SPD-Parteitag - Die Herzschrittmacher

Beim SPD-Parteitag zittern sich Martin Schulz und Andrea Nahles zu einem äußerst knappen Sieg. Die SPD stimmt Koalitionsverhandlungen mit der Union zu. Doch das Ergebnis bleibt ein verstecktes Misstrauensvotum

Erschöpft und erleichtert: Andreas Nahles und Martin Schulz können Koalitionsverhandlungen beginnen
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Christoph Seils war Ressortleiter der „Berliner Republik“ bei Cicero bis Juni 2019. Im Januar 2011 ist im wjs-Verlag sein Buch Parteiendämmerung oder was kommt nach den Volksparteien erschienen.

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Als Kevin Kühnert zum Redepult geht, ist es mucksmäuschenstill im Saal. Der Juso-Vorsitzende hat sich in den letzten Wochen als wortgewaltiger Gegenspieler des SPD-Vorsitzenden Martin Schulz profiliert und als entschiedener Gegner einer erneuten Großen Koalition. In Bonn kommt es bei den Sozialdemokraten an diesem Sonntag zum Showdown. 

Ein SPD-Parteitag entscheidet vier Monate nach der Bundestagswahl darüber, ob die Sozialdemokraten bereit sind, mit der Union über die Bildung einer Koalition zu verhandeln. 600 Delegierte und 45 Vorstandsmitglieder entscheiden nicht nur über die Zukunft der SPD, mehr als einmal ist auf diesem Parteitag davon die Rede, es stehe die Existenz der SPD auf dem Spiel. Beide Flügel der Partei führen dieses Argument gleichermaßen an. Die SPD ist tief gespalten und die Delegierten entscheiden, ob Deutschland unregierbar wird. Der Druck, der auf diesem SPD-Parteitag lastet, ist gewaltig. Von einem „Schlüsselmoment in der jüngeren Geschichte der deutschen Sozialdemokratie“ wird Parteichef Martin Schulz an diesem Sonntag sprechen.

„Groko oder Neuwahlen“, das sind nach Überzeugung von Schulz die Alternativen, vor der die Sozialdemokraten stehen. Der Parteivorsitzende hat in Bonn eine für seine Verhältnisse gar nicht so schlechte Rede gehalten, er hat noch einmal die Verhandlungserfolge der SPD in den Sondierungsgesprächen herausgestellt, bei der Pflege, in der Bildungspolitik und in Sachen Europa. Er hat an das Selbstbewusstsein der SPD appelliert und die Genossen gemahnt, „es wäre fahrlässig, diese Chancen nicht zu ergreifen.“ Einzig, der Beifall für den Parteivorsitzenden ist eher mau. Und jetzt sind im Bonner Kongresszentrum alle Augen auf Kevin Kühnert gerichtet.

Kevin Kühnert ahnt, es wird nicht reichen

Der Juso-Vorsitzende ahnt, als er seine Rede beginnt, wohl trotzdem schon, dass es nicht ganz reichen wird, dass es unter den 600 Delegierten keine Mehrheit für eine Absage an Koalitionsverhandlungen mit der Union geben wird. Was immer heute passiert, sei „nicht das Ende der Geschichte und nicht das Ende der SPD“, sagt er, der Juso lobt sogar die Sondierer. Er versucht mit abwägenden Worten innerparteiliche Brücken zu bauen und erklärt erst anschließend, warum die Jusos „Nein“ zur Großen Koalition sagen. „Wesentliche Gemeinsamkeiten“ mit der Union seien nach zwölf Jahren Merkel und davon acht Jahren Großer Koalition aufgebraucht, so Kühnert. Die Partei stecke in einer „Vertrauenskrise“, darüber könne auch das Ergebnis der Sondierungsgespräche, trotz einiger Verhandlungserfolge nicht hinwegtäuschen, sagt Kühnert. Erneuern könne sich die Partei nur in der Opposition. 

Ein Teil der Delegierten feiert Kühnert. Laut sind die Gegner der Großen Koalition im Saal. Aber die Mehrheit der Delegierten folgt am Ende zähneknirschend dem Kurs der Parteiführung. Der innerparteiliche Aufstand fällt aus. Auch wenn es am Ende denkbar knapp zugeht. Fünf Stunden lang wogt die Stimmung in Bonn hin und her, nicht nur den Gegnern der Großen Koalition gelingt es, Emotionen zu schüren, sondern auch den Befürwortern. Der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil etwa erinnert mit bebender Stimme an die Verantwortung der SPD für jene Menschen, „die ihre Hoffnungen auf uns setzen“. Auch die Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles, sie brüllt die Delegierten beinahe an: „Wir geben die SPD doch nicht auf, wenn wir uns entscheiden zu regieren.“ Die Verzweiflung steht ihr ins Gesicht geschrieben.

Das Ergebnis ist kein starkes Ja

Dann wird es wieder still im Saal. Auf den ersten Blick ist nicht zu erkennen, wie die Abstimmung der Delegierten ausgegangen ist. Also muss ausgezählt werden. Der historische Moment zieht sich. Die Anspannung in den Gesichtern von Andreas Nahles und Martin Schulz ist nicht zu übersehen. Auch ihre Zukunft hängt vom Ja und Nein ab. Mit 362 zu 279 Stimmen stimmen die Delegierten schließlich für den Leitantrag des Parteivorstandes. Zwar kann die Parteiführung jetzt verhandeln, aber 56,4 Prozent sind kein starkes Votum, eher ein verstecktes Misstrauensvotum, die SPD bleibt tief gespalten.

Trotzdem ist das Votum des Parteitages zugleich ein Erfolg des Parteivorsitzenden. Denn noch vor ein paar Tage sah es so aus, als könne die Stimmung in der SPD kippen, als könnten sich die Gegner einer Großen Koalition auf dem Parteitag durchsetzen. Der Zick-Zack-Kurs auf den Martin Schulz die Partei seit den derben Verlusten der SPD bei den Bundestagswahlen geführt hat, hat die Partei verunsichert. Aber nicht erst auf dem Parteitag, sondern schon in den Tagen davor gelang es der Parteiführung in einem einzigartigen Kraftakt, die Mehrzahl der Delegierten von ihrem Kurs für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen zu überzeugen.

Malu Dreyer führte die Überzeugenden an

Viele, fast alle, die in der Partei Amt oder Mandat haben, warben eindrücklich für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen, vor allem die geschäftsführenden Minister und die Ministerpräsidenten, allen voran die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer. Auf dem SPD-Parteitag im Dezember in Berlin hatte sie sich noch vehement für eine Minderheitsregierung eingesetzt. Jetzt sagt sie „wir können für die Menschen im Lande etwas bewegen“. In den Diskussionen der vergangenen Wochen und in der Abstimmung der Delegierten offenbarte sich somit auch eine tiefe Kluft zwischen den Amts- und Mandatsträgern in der SPD sowie den mittleren SPD-Funktionären sowie der Parteibasis. 

Zwei Dinge waren dafür entscheidend, dass es gelang die Stimmung in der Partei wieder zu drehen. Einerseits erklärten Spitzensozialdemokraten, die Alternative zur Großen Koalition sei nicht eine Minderheitsregierung, von der viele Sozialdemokraten träumen, sondern Neuwahlen. Und bei baldigen Neuwahlen kämen die Sozialdemokraten gegenüber dieser Tatsache in Erklärungsnot und es drohe ein weiterer Absturz in der Wählergunst.

Versprechen ohne Garantien

Andererseits weckten sie bei den Delegierten die Hoffnung, es könne in den Koalitionsverhandlungen auf drei wichtigen Politikfeldern noch Verbesserungen gegenüber den Sondierungsgesprächen erreicht werden: bei der Abschaffung der Befristung von Arbeitsverhältnissen, beim Einstieg in ein Ende der Zwei-Klassen-Medizin und beim Familiennachzug von Flüchtlingen. Ob sie dieses Versprechen allerdings einlösen können, ist offen. CDU und CSU haben bislang Nachbesserungen des Ergebnisses der Sondierungsgespräche abgelehnt. Um überhaupt über diesen Parteitag zu kommen, hat Schulz seiner Partei damit ein paar Dinge versprochen, von denen er nicht weiß, ob er sie am Ende auch liefern kann.

Die Zitterpartie in der SPD geht also weiter. Schon Anfang kommender Woche könnten die Koalitionsverhandlungen zwischen CDU, CSU und SPD beginnen. Nach dem Zeitplan, den Union und SPD verabredet haben, könnten die Koalitionsverhandlungen Mitte Februar abgeschlossen sein. Anschließend muss noch die SPD-Basis in einer Mitgliederbefragung dem Ergebnis der Koalitionsverhandlungen zustimmen. Nach Lage der Dinge wird das kein Selbstläufer. Das Herzschlag-Finale für Martin Schulz und die SPD steht noch bevor.

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