Zum Tod von Hans Magnus Enzensberger  - Partisanenführer in eigener Sache 

Der am Donnerstag mit 93 Jahren verstorbene Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger hat sich bei aller subversiven Kritik nie zur Partei gemacht. Letztlich umwehte ihn immer der Hauch der Unabhängigen, des Freigeistes und Unberechenbaren. Für manche auch: des Unzuverlässigen.

Hans Magnus Enzensberger im Jahr 2018 / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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„Mittelmaß und Wahn“ – so hieß ein Essayband von Hans Magnus Enzensberger, erschienen 1988. Da waren die Tage der alten Bundesrepublik schon gezählt. Aber das wusste zu diesem Zeitpunkt nicht einmal Enzensberger, der Hellsichtige. 

In besagtem Band findet sich eine ganze Reihe bekannter Texte: Sein herrliches „Lob des Analphabetentums“ etwa, sein berüchtigter Essay „Der Triumph der Bild-Zeitung oder Die Katastrophe der Pressefreiheit“ und natürlich „Das Nullmedium oder Warum alle Klagen über das Fernsehen gegenstandslos sind“. 

Erst am Ende des Buches fand sich das titelgebende Stück. Eine feinsinnige Analyse bundesdeutscher Befindlichkeiten, deren bestürzende Gültigkeit sich erst Jahrzehnte später erweisen sollte: Deutschland – Mittelmaß und Wahn. Wie treffend diese Diagnose war, kann man gerade in diesen Tagen wieder studieren. 

Der da so brillant die Psyche seiner Landsleute sezierte, wurde 1929 als Sohn des Oberpostdirektors Andreas Enzensberger in Kaufbeuren geboren. Der Vater war eine komplexe Persönlichkeit. Mit seinem Beamtentum unterfordert, bastelte, werkelte und fotografierte er mit Leidenschaft und übersetzte nebenbei für seine Frau die Werke von Maugham, Wodehouse, Doyle oder Orwell. 

Mit gerade 27 erscheint sein legendärer Radioessay „Die Sprache des Spiegel“

Bald nach Hans Magnus’ Geburt ging die Familie nach Nürnberg. Dort kamen auch die Brüder Christian, der spätere Literaturwissenschaftler, Ulrich, Mitbegründer der Kommune I, und der früh verstorbene Martin zur Welt. 

Nach dem Krieg verschlug es die Enzensberger in das bayerische Schwaben. Hier machte Hans Magnus Abitur und arbeitete unter anderem als Barkeeper bei der Royal Air Force. Mit einem Stipendium die Studienstiftung studierte er schließlich Philosophie und Literaturwissenschaften, zunächst in Erlangen, Freiburg und Hamburg, dann in Paris. 

Ab 1955 begann Enzensberger unter Alfred Andersch als Hörfunkredakteur beim Süddeutschen Rundfunk. Hier prägte er seinen für ihn so charakteristischen Stil. Mit gerade 27 erscheint sein legendärer Radioessay „Die Sprache des Spiegel“. These: Das Nachrichtenmagazin sei kein Nachrichtenmagazin, der Stil des Spiegel kein Stil, sondern Masche, er übe nicht Kritik, sondern Pseudo-Kritik. Das saß. 

Im selben Jahr, 1957, gelang Enzensberger mit dem Gedichtband „verteidigung der wölfe“ auch sein Durchbruch als Lyriker. Ein Literaturstar war geboren, der im schnoddrigen Stil der Zeit empfahl: „Lies keine Oden, mein Sohn, lies die Fahrpläne: sie sind genauer“. 

HME änderte mitunter seine Meinung, wo andere orthodox ewige Wahrheiten verkündeten

Die Medienkritik sollte eines der vielen Felder bleiben, die Enzensberger regelmäßig beackerte. Von besagtem Spiegel-Essay über die beiden schon erwähnten Texte über die Bild-Zeitung und zum Nullmedium Fernsehen bis zu seiner Kritik an der FAZ („Journalismus als Eiertanz – Beschreibung einer Allgemeinen Zeitung für Deutschland“): Enzensbergers Kritik war immer pointiert, theoretisch fundiert und dabei ironisch-scharfzüngig vorgebacht. 

Neben Grass, Johnson und Böll gehörte HME bald zu den etablierten Intellektuellen der damals noch jungen Bundesrepublik. Wären die Zeiten andere gewesen, hätte dem distanzierten Beobachter jedoch auffallen müssen, dass Enzensberger, bei aller subversiven Kritik, sich auf seltsame Art nie wirklich zur Partei machte. Natürlich verstand er sich, wie jeder kritische Intellektuelle in den 60er-Jahren, als links. Doch letztlich umwehte Enzensberger immer der Hauch der Unabhängigen, des Freigeistes und Unberechenbaren. Für manche auch: des Unzuverlässigen. HME änderte mitunter seine Meinung, wo andere orthodox ewige Wahrheiten verkündeten. „Chamäleon“ wurde er deswegen genannt oder „Luftikus“. Als Lob war das nicht gemeint. Aber über solche Anwürfe hat der geistig Hochbewegliche allenfalls geschmunzelt.  

1965 findet der Vielseitige für sich eine neue Rolle: Er wird Herausgeber, in diesem Fall des Kursbuch, eines der Zentralorgane der linken Intelligenz der 60er- und 70er-Jahre. Hier schrieb alles, was intellektuellen Rang und Namen hatte – von Herbert Marcuse bis Claude Levi-Strauss. Aus politischen Gründen schied das Kursbuch 1970 bei Suhrkamp aus. Enzensberger gründete mit dem linken Verleger Klaus Wagenbach die Kursbuch GmbH. Der Erfolg war außerordentlich, auch weil, wie die FAZ säuerlich bemerkte, „die beiden aggressivsten linken Literaturmilieus sich vermischt haben, zwei Partisanenführer in dasselbe Revier einrücken“. 

Sein erfolgreichstes Buch war Einführung in und Hommage an die Mathematik

Doch Enzensberger taugte letztlich nur als Partisanenführer in eigener Sache. Dafür hatte der ewige Skeptiker auch ein zu starkes Gespür für den Zeitgeist. Während seine alten Kampfgefährten immer noch an die Revolution glaubten, war HME in den 80ern angekommen, gründete das großartige Kulturmagazin TransAtlantik und die bis heute existierende „Andere Bibliothek“, für die er auch selbst übersetzte. Auch hier witterten alte Weggefährten Verrat an den alten Idealen. Enzensberger wird’s egal gewesen sein. Kaum jemand eignete sich so wenig zum Betonkopf wie der Denker aus Schwabing. 

Es gehört zur Tragödie auch brillanter Zeitdiagnostiker, dass sie leicht vergessen werden, sobald sie nicht mehr in der Lage sind, Zeit zu diagnostizieren. Das gilt umso mehr, wenn sie keine zeitlose Lehre hinterlassen, sondern immer flexibel waren, neugierig und unorthodox. Bezeichnend etwa, dass Enzensbergers erfolgreichstes Buch „Der Zahlenteufel“ war, eine hinreißende Einführung in und Hommage an die Mathematik. 

So wird der wunderbare HME vor allem als große Kulturgestalt Westdeutschlands in Erinnerung bleiben, als begnadeter Kommunikator und Stichwortgeber mit sensiblem Sinn für die feinen Schwingungen der modernen Gesellschaft. 

Am Donnerstag ist Hans Magnus Enzensberger, prägender Intellektueller der deutschen Nachkriegsgeschichte, Dichter, Essayist und Herausgeber, wenige Tage nach seinem 93. Geburtstag in München verstorben. 

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