Vom Aussterben bedroht - Die Letzten ihrer Art

Die Zahl der Tiere, die vom Aussterben bedroht sind, wächst rapide. Wer wird übrig bleiben? Und müssen wir in einer Art „Triage“ entscheiden, wen wir retten wollen und wo Hilfe bereits aussichtslos ist?

Sollte die Bekannt- und Beliebtheit einer Tierart darüber entscheiden, ob wir sie vorm Aussterben retten? / dpa
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Lothar Frenz ist Biologe und Journalist und hat viele Expeditionen in abgelegene Weltregionen unternommen.

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Ihr dürft nicht aussterben!“, flüstert Jochen Menner, als er dem Vögelchen mit einer Spritze Nährlösung in den winzigen Schnabel flößt. Morgens saßen drei Wangi-Wangi-Brillenvögel paralysiert in ihrer Voliere; am Tag zuvor waren sie noch munter. Immer wieder, von einem Tag auf den anderen, hocken oft mehrere auf einmal gelähmt auf dem Boden. Mittlerweile hat Menner eine Kur entwickelt, um sie am Leben zu erhalten: Er flößt ihnen eine Spezialnahrung ein, eine Mixtur aus besonders viel Zucker, Kalk und Vitamin B – und das jede Dreiviertelstunde. Seine Arbeit wird dann zur ausufernden Intensivpflege.

Menner ist Kurator in einer Zuchtstation auf Java: der 2017/2018 gegründeten Prigen Conservation Breeding Ark (PCBA), einer Arche für bedrohte indonesische Tiere im Osten der Insel. Hier werden neben gefährdeten Säugetieren in über 200 Volieren seltene Vögel gezüchtet, vor allem fast ausgerottete Singvögel – bei manchen Spezies die einzigen bekannten Exem­plare ihrer Art. Nach Studien von Ornithologen werden auf Java wohl mehr Singvögel in Käfigen gehalten, als noch frei herumfliegen. Denn nach einer alten javanischen Lebensregel benötigt ein Mann zu seinem Glück – neben Frau und Kindern, einem Haus und dem traditionellen Dolch – einen Vogel im Käfig. 

Singvogelkrise

Zudem finden in vielen Ortschaften Javas fast täglich Singvogelwettbewerbe statt, die von ihrer Bedeutung mit der Fußball-Bundesliga zu vergleichen sind, nur kann jeder daran teilnehmen. Pokale und hohe Preisgelder winken den Gewinnern. Daher ist der Vogelhandel auf Java ein großes Geschäft. Überall gibt es Singvögel zu kaufen: in kleinen Dorfläden, bei fliegenden Händlern auf Mopeds, die ihre Ware in winzigen Käfigen auf dem Rücken transportieren. In Städten gibt es spezielle Vogelmärkte – ganze Straßenzüge oder sogar große Gebäude voller Vogelhändler: „Märkte der Ausrottung“ nennt sie die Organisation Traffic, die den weltweiten internationalen Wildtierhandel untersucht. 

Wissenschaftler sprechen bereits von einer Singvogelkrise und vom „Silent Forest Syndrome“. Denn in den verbliebenen Wäldern des indonesischen Inselreichs ist es oft still geworden. Über 1700 Vogelarten leben auf dem riesigen Archipel – 17 Prozent aller über 11 000 weltweit bekannten Vogelspezies. 131 von ihnen standen 2014 auf der Roten Liste der Weltnaturschutzunion IUCN. Der Wangi-Wangi-Brillenvogel ist nicht darunter – aber nur, weil er wissenschaftlich noch gar nicht beschrieben ist. Erst 2003 wurde er entdeckt und ist schon vom Aussterben bedroht, des Vogelhandels wegen. 

Domestizierung der Welt

Weltweit wächst die Zahl der Arten rapide, die auf der Roten Liste der IUCN stehen: Im September 2021 sind es über 38 000 Tier- und Pflanzenarten: Jede vierte Säugetierart, jeder achte Vogel, jedes dritte Amphib auf dieser Liste ist vom Aussterben bedroht, insgesamt mehr als ein Viertel der untersuchten Spezies. Die tatsächliche Zahl liegt wohl deutlich höher. Diese Entwicklung wird in den nächsten Jahrzehnten weiter zunehmen: Bis 2050 könnten 40 Prozent aller Arten ausgerottet sein.

