Zum Tod von Stefan Mickisch - Wagners Wutbürger

Der Wagner-Erklärer Stefan Mickisch ist tot. Es gab nur wenige Nachrufe, dabei könnte sein verrücktes Leben unsere verrückte Welt erklären. Eine Reflexion über Bürgerlichkeit, Tabubruch und die Nähe von Gutem und Bösem.

„Wagners bester Freund auf Erden“ (Stefan Mickisch über Stefan Mickisch) / Peter Rigaud/Laif
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Autoreninfo

Axel Brüggemann ist Musikjournalist und lebt in Bremen. Zuletzt erschien der von ihm herausgegebene Band „Wie Krach zur Musik wird“ (Beltz&Gelberg-Verlag)

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Für ein ordentliches Mitglied eines der weltweiten Wagnerverbände gehörte es zum guten Ton, zur Sommerfrische nach Bayreuth zu pilgern, in die Stadt des „Meisters“, für ein Bad in erquickenden Leitmotiv-Wonnen. Wenn man eine der raren (Ende der neunziger Jahre gab es noch eine elfjährige Wartezeit) Festspielkarten ergattert hatte, wurden Ehegattin und Töchterlein eingepackt, und es wurde für den großen Rausch gelitten. Der Bayreuther Morgen wurde mit einem zackigen „Wach auf!“ begrüßt, der „Grüne Hügel“ bestiegen und Steiß und Wirbelsäule auf dem hölzernen Festspielmöbel auf die Probe gestellt. Kühle Labung und Katharsis verhieß allein das Rheinwasser, das in Fis-Dur aus dem Orchestergraben rauscht.

Zum guten Wagner-Ton gehörte es auch, den zentral gelegenen Goldenen Anker oder das holzgetäfelte Landhotel in der Fränkischen Schweiz vormittags zu verlassen, um vor dem Operngenuss im Festspielhaus jenem kleinen Manne zu lauschen, der mit seinen abgegriffenen, mit Bleistift bekritzelten Klavierauszügen und den mit gelben Post-its tapezierten Büchern am Flügel des Evangelischen Gemeindehauses in Bayreuth Platz genommen hatte und mit wildem Schopf, oberpfälzischer Schnauze und begeistert flinken Fingern dem Publikum erklärte, dass Wagner kein Nazi, sondern eher „ein rot-grüner Pirat“ gewesen sei, warum er wo welche Tonart notierte und welches der 261 Leitmotive er aus welchem Grunde an welcher Stelle bemühte.

Wagners Stellvertreter

Bei diesen Einführungsmatineen mochte sich die Gattin eines Firmenlenkers ein wenig wie Cosima und ihr Mann wie Wagner-Mäzen Otto Wesendonck gefühlt haben. Alles muffte ein bisschen nach bürgerlichem Salon, und der Mann am Klavier gab das Enfant terrible, über den man sprach, dem man (weil Wagner ja tot war) stellvertretend zu Füßen lag – und den man leibhaftig verehrte. 

Tatsächlich war der Mann, der aussah, als wäre er der musikbeflissene, ältere Bruder von Olaf Schubert, eine genialisch-verrückte Naturgewalt, eine Enzyklopädie mit Haut und wenig Haaren, ein Alleswisser und Immerkönner. Während er bei seinen Vorträgen in die Tiefen von Nibelheim abschweifte oder in die Höhen von Walhall emporstieg, nickten die wahren Wagnerianer einander wissend zu und fühlten sich: gut. Der Kauz am Klavier wirkte wie der mit den Rheintöchtern flirtende Zwerg Alberich, der alles für den glitzernden Tonschatz des Komponisten gab und sich und seine Zuhörer an jeder einzelnen Note neu erregen konnte. Er war größenwahnsinnig, klug und grenzenlos, und, so formulierte er es selber, „Wagners bester Freund auf Erden“.

Der Mann, von dem hier die Rede ist, hieß Stefan Mickisch. Er starb am 17. Februar 2021 in seiner Geburtsstadt Schwandorf in der bayerischen Oberpfalz – im Alter von nur 58 Jahren.

Wenig Mickisch, viel Politik

Das Leben von Stefan Mickisch wurde nach seinem Tod hauptsächlich im Schattenreich der Öffentlichkeit gewürdigt. Einer der wenigen Nachrufer war Michael Klonovsky, der persönliche Referent von AfD-Mann Alexander Gauland. Er hatte den Klavierspieler noch in Focus-Jahren kennengelernt und beerdigte ihn nun im Ehrengrab für Systemsprenger. „Dass Mickisch öfter bei den Tendenzbetrieblern aneckte“, schrieb Klonovsky, „lag im Wesen seines Besondersseins. Im Dezember 2020 verübten einige Journalisten und Kulturfunktionäre einen regelrechten Existenzvernichtungsanschlag auf den Künstler, weil der auf seiner Facebookseite einen überzogenen Kommentar zu den Coronamaßnahmen der Bundesregierung geschrieben hatte.“ 

Auch Georg Etscheit ging es in seinem Nachruf für die Internetseite „Die Achse des Guten“ weniger um den Menschen Mickisch als um die aktuelle Corona-Politik, um die Existenzangst von Künstlern und um die These, dass die deutsche Regierung ihre Dichter und Denker in den Tod treibe. Über die Todesursache konnte auch Etscheit nur raunen, aber er kannte die Schuldige an Stefan Mickischs Ableben: Angela Merkel!

Was bei der Lektüre der Nekrologe stutzig macht, ist das Schweigen im überregionalen Feuilleton. Es überließ die Deutung kampflos der politischen Konkurrenz. Waren die Journalisten von Frankfurter Allgemeiner Zeitung, Süddeutscher und Welt etwa düpiert, weil Stefan Mickisch sich gern über sie lustig machte, wenn er Nietzsche zitierte: „Sie erbrechen ihre Galle und nennen es Zeitung“? Oder weil er seinem Publikum gern sagte: „Sie lesen die SZ und meinen, damit ihrer intellektuellen Schuldigkeit Genüge geleistet zu haben, anstatt sich zu bilden“? 

Projektionsfläche Mickisch

Reichte all das schon, damit der Vorzeige-Wagnerianer, die verrückte Muse des Bürgertums, der im Grunde gut gelaunte weiße Wagner-Mann in die Ecke der „angry white men“ rutschte? Wann hat Stefan Mickisch die Grenze vom ironisch konservativen Musikerklärer zum politischen Demagogen überschritten? Wann war er für Walhall endgültig verloren und nach Nibelheim verbannt? Ist das Leben von Stefan Mickisch vielleicht das prototypische Leben eines Bürgerlich-Intellektuellen, der im Kampf gegen das Etablierte vergessen worden und zur willfährigen Projektionsfläche einer neuen Bewegung geworden ist? War Mickisch gar ein Vordenker dieser Bewegung? Ist Stefan Mickisch so etwas wie der Matthias Matussek der Klassik? 

Einen ersten Hinweis gibt vielleicht die Homepage des Wagner-Erklärers. Dort hat sich ein offensichtlich enttäuschter Mickisch öffentlich der Bayreuther Festspielleitung angedient: „Wenn der Fall einer Wiederbesinnung der Bayreuther Festspiele auf WAGNERS OPERN erfolgen sollte“, schrieb er, „und eine Einladung ausgesprochen werden würde, so würde ich in Bayreuth u. U. wieder aktiv werden.“ 

Ich-AG im Wagner-Kosmos

Der Würde-wäre-wenn-Konjunktiv täuscht über das wahre Problem hinweg. Denn auch das Bayreuth vor Katharina Wagner hatte Stefan Mickisch noch nie eine „Einladung“ ausgesprochen. Jedenfalls nicht das offizielle Bayreuth. 1998 hatte Festspielleiter Wolfgang Wagner wohl zugestimmt, dass Mickisch die Einführungen von seinem Vorgänger Erich Rapp übernahm, aber Mickisch selber ließ nie einen Zweifel daran, dass er als unabhängige Ich-AG operierte. Er ließ jeden wissen, dass er keinen Auftrag der Festspiele hatte, dass er von Anfang an nichts mit dem Establishment zu tun haben wollte. Dass er seine Matineen privat und als eigener Veranstalter organisierte. Dennoch wehrte er sich nicht dagegen, wenn er von seinem Publikum als Teil des Festspielinventars wahrgenommen wurde. Stefan Mickisch flirtete immer öfter damit, wagnerianischer als die Wagner-­Festspiele zu sein. Aber die Festspiele hörten nicht auf ihn. Sie entwickelten sich einfach weiter – ohne Mickisch. 

Bayreuth war seit seiner Gründung auf eine intellektuelle Einordnung von außen angewiesen. Einer der ersten Festspielphilosophen, die diese Rolle übernahmen, war der von Wagner geliebte und dann verstoßene Friedrich Nietzsche, der den „Grünen Hügel“ mit seinen pathetischen Hymnen und seinen abgrundtiefen Hasstiraden aufgeladen und für intellektuelle Größen wie Karl Marx, Peter Tschaikowski und später George Bernard Shaw interessant gemacht hat.

Von Hitler auf dem Schoß geschaukelt

Vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten war es das Bürgertum der Konservativen Revolution rund um ihren rechten „Readers-Digest-Vordenker“ Houston Stewart Chamberlain, der die Villa Wahnfried auch für Adolf Hitler zu einem Magneten verwandelte – als Wohnzimmer der nationalen Bourgeoisie.

Letztlich überlebte die Familiendynastie Wagner den Nationalsozialismus und passte sich an das nächste System an, das Deutschland etablierte: die demokratische Bundesrepublik. Die Komponistenenkel Wolfgang und Wieland Wagner, die das Haus von 1951 an leiteten, wurden noch gemeinsam von Adolf Hitler auf dem Schoß geschaukelt. Sie nannten ihn „Onkel Wolf“ und später „U.S.A.“ („unser seliger Adolf“). Die Wagner-Brüder haben in den frühen Nachkriegsfestspielen zwar den Bruch der Familie Wagner mit der deutschnationalen Vergangenheit betont, ahnten aber wohl, dass das konservative Bürgertum der jungen Bundesrepublik noch sehr gern durch den Festspielpark schlenderte, um verzückt vor der Wagner-Büste von Hitlers Lieblingsbildhauer Arno Breker innezuhalten und eine Träne der Bewunderung zu verdrücken. Die begeisterte Nationalsozialistin und Mutter der Wagner-­Sprösse, Winifred Wagner, gab auch im hohen Alter noch Interviews, in denen sie erklärte, dass nicht alles schlecht gewesen sei – damals, unter Hitler in Bayreuth.

Neuer Wind mit Katharina

Als Katharina Wagner die Bayreuther Festspiele 2008 übernahm, war das mehr als das selbstverständliche Fortschreiten des deutschen Opern­adels. Katharina Wagner war radikal, in ihrer ersten Bayreuth-Inszenierung, den „Meistersingern“, zeigte sie, was sie mit der Neuausrichtung der Festspiele meinte. Sie setzte das Bayreuth-Publikum als unterhaltungssüchtige, faschistische Claque in Abendrobe auf die Bühne, inszenierte Hans Sachs als Joschka-Fischer-haften Demagogen und den „ewigen Juden“ Beckmesser als heimlichen Helden. Spätestens jetzt wurde klar: Das Bürgertum, das Bayreuth so gern als Zeitreise ins Gestern begriff, war unerwünscht. Und wer das nicht verstanden hatte, dem halfen die von Katharina Wagner eingeladenen Regisseure auf die Sprünge: Christoph Schlingensief, Sebastian Baumgarten, Hans Neuenfels oder Frank Castorf brauchten keinen Stefan Mickisch mehr, um sich ihren Wagner erklären zu lassen.

Katharina Wagner hatte den Eklat, die Debatte und den philosophischen Diskurs auf die Bühne geholt. Und dann war da noch Angela Merkel! So wie sie die Grünen durch das Abschalten der Atomkraftwerke und die SPD durch die Übernahme ihrer Sozialpolitik schluckte, ersetzte sie als leidenschaftliche Wagner-Liebhaberin mit ihrer alljährlichen Präsenz nun auch den alten Festspielmuff, indem sie Bayreuth zur demokratischen Sommerresidenz der neuen Bundesrepublik Deutschland verwandelte und den roten Teppich für ihre europäischen Kollegen auslegte.

Stefan Mickisch saß derweil im Evangelischen Gemeindehaus und verstand die Welt nicht mehr. Der einstige Hüter des Wagner-Grals schrumpfte im Schatten des neuen Bayreuth zu einer nostalgischen Karikatur. Er spickte seine Vorträge immer öfter mit Anthroposophie und Esoterik, referierte über Sternzeichen und Tonarten und führte leidenschaftliche Exkurse über Rudolf Steiner. Mickisch entwickelte sich zu einer Art Rainer Langhans der Wagnerianer: ein Alt-68er-Antipode, der im Fluss der Zeit mit dem Image seiner einstigen Gegner verschmolz.

Mickisch vs. Bayreuth

Es muss in dieser Zeit gewesen sein, dass Mickisch sich zutiefst verletzt gefühlt hat. Er spielte plötzlich keine Rolle mehr für „die da oben“, die „auf dem Hügel“. Er habe da nichts „dreinzureden“, ließ er auf seiner Homepage wissen. Der neue Wotan hieß Katharina und hatte für den alten Alberich im Tal nicht viel übrig. Mickisch hätte sich als kritischer Geist einmischen können, hätte sein Gegenprogramm unabhängig von den Festspielen veranstalten können. Aber er war gekränkt und zog es vor, mit großer Lust an jede Ecke des Festspielhauses zu pinkeln. Statt „Bayreuth und ich“, hieß es nun „ich gegen Bayreuth“. Es ging um die größenwahnsinnige Frage, wer als wahrer Wagnerianer aus diesem Kampf hervorgehen würde, die Festspiele oder Stefan Mickisch. Damals wuchs auch die innere Wahrheit des Stefan Mickisch exponentiell zur äußeren Wahrheit.

Mickisch erhob Facebook, Youtube und seine Homepage zum Schlachtfeld. „Es ist richtig, daß seit 2004 (Schlingensief) und in der Folge den Produktionen von Katharina Wagner ‚Meistersinger‘, ‚Tristan‘ das Publikum berechtigterweise immer mehr ‚litt‘, und langsam aber stetig die Festspiele dispensierten“, schrieb er, „wertvolles Publikum brach weg oder kam nur noch zu meinen Vorträgen, viele ‚weinten sich bei mir aus‘ …“ 

Die Festspielleitung reagierte natürlich nicht. Aber das Evangelische Gemeindehaus in Bayreuth wurde nun zum Hotspot der neuen Wut-Opern-Bürger. Man kam zu Mickisch, um sich seines eigenen Frustes auf das Regietheater und das „System Merkel“ zu vergewissern. Mickischs Vorträge wurden zu einer analogen Social-Media-Blase, eine Wagner-­Bubble, in der es darum ging, sich möglichst öffentlichkeitswirksam und immer enthemmter über das Geschehen am „Grünen Hügel“ zu echauffieren. Man fühlte sich als Opposition qua eigener Wahrheit. Als Gemeinschaft von Gralshütern, die das Gestern gegen das Heute verteidigen. Stefan Mickisch stilisierte sich zum intellektuellen Riesen und oppositionellen Vordenker dieser Gruppe – und wurde dafür gefeiert.

Bayreuther Festspiele auf dem Abstieg

Mit welchen real existierenden Problemen die Festspiele und Katharina Wagner derweil zu kämpfen hatten, interessierte im Gemeindehaus niemanden. In jeder Provinz schossen inzwischen Klassikfestivals aus dem Boden, von Schleswig-Holstein bis Mecklenburg-Vorpommern. Auch kleinste Stadttheater konnten mittlerweile einen 16-Stunden-„Ring“ mit erstklassigen Sängern und namhaften Regisseuren stemmen. Die Wagner-­Verbände waren überaltert, der musikalische Nachwuchs fehlte, Musik bekam immer weniger Fernseh- und Radiopräsenz. 

Dazu kamen die veralteten Strukturen und der Dauerstreit zwischen Bund, Land, Stadt und den (überalterten) Freunden der Gesellschaft der Bayreuther Festspiele. Die Bayreuther Festspiele konnten nicht stehen bleiben. Sie mussten sich verändern, neu positionieren, sich öffnen und ein moderner Kulturbetrieb werden, der sich um den eigenen Nachwuchs kümmert. Aber während auf dem Hügel kein Stein auf dem anderen blieb, feierten Mickisch und seine Freunde weiterhin jeden Einführungsvortrag als Karneval der Vergangenheit. Die einst revolutionären Einlassungen hatten inzwischen den Charme eines Veteranentreffens mit den abgehalfterten Riesen Fasolt und Fafner.

Unerhört

Und nun verwandelt sich die traurige Geschichte in eine Tragödie. So schön es war, Applaus von Freunden zu bekommen, ging es Mickisch wohl auch um etwas ganz anderes. Wie schon im Brief auf seiner Homepage sehnte er sich noch immer nach einer Reaktion der Festspiele. Wenn er schon keine Liebeserklärung bekam, dann doch wenigstens einen Wutausbruch. Hauptsache irgendeine Reaktion! 

Aber für die Bayreuther Festspiele spielte Stefan Mickisch schon lange keine Rolle mehr. Und als dann auch noch seine Zusammenarbeit mit dem Bayreuther Richard-Wagner-Verein im Jahre 2014 aus unbekannten Gründen endete, wurde der Wagner-Erklärer immer radikaler. 

Misslungene Provokation

Zielsicher bediente er alte Wagner-Reflexe und provozierte besonders gern mit Wagners Antisemitismus. Mickisch versprach, ausgerechnet den Autor des Pamphlets „Das Judenthum in der Musik“ vom Vorwurf des Antisemitismus „reinzuwaschen“. Am 2. November vorigen Jahres nahm Stefan Mickisch in seinem Haus in Schwandorf ein abenteuerliches Youtube-Video auf. Darin saß er vor einer goldenen Leselampe, unter der er einen Haufen von Büchern und Papier angehäuft hatte und Bilder von seinem Treffen mit Angela Merkel. Er holte Geldscheine aus der Tasche und redete wirr über Bestechungsgelder, ließ Exkurs auf Exkurs, Systemkritik auf Systemkritik und Provokation auf Provokation folgen. Ein abenteuerliches Video, das den Zuschauer in einem Taumel von Ungläubigkeit, Staunen und Ekel zurückließ. 

Anhand der Kommentare muss auch dem Wagner-Erklärer klar gewesen sein, dass er sogar für viele seiner Fans zu viele Grenzen überschritten hatte. Besonders, als er Angela Merkel mit Adolf Hitler und Markus Söder mit Joseph Goebbels verglich und auf Facebook immer abenteuerlichere Wuttraktate verfasste, die nun auch die Umweltaktivistin Greta Thunberg und die Grünen in seine feuerbachschen Götterdämmerungs-Phantasien einschloss. Aber