T. C. Boyle - Rock ’n’ Roll im Bücherschrank

Zumindest in der Außenwahrnehmung ist T. C. Boyle einer der wichtigsten Literaten der USA. Das hat auch damit zu tun, dass er Typen wie sich selbst nicht zu ernst nimmt.

Hat die Selbstinszenierung und Leserbindung perfektioniert: T. C. Boyle / Christian Grund
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Autoreninfo

Viola Schenz ist Journalistin. Zuletzt veröffentlichte sie ein Buch über die Oberammergauer Passionsspiele.

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Sam liebt Pizza, Cheeseburger und Limo – Sachen, die Vierjährige eben so mögen. Und er tut Dinge, die Vierjährige so tun – zumindest dann, wenn die Erziehung versagt hat: Cornflakes um sich werfen, auf den Wohnzimmerteppich pinkeln, Wände mit Wachsmalkreide beschmieren. Sein Fehlbetragen wird akzeptiert, im Namen der Forschung; denn Sam ist ein Schimpanse und kann etwas Gebärdensprache, was ihn zum Wissenschaftsphänomen macht. Sam ist der Protagonist in T. C. Boyles jüngstem Roman „Sprich mit mir“. 

Wie die Sache mit der vermeintlichen Menschwerdung eines Affen und Verhaltensforschern, die sich zum Affen machen, ausgeht? Verraten sei so viel: In Boyles Geschichten kämpft meist die Zivilisation mit der Natur, und es siegt die Natur. Satirisch seziert er unsere manischen Seiten, unsere Utopien, gerne anhand historischer Kultfiguren: des Afrika-Erforschers Mungo Park („Wassermusik“), des Gesundheitsapostels John Harvey Kellogg („Willkommen in Wellville“) oder des Sexualforschers Alfred Kinsey („Dr. Sex“).

Der unkonventionelle, gute Amerikaner

Doch wie kam Boyle auf die Story mit Sam, reichten ihm menschliche Absurditäten nicht mehr aus? „Oh nein, die gehen nie aus! Doch einen Roman mit Menschenaffen wollte ich schon lange schreiben. Das Thema Tierversuche treibt mich um, als Schriftsteller beschäftigt mich das große ‚Warum‘ und ‚Wie‘ dahinter.“ Boyle schweigt. Er fragt, ob man den Regen höre, der ans Fenster prassle. Fantastisch sei das, seit Wochen dörre die Vegetation vor sich hin. Der 72-Jährige freut sich über das erlösende Nass wie ein Kind über Schnee. Boyle ist Naturschützer – in seinen Romanen wie im Alltag. Im kalifornischen Küstenstädtchen Montecito wohnt er in einem selbst restaurier­ten Haus von Frank Lloyd Wright. Den Garten hat er in ein Reservat verwandelt, pflanzt Seidensetzlinge für den gefährdeten Monarchfalter. Montecito wurde jüngst von Schlammlawinen zerstört, allein 2018 kamen 23 Nachbarn ums Leben. Familie Boyle blieb verschont, weil Wright das Haus seinerzeit auf einer Anhöhe errichtet hatte. 

Boyle gehört zu den bedeutendsten zeitgenössischen US-Schriftstellern, er verkörpert den unkonventionellen, den guten Amerikaner. In Deutschland hat er die größte Fangemeinde außerhalb der USA, seine Bücher erscheinen erst auf Deutsch, bevor sie im Original auf den Markt kommen. Er ist der Autor zum Wohlfühlen, zum Versöhnen, er macht es seinen Anhängern leichter, das „böse“ und verstörende Trump-Amerika zu mögen. Boyle posaunt seine Empörung über den irrlichternden Ex-Präsidenten regelmäßig raus, „Möchtegerndiktator“, „Desaster für unsere Demokratie“. „Ich tanzte auf den Straßen!“, antwortet er auf die Frage, wie er den Tag der Amtseinführung Joe Bidens verbrachte.

Begnadeter Selbstinszenierer

Thomas Coraghessan Boyle, 1948 im Städtchen Peekskill, New York geboren, Arbeiterherkunft, schwierige Kindheit, die Eltern Alkoholiker, er selbst Herumtreiber, die Highschool fast abgebrochen, Drogen. Er schafft es an die State University of New York, entdeckt seine Leidenschaft fürs Lesen. Literatur läutert ihn, „Schreiben wurde eine Obsession, die ich als Junkie niemals hätte ausleben können“. Doktor in Anglistik, Professur in Kalifornien, Literaturpreise. Seit 1974 ist er skandalfrei mit der öffentlichkeitsscheuen Karen ­Kvashay verheiratet, auf Twitter nennt er sie „Frau B.“.

Wer Abgründe durchwatet, aber den Olymp erklimmt, sammelt genug Stoff für Geschichten. Boyle ist ein Menschen- und Milieukenner und hat sich den Freak aus den wilden Jahren erhalten: die Haarsträhne, die ihm seit Ewigkeit keck ins Gesicht hängt, das Bühnenkostüm aus umgedrehter Baseballkappe und roten Chucks. Wiedererkennungsattribute, die dem schlaksigen „Rockstar der amerikanischen Literatur“ helfen, aus Buchvorstellungen Shows zu machen. Der begnadete Selbstinszenierer weiß, was das Publikum sehen und hören will.

Geheimnisse seiner Kunst

Die Leserbindung hat er perfektioniert – auf Tour wie in den sozialen Medien. Seine Website ist vorbildlich verwaltet, ergänzt um Bilderrätsel, Hund- und Enkelfotos. Ebenso sein Twitter-­Account: Hier dürfen sich seine Follower individuell betreut fühlen. Boyle beantwortet alles freundlich („Love it, Michaela. Rock on“), kumpelhaft („You’re welcome, my rebellious friend“), auch mehrsprachig („Danke, Norm. Frohe Weihnachten to you and Ulli“). 

Wie er sich die Zeit nimmt, möge sein Geheimnis sein. Es muss noch der Garten bestellt und der Hund Gassi geführt werden. Und eigentlich ist er ja bis nachmittags mit Schreiben beschäftigt. Boyle produziert am Fließband – neues Jahr, neues Buch. Dass er darin Gutmenschen und Umweltaktivisten vergnüglich vorführt, und so auch sich selbst, bleibt Teil seiner Kunst.
 

Dieser Text stammt aus der Februar-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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