In unserem Alltag bekommen wir das kaum mit. Längst besitzen nicht mehr Naturlandschaften wie die Serengeti die größte Dichte an Huftieren in der Welt, sondern Landkreise wie das niedersächsische Vechta, die fast 20-mal so viele Großtiere pro Flächeneinheit beherbergen wie die berühmte afrikanische Wildnis. Nur sieht man die großen „Herden“ deutscher Tiere kaum: Meist bestehen sie aus Schweinen und Rindern, die ihr Dasein in Ställen fristen, wo sie wegen ihres Fleisches gemästet, wegen ihrer Milch gemolken werden. Sie bringen pro Flächeneinheit etwa viermal so viel Gewicht auf die Waage wie die Gnus, Zebras, Elefanten und Giraffen der Savanne. Damit verändern wir nicht nur die Artenstruktur der Erde, sondern auch ganze Landschaften und Ökosysteme. Aus einer Welt der Wildtiere ist eine der Haustiere geworden: Im Jahr 2000 wogen sämtliche domestizierten Landsäugetiere auf der Erde zusammen 24-mal so viel wie alle wild lebenden Tiere.

Wer wird also noch übrig bleiben von unseren Mitspezies? Wer darf mit uns überleben? Bei wem wird uns die Rettung gelingen? Passgenaue Therapien müssen für jede Spezies gefunden werden – und für jede schwierige Situation, die eine Art am Limit auslöschen könnte. 

Sexmuffel sind vom Aussterben bedroht

Jochen Menner hat mittlerweile die Ursache der plötzlichen Kraftlosigkeit der Wangi-Wangi-Brillenvögel erkannt – als Futter angelieferte Ameisenpuppen waren manchmal mit Insektiziden belastet. Wie eine „surreale Form von Performancekunst“, so hat es einmal der amerikanische Journalist Jon Mooallem beschrieben, mute oft an, was Naturschützer alles unternehmen, um das Überleben anderer Spezies zu unterstützen. Pandapfleger streifen sich ein schwarz-weißes Pandakostüm über und besprenkeln sich mit Panda-Urin, bevor sie die Gehege ihrer seltenen Schützlinge betreten, damit sich die zur Auswilderung bestimmten Jungtiere nicht an den Anblick von Menschen gewöhnen. Die einsame Galapagos-Schildkröte „Lonesome George“ von der Insel Pinta war nicht nur der Letzte seiner Art, sondern auch noch ein Sexmuffel. Daher hatte er zwischenzeitlich sogar eine eigene menschliche Praktikantin. Monatelang stimulierte sie ihn Tag für Tag, damit er sich zumindest mit Weibchen einer verwandten Unterart paart. Ihre Handarbeit war leider vergebens; zwar bekam George irgendwann eine Erektion, aber der letzte bekannte Pinta-Schildkrötenmann, das lebende Symbol ausgerotteter Spezies, starb 2012, ohne Nachwuchs gezeugt zu haben. 

Naturschützer weisen in Ultraleichtfliegern amerikanischen Schreikranichen und europäischen Waldrappen, die in menschlicher Obhut geschlüpft sind, den Weg in neue Winterquartiere. Andere betreiben in regelrechten Datingagenturen Brautschau für seltene Tiere, schicken sie auf Hochzeitsreisen, richten einen Frozen Zoo ein, indem sie die Zellen der Seltensten einfrieren, um sie dereinst wieder zum Leben zu erwecken, sollten die richtigen Methoden entwickelt sein. 

Erfolge von Naturschützern

Mal sind Naturschützer Sexarbeiter und Kuppler, mal Eingliederungsbeauftragte und Bewährungshelfer, mal eine Mischung aus einfühlsamen Sozialpädagogen und vorausschauenden Science-Fiction-Visionären, wenn sie daran arbeiten, bereits ausgestorbene Arten wiederauferstehen zu lassen – wie das Mammut oder die Wandertaube, die noch vor 150 Jahren der wohl häufigste Vogel auf der Erde war, mit Schwärmen von über zwei Milliarden Individuen. So absurd oder lächerlich es erscheinen mag, was diese „Verrückten“ tun: Sie wollen so viele Arten wie möglich vor dem Aussterben bewahren. Denn in ihrer „Performancekunst“ steckt das Know-how vieler Jahrzehnte: Methoden, die immer weiter reifen, Überlebenstherapien, maßgeschneidert für jede Spezies, in kurzer Zeit entwickelt – erste, zweite, manchmal dritte Hilfe zum unterstützten Überleben in einer sich rasant ändernden Welt.

Dabei haben sie spektakuläre Erfolge erzielt: Von der durch Jagd fast ausgerotteten Arabischen Oryx-Antilope streifen über 1000 Tiere wieder in wilden Herden durch ihre alte Heimat in Saudi-Arabien, Israel, Jordanien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und den Oman, dazu kommen mehr als 7000 Tiere in menschlicher Obhut. Vom Kalifornischen Kondor hatten nur 27 Vögel überlebt, dank der Bemühungen der Artenschützer leben wieder über 500 von ihnen – etwa die Hälfte frei fliegend. Selbst bei Spezies, deren Populationsziffer schon einstellig war, ist es gelungen, den Erhalt zu sichern – vom Schwarzen Trauerschnäpper gab es nur noch fünf Exemplare, vom Mauritiusfalken vier, und alle heute lebenden Davidshirsche gehen auf nur drei Individuen zurück, die 1876 aus China in den Berliner Zoo kamen. 

Triage der Tiere?

Doch nicht alle Arten, um die man sich bemüht, schaffen das Überleben: Der Magenbrütende Frosch starb aus, obwohl er sich zwischenzeitlich in menschlicher Obhut vermehrte. Als Letzter seiner Art starb im Januar 2019 „Lonesome George, der Zweite“ auf einer Schneckenzuchtstation auf Hawaii. Dort war die Schnecke 14 Jahre zuvor zur Welt gekommen; trotz großer Bemühungen gelang es nicht, die Art Achatinella apexfulva zu erhalten. Vom Sumatra-Nashorn, der ursprünglichsten aller Nashornspezies, die am ganzen Körper mit einem Haarflaum bedeckt ist, gab es in den siebziger Jahren vielleicht noch 1000 Tiere in Südostasien. Heute sind trotz Schutz und wenig erfolgreichen Zuchtbemühungen in Zoos nur noch etwa 80 auf Sumatra übrig, vielleicht noch ein paar auf Borneo. Sie leben weit verstreut in abgelegenen Nationalparks, sodass sich die Geschlechter kaum mehr begegnen können. Genau hier liegt eine weitere Schwierigkeit für ihre Rettung: Haben die Weibchen ein paar Jahre keine Nachkommen zur Welt gebracht, entwickeln sie pathologische Wucherungen und werden unfruchtbar. Um die Zukunft des Sumatra-Nashorns sieht es düster aus.

Was also tun? Können wir alle Arten retten, die bedroht sind? Oder reichen unsere Ressourcen und Fähigkeiten nicht für alle „Patienten“ aus? Geben wir irgendwann die Rettung einer Spezies auf, weil sie aussichtslos erscheint? Diese Fragen erinnern an Triage-­Situationen, wie wir sie aktuell von Intensivstationen voller Covid-19-Patienten kennen. Wenn alle Beatmungsmaschinen auf einer Intensivstation belegt sind und ständig neue Covid-19-Patienten angeschlossen werden müssen: Sollen Ärzte den 85-Jährigen von der Lungenmaschine entfernen, wissend, dass er daraufhin bald sterben wird, damit der 45-Jährige überleben kann?

Wonach entscheiden?

Wonach also entscheiden Wir? Welche der vielen bedrohten Arten wollen wir retten? Die, denen es am schlechtesten geht? Oder jene, bei denen die Aussichten auf Erfolg die größten sind? Kümmern wir uns um Besonderheiten wie den Haiti-Schlitzrüssler, den Schuhschnabel oder den Chinesischen Riesensalamander? Alljährlich stellt die Londoner Zoologische Gesellschaft eine Reihe solcher evolutionär einzigartiger und global gefährdeter Arten in den Vordergrund (Evolutionary Distinct and Globally Endangered – EDGE), die am Rande des Aussterbens stehen und deren Schutz die höchste Priorität genießen sollte, weil sie oft kaum nähere Verwandte mehr im Tierreich haben. Würden diese Spezies aussterben, wäre ein unverhältnismäßig hoher Verlust einzigartiger Evolutionsgeschichte zu beklagen. Damit ginge sehr viel an biologischer Vielfalt verloren.

Oder retten wir lieber charismatische Arten wie Pandas, Tiger, Elefanten und Wale, die groß und beeindruckend oder besonders niedlich sind? Mit so prominenten, sprich öffentlichkeitswirksamen Spezies lassen sich leichter Spendengelder für Naturschutzprojekte eintreiben als mit den unbekannten und schrägen EDGE-Arten. Weil es sich bei solchen Flaggschiffarten oft um Spezies handelt, die einen großen Lebensraum brauchen, schützt man, wenn man sich um sie kümmert, gleich eine ganze Reihe nicht so bekannter Spezies mit. Die Flaggschiffe sind dann zugleich „Schirmarten“, weil unter ihrem Schutz auch andere gedeihen.

„Schlüsselarten“

Oder fokussieren wir uns eher auf all jene Arten, die ganze Ökosysteme zusammenhalten? Solche „Schlüsselarten“ müssen nicht besonders groß oder besonders häufig sein – wichtig ist die grundlegende Funktion in ihrer Lebensgemeinschaft. Als Seeotter vor der amerikanischen Westküste wegen ihres Pelzes fast ausgerottet waren, brachen dort die Kelpbestände zusammen. Die Unterwasserwälder dieser Riesenblattalgen bilden aber wichtige Brutstätten vieler Meerestiere – von Fischen, Krebsen, Muscheln, Schnecken, die ihrerseits Nahrung für viele andere Fische und Vögel sind. Die dicht stehenden Riesenblattalgen dämpfen auch Wellenschlag und Brandung an den Stränden. Was hat aber der Riesentang nun mit den vergleichsweise wenigen Ottern zu tun, die sich entlang der Küsten tummelten? 

Andere Lebewesen sind viel häufiger im Unterwasserwald. Die Leibspeise der bis anderthalb Meter langen Seeotter sind Seeigel. Nachdem die Otter fast ausgerottet waren, explodierten deren Bestände. Seeigel weiden aber gerne die unteren Stammteile des Kelps ab, die den Tang am Boden verankern. Der größte Teil der Riesenalge driftet dann weg und stirbt ab. Zurück bleiben Unterwasserwüsten voller Seeigel: keine Otter, kein Kelp, weniger Küstenschutz. Erst als die Jagd auf Seeotter verboten wurde und sie sich wieder vermehrten, nahmen die Kelpbestände wieder zu.

Was die Natur uns wert sein sollte

Auch das einst weitverbreitete Sumatra-Nashorn hatte – wohl für viele Jahrmillionen – prägende Auswirkungen auf seinen Lebensraum, von denen wir bislang kaum etwas wissen: Es hat mit seinem massigen Körper Wege in den dichten Wald gebrochen, Suhlen angelegt und mit großer Wahrscheinlichkeit Samen ganz bestimmter Bäume verteilt. Ganz ähnlich sieht es bei den indonesischen Singvögeln aus: So mancher Schnabel, der Nektar saugt oder Fruchtschalen knackt, ist nur für bestimmte Blüten oder Früchte geeignet – und umgekehrt. Wichtige ökologische Funktionen der Wälder hängen vom Zusammenspiel der Arten ab, bei dem im Laufe gemeinsamer Koevolution eine Fülle von Spezialisierungen und gegenseitigen Abhängigkeiten entstanden ist. Was das Fehlen des Nashorns und der Singvögel für diese Wälder bedeutet, mag sich erst in Jahrzehnten zeigen und ist weder absehbar noch überhaupt erforscht. Bei der Frage, wen wir retten wollen, gilt es also auch, Opportunitätskosten zu berücksichtigen – potenziellen, entgangenen Nutzen in der Zukunft. Und dabei zu berücksichtigen, wie wenig wir über das Zusammenspiel der Spezies eigentlich wissen.

Obwohl solche „Ökosystemleistungen“ schwieriger zu erfassen sind als der Wert oder Preis eines Produkts, haben Wissenschaftler in einer Studie 1997 im angesehenen Wissenschaftsmagazin Nature errechnet, dass uns die Natur mitsamt all ihren Arten jährlich einen globalen Wert in einer Größenordnung von im Schnitt 33 Billionen Dollar erbringt – einfach so, ohne etwas dafür von uns zu fordern.

Was aber würde es wohl kosten, die gesamte gefährdete Biodiversität zu schützen und jede Art auf der Roten Liste eine Kategorie besserzustellen? Diese Frage stellte sich ein internationales Autorenteam 2012 im ähnlich angesehenen Magazin Science. Demnach müssten wir jährlich nur 76 Milliarden Dollar aufbringen, um das Aussterberisiko aller bedrohten Arten auf diese Weise weltweit zu mindern. Dieser Betrag entspricht etwa dem Bruttoinlandsprodukt eines Landes wie Kenia im Jahr 2017 – oder, wie es am Ende der Studie heißt, einem Fünftel der globalen Ausgaben für alkoholfreie Erfrischungsgetränke. Würden wir also auf 20 Prozent unserer Softdrinks im Jahr verzichten, wäre es um die Artenvielfalt unseres Planeten gleich viel besser bestellt.

Lothar Frenz: „Wer wird überleben? Die Zukunft von Natur und Mensch“, Rowohlt, Berlin 2021, 448 Seiten, 24 Euro 

Joel Sartore: „Arche der Tiere. Schutz für die Letzten ihrer Art“, National Geographic, Hamburg 2019, 400 Seiten, 49,99 Euro, 
www.joelsartore.com

Dieser Text stammt aus der Januar-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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