Uwe Tellkamp: „Der Schlaf in den Uhren“ - Absturz in düsteres Raunen

Neunhundert Seiten, die kein Ende nehmen wollen: Uwe Tellkamps lange angekündigter Roman „Der Schlaf in den Uhren“ ist das redselige Dokument des literarischen Verstummens. Doch inmitten des endlosen Stroms düsteren Raunens finden sich auch einige starke Passagen.

Was heißt denn schon bürgerlich? Uwe Tellkamp / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Johann Michael Möller, Jahrgang 1955, war von 2006 bis 2016 Hörfunkdirektor beim Mitteldeutschen Rundfunk. Er ist Herausgeber des Rotary Magazins. Im Verlag zu Klampen erschien 2019 sein Buch „Der Osten“.

So erreichen Sie Johann Michael Möller:

Anzeige

Eine der schönsten Passagen dieser lange erwarteten Fortsetzung von Uwe Tellkamps Erfolgsroman „Der Turm“ ist die Begegnung mit der Welt des Dresdner Malers und Bildhauers Hermann Glöckner. Sie findet sich fast am Ende der 900 Seiten, die kein Ende nehmen wollen und auch den gutwilligsten Leser ertrinken lassen in einer Flut von Namen, Ortswechseln, Erinnerungsfetzen und apokryphen Zitaten, die sich nur selten zu einem Erzählstrom verbinden und über weite Strecken allenfalls eine vage Vorstellung davon hinterlassen, was der Autor damit denn will. „Lava“, wie der Roman ursprünglich hatte heißen sollen, wäre sicher der passendere Titel gewesen. „Schlaf in den Uhren“ heißt der Roman jetzt, was man sich ziemlich ungemütlich vorstellen muss, allein wegen der vielen Zahnräder und der ständigen Drehung im Uhrzeigersinn.

Aber das Uhrwerk ist womöglich doch die richtige Metapher für eine Ordnung, die sich zwar fortbewegt, aber sich in Wahrheit doch nur im Kreise dreht. Auch in der Vorstellungswelt dieses Autors. Erinnerung geht in die Gegenwart über, die Unterschiede zwischen östlichem und westlichem Leben verwischen. Am Ende scheint alles gleich. Und von denselben bösen Mächten versaut. Die neue, die „trevische“ Gesellschaft, wie Tellkamp sie nennt, unterscheidet sich kaum von der alten; auch der neue Turm steht über den Labyrinthen eines düsteren unterirdischen Reiches. Mit der trügerischen Sehnsuchtswelt kehrt die alte Hölle nur wieder. Nur diesmal hat man sein Laguiole-Messer dabei.

Glitzernde Steine unter dem endlosen Strand

Diese Grundbotschaft des Romans lässt sich leichter zusammenfassen als auf 900 Seiten lesen. Der verzweifelte Wunsch, das Buch einfach zuzuklappen, nimmt bei der Lektüre immer mehr zu. Man kann sich die Stellen per Zufallsprinzip aussuchen; bei einem Rezept für Schwarzsauersuppen oder bei Biermann, mit dem alles begann. Man fragt sich, warum man lesen soll, was ein Bonner Historiker über Adenauer und seinen Finanzberater Pferdmenges schreibt. Aber danach folgt wieder eine grandiose Beschreibung: „Der Ring aus Kälte um den alten Mann. Aus einer heute verschollenen Würde aber auch.“ Solche Sätze sind wie die glitzernden Steine unter dem endlosen Strand.

Für Hermann Glöckner müsse man „ein Gehör haben und nicht nur ein Auge“, heißt es dann über 600 Seiten später. Zum Verständnis: Der Maler und Bildhauer war einer der Großen unter der an Einzelgängern so reichen Kunst in der DDR, der helle Polarstern für viele der Jüngeren. Er wohnte, wie Tellkamp schreibt, auf der „Schwebebahnseite des Elbhangs“ in jenem Künstlerhaus, „das in seiner vielfenstrigen Wucht einem Kastell glich“. Im Westen hat man ihn lange übersehen; wie es überhaupt zu den Abschreibungsverlusten der Einheit gehört, jene ästhetischen Biotope der DDR erst wahrgenommen zu haben, als es sie schon nicht mehr gab.

„Souveräne Wege“ hat man Ende der 1990er-Jahre eine Wanderausstellung zu diesen Künstlern genannt. Aber das ist nur ein Allerweltswort für jene, die sich fernab der Metropolen Leipzig und Berlin in der Dresdner Provinz einquartiert hatten, dem Tal der Ahnungsvollen, wie man es besser wohl nennt. Die meisten haben dieses Tal kaum jemals verlassen. Die Welt da draußen blieb ihnen fremd.

Antibürgerlichkeit als das eigentlich bürgerliche Programm

Es ist jenes als bürgerlich bezeichnete Milieu, das auch Tellkamp geprägt hat. Aber was heißt denn schon bürgerlich? Weil man in alten Villen lebte und noch ein silbernes Stollenmesser mit Porzellangriff besaß? Glöckner war vielmehr ein Einzelgänger, ein „Fossil der künstlerischen Avantgarde um 1930“, wie ihn der Kunstkritiker Michael Zajonz nannte; der seinen Weg weitergegangen war, allem, was danach kam, zum Trotz. Antibürgerlichkeit als das eigentlich bürgerliche Programm.

„Ich hatte mich auf das Sofa unter die Mondkarte gesetzt“, berichtet der Erzähler bei Tellkamp, „und beobachtete Vater, der ganz in seine und Glöckners Welt versunken zu sein schien, mehr zu sich selbst als zu mir sprach, einem Zuhörer, der noch zu jung war, um alles verstehen zu können.“ Es geht um die Liebe zur Geometrie, zu Ordnung und Klarheit und wie der Maler die „verwirrende Vielfalt der auf den Blick einstürzenden äußeren Welt von den Ablenkungen, vom Schaum zu befreien versuchte, bis etwas entstand, das eine Gesetzmäßigkeit zeigte“.

Vater und Sohn hören dabei „Kind of Blue“ von Miles Davis, und die Paraphrasen der Musiker machen die Melodie um das „Gewicht eines Hautflüglers leichter“. Der Winkelschleifer des Bildhauers Dietzsch kreischt dazwischen, die Waschmaschine lallt, und der Vater beschließt, Glöckners „Wäsche auf dem Trockenplatz“ nachzubauen. Die Deutschen „lieben die Mathematik nicht“, sagt er zum Sohn. Die sei zu rational, da fehle das Gefühl. Die wahre Moderne ist doch die Antimoderne.

Katechismus des pauschalen Verdachts

In seinen stärksten Passagen verharrt der Roman in diesem hautflüglerartig schwebenden Zustand, der sich jeder gesellschaftspolitischen Deutung entzieht. In seinen vielen, viel schwächeren Passagen stürzt er in düsteres Raunen. Man kann dahinter die Absicht vermuten, sich vor den Verdachtslesern zu schützen, die vor allem nach der verborgenen ideologischen DNA des Romans suchen werden, mit der sich der einst so hochgelobte Autor seit Jahren diskreditiert. Es sind nur ein paar abstruse Formulierungen stehen geblieben, die man getrost überlesen könnte, wenn nicht die Umkehr des ganzen Verfahrens so fragwürdig wäre. Was Tellkamp beim Turm mit der Inspektion des eigenen Milieus gelang, erweist sich im Hinblick auf die neue, die „trevische“ Welt als aufgelesen und adaptiert. Der ethnologische Blick funktioniert nicht in der gegenläufigen Richtung. Man hätte ihm den Manufactum-Katalog wegnehmen müssen. Und den Katechismus des pauschalen Verdachts.

So wandert man mit dem Autor hin und her zwischen Schauplätzen, die im Grunde dieselben sind, sortiert die abgerissenen Erinnerungsfäden und die Kolonialwarensammlung in einer überaus engen Welt. Und will sich am Ende nicht vor die Frage stellen lassen, wo es wohl verlogener zuging, im alten Turm oder in den neuen, windigen Zeiten. Wenn man ihm böse will, dann ist dieser Roman das redselige Dokument des literarischen Verstummens. Wenn man es gut mit ihm meint, hilft es uns, besser zu verstehen, warum nicht zusammengehört, was nicht zusammenwachsen konnte.

Anzeige