Lebendig wird vielmehr die Erinnerung daran, wie Hannah Arendt Heideggers Philosophie zuerst begegnete: als Gerücht, als Kunde von einem, bei dem man das Denken lernen konnte. Wer Arendt sprechen hört, sieht die Zigarette vor sich, die sie sich beim Reden ansteckt, gesellig, streitbar, persönlich – und ist zugleich angerührt von einem Pathos, in dem sich Existenzialismus und politische Theo­rie befeuern.

Festgeläut zuletzt für Alexander Khuon und seine Lesung der «Nacht aus Blei». Einer Erzählung wie dieser kann man sich lesend nie gewiss sein. Zu verstörend ist die Geschichte des Mannes, der seinem eigenen jüngeren Ich in einer narzisstisch-homoerotischen Begegnung nahe kommt: ein Spiel von Verletzung und Selbstverletzung, das viele Motive Hans Henny Jahnns gedrängt versammelt. Alexander Khuon schmeckt diese Geschichte nicht ab, verharrt nicht in ihr, er treibt sie voran und macht so ihren rhythmischen Sog hörbar – Jahnn für Anfänger und Fortgeschrittene.   


Anton Cechov
Verocka. Geschichten von der Liebe
Gelesen von Otto Sander.
Zürich 2006. 275 Min., 4 CDs, 34,90 €

Hannah Arendt
Von Wahrheit und Politik. Originalaufnahmen aus den 50er und 60er Jahren
Hörverlag, München 2006. 360 Min., 5 CDs, 29,95 €

Hans Henny Jahnn
Die Nacht aus Blei
Gelesen von Alexander Khuon.
Hoffmann und Campe, Hamburg 2006. 165 Min., 2 CDs, 19,95 €

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