Themenabend Klimakrise: Ökozid - Wie die ARD den Hunger nach Moral stillt

Wer ist Schuld an der Klimakrise? Das ARD-Drama „Ökozid“ stellt die Kanzlerin als Klimasünderin vor Gericht. Am Ende verlässt sie die Bühne aber als Heldin. Der Dramaturg Bernd Stegemann über ein Tendenzdrama, das an moralischer Bräsigkeit kaum zu überbieten ist.

Von der Klimasünderin zur Heldin: Die ARD setzt der Kanzlerin ein Denkmal / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Bernd Stegemann ist Dramaturg und Professor an der Hochschule für Schauspiel (HfS) Ernst Busch. Er ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschienen von ihm das Buch „Die Öffentlichkeit und ihre Feinde“ bei Klett-Cotta und „Identitätspolitik“ bei Matthes & Seitz (2023).

So erreichen Sie Bernd Stegemann:

Anzeige

Andres Veiel ist ein berühmter Dokumentarfilmer. Nun hat er sich an einem Dokumentarfilm über eine Klima-Klage im Jahr 2034 versucht. „Ökozid“, das am Mittwoch zur Primetime in der ARD ausgestrahlt wurde, zeigt, wie 31 Staaten des globalen Südens Deutschland vor einem Weltgerichtshof verklagen. Gegenstand des Prozesses ist das deutsche Versagen in der Klimapolitik und eine Mitschuld an den katastrophalen Auswirkungen des Klimawandels vor allem für die Südhalbkugel. 

Soweit, so interessant. Leider hapert es der Veielschen Inszenierung an den elementarsten Qualitäten, um dieses anspruchsvolle Unternehmen umsetzen zu können. Sein Film tappt in die älteste und tödlichste Falle, die das Drama kennt: Es ist ein Tendenzdrama geworden.

Seit Aristoteles und Hegel wird immer wieder mit Bewunderung über die Kunst des Dramas nachgedacht. Denn das Drama zeichnet sich dadurch aus, dass es die Widersprüche der Welt in eine Form bringt, in der beide Seiten des Konfliktes gleichermaßen Recht haben. Diese Gleichberechtigung der Ansprüche wird seit der Antike als die große zivilisierende Leistung des Dramas gefeiert, da sie die Zuschauer aus ihrer Selbstgewissheit befreit. Jeder Versuch, eine Tendenz in die Balance zu bringen, führt zur Zerstörung des Dramas und bringt statt mündige Zuschauer folgsame Untertanen hervor. 

Klimasünder Deutschland 

„Ökozid“ macht ab der ersten Sekunde keinen Hehl daraus, wer in diesem Verfahren recht bekommen sollte und wer zu Recht auf der Anklagebank sitzt. Zwei engagierte Rechtsanwältinnen vertreten traurig dreinschauende Kläger aus südlichen Ländern. Deutschland sitzt in Gestalt einer schlechtgelaunten Angela Merkel und einem alten weißen Mann als Anwalt auf dem Sünderbänkchen.

Und die Sachverständigen, die als Zeugen gehört werden, rekapitulieren das gesamte Zeitungswissen, das in den vergangenen Jahren über CO2-Emissionen und SUVs publiziert worden ist. Das Bild ist eindeutig: Deutschland ist ein Klimasünder, da es stärker seine Automobilindustrie verteidigt hat als das Weltklima.

Merkels Todesstoß 

Der letzte Auftritt einer blutleeren Merkel gibt den deutschen Interessen den finalen Todesstoß. Dreizehn Jahre nach ihrer Kanzlerschaft erkennt sie, dass sie große Fehler gemacht hat. Sie ermahnt das Gericht, Deutschland zu verurteilen, wenn die Richter nicht selbst in einigen Jahren selbst auf der Anklagebank sitzen wollen. So wird das wenig überraschende Urteil verkündet. Deutschland muss Reparationszahlungen für die CO2-Emissionen seit dem Beginn der Industrialisierung im 19. Jahrhundert leisten. 

Es gibt ein berühmt-berüchtigtes Tendenzdrama aus der Nazi-Zeit. „Schlageter“ von Hanns Johst war Hitler gewidmet und ein Hit auf den Nazibühnen. Erzählt wird die Geschichte des Freikorpssoldaten Schlageter, der bei seinem Partisanenkampf gefangen genommen und zum Tode verurteilt wird. Was die Nazi-Zuschauer in helle Empörung versetzen sollte, war die drastisch vorgeführte Feigheit der Weimarer Republik, die es widerstandlos hingenommen hatte, dass Schlageter auf deutschem Boden von französischen Soldaten exekutiert wird. 

Tendenzdramen manipulieren ihr Publikum 

Tendenzdramen missbrauchen die dramatische Kunst, um das Publikum emotional zu überwältigen und zu manipulieren. Sie zapfen dafür tieferliegende Schichten des kollektiven Gedächtnisses an. In „Schlageter“ ist leicht zu erkennen, wie die Demütigung des Versailler Vertrags und die angestaute Wut aktiviert wird. Die emotionalen Resonanzräume, die „Ökozid“ anspricht, sind ähnlich wirkungsvoll. So erlaubt der Film einen Einblick in die Vorstellungen, die sich Medienmacher heute von ihrem Publikum machen. 

Um die emotionalen Quellen zu verstehen, muss man sich eine Randfigur anschauen. Diese Nebenfigur begleitet den Prozess, um im Internet die Stimmung gegen das Verfahren anzuheizen. Dazu postet sie ein gefälschtes Video, in dem Angela Merkel ankündigt, dass Deutschland auch einen Schuldspruch akzeptieren würde. Diese erfundene Unterwerfung provoziert dann genau die gewalttätigen Proteste, die das Gericht beeinflussen sollen.

Der Atomausstieg wird nostalgisch verklärt 

Doch der Handlungsfaden bricht ab, und die Figur des Videofälschers bleibt unklar in ihren weiteren Plänen. Dieser handwerkliche Fehler ist mehr als nur ein weiterer Schaden im Tendenzdrama. Sie offenbart im Gegenteil den ideologischen Kern von „Ökozid“. Denn die Pointe des gefälschten Videos liegt in der letzten Wendung des Films.

Das Schlussbekenntnis von Merkel übersteigt die anfängliche Videofälschung bei weitem, denn hier erkennt sie nicht nur einen Schuldspruch an, sondern sie fordert ihn sogar. In der Erzählung des Films wird dieser Auftritt zur dritten großen politischen Leistung von Merkel erklärt. Nach dem Atomausstieg 2012 und der Flüchtlingsaufnahme 2015 zeigt Deutschland mit dieser Bitte um Verurteilung und Reparationszahlungen zum dritten Mal seine wahre moralische Größe. 

In moralischem Triumph baden 

Die Tendenz von „Ökozid“ ist also symmetrisch zur Tendenz von „Schlageter“ konstruiert. Wird hier über die Demütigung durch die Versailler Reparationszahlungen und die Feigheit der Deutschen lamentiert, so wird heute ein Gerichtsverfahren imaginiert, das die deutsche Politik zum Schuldigen erklärt, der seinen Wohlstand aufgeben muss, um die weltweiten Schäden zu reparieren.

In der Tiefenstruktur der Dramaturgie sind sich beide Tendenzdramen mit unterschiedlichen Vorzeichen also gleich. Das deutsche Publikum wird in seinen jeweiligen moralischen Sehnsüchten befriedigt. Bestand die nationalsozialistische Lust darin, sich in der Demütigung zu suhlen, um damit Rachephantasien aggressiv zu füttern, so badet der Zeitgenosse in dem moralischen Triumph, dass die ganze Welt noch immer an seinem Wesen genesen solle.

Klischeehafte Konflikte 

In welche künstlerischen Sackgassen ein solcher Missbrauch des Dramas führt, zeigt sich in dem freudlosen Film von Andres Veiel. Die sachlichen Erkenntnisse über die Fehler der deutschen Politik bleiben unter dem Niveau eines durchschnittlichen Leitartikels. Das Spiel der teils hochkarätigen Schauspieler bleibt routiniert und spröde. Figuren zeichnen sich nicht ab, die Konflikte sind klischeehaft.

Die eigentlich interessante Erfindung einer Welt von 2034 wirkt, inklusive der Plexiglaswände die noch immer (?) die Menschen vor Corona schützen sollen, wie in einem Baumarkt von 2020 zusammengekauft. Der Tiefpunkt der lahmen Inszenierung besteht aber in der moralischen Bräsigkeit, mit der das wichtigste Thema unserer Zeit in die gängigen Schablonen des öffentlich rechtlichen Rundfunks gepresst wird.

Die Kläger sind nur Staffage 

Die Komplexität des Klimawandels wird auf die Frage reduziert, ob zu viele SUVs herumgefahren sind. Und während diese simplen Einsichten ausgebreitet werden, sitzen die Kläger mit dunkler Hautfarbe als traurig blickende Staffage im Hintergrund. Die Bilder erzählen so ihre eigene Geschichte. Die schwarzen und braunen Menschen dürfen nur selten selber sprechen, aber als moralisches Druckmittel stehen sie jederzeit zur Verfügung. 

Jüngst brachte eine interne Umfrage unter ARD-Volontären eine seltsame Einmütigkeit ans Licht. 92 Prozent würden eine grün-rot-rote Regierung wählen. Die Einmütigkeit des Nachwuchses wirft offensichtlich ihren Schatten schon auf die aktuellen Medienmacher. Ein Film über den Klimawandel kann in der ARD wohl nur noch unter klaren politischen Vorzeichen gemacht werden.

Das Drama erzieht sein Publikum zu Mitläufern 

Die Tendenzkunst hat ihre Ursache in einer homogenen Meinungsblase, die Widersprüche nicht mehr zulässt. So wird der Klimawandel mit seinen anspruchsvollen Konflikten und dramatischen Herausforderungen zu einer billigen Kulisse für Halbwissen und Belehrung. Und bei all der Selbstinszenierung als gute Menschen, schrumpft die Welt außerhalb Deutschlands zur sprachlosen Statisterie zusammen. 

Dabei hätte sich die zentrale Erkenntnis des Anthropozäns auch im öffentlich rechtlichen Rundfunk herumsprechen können: Es ist kein deutsches Problem, sondern eines der gesamten Menschheit. Und eines hätten die Erfinder von „Ökozid“ aus der Geschichte des Dramas lernen können: Wer die Form des Widerspruchs dafür missbraucht, um eine Partei triumphieren zu lassen, verrät nicht nur seine Kunst, sondern er erzieht sein Publikum zu Mitläufern.

Und ein Volk von Mitläufern, das dem eitlen Stolz aufs Schuldigsein frönt, ist ebenso unmündig, wie die Menschen, die in den vergangenen Jahrhunderten den Klimawandel durch ihre Lebensweise hervorgebracht haben. Tendenzkunst war noch nie Teil der Lösung, sondern immer Teil des Problems. Insofern müssten die Macher von „Ökozid“ in ihrer eigenen Logik fürchten, dass sie für ihren Film dereinst als Mittäter der Klimakatastrophe angeklagt werden. 

Anzeige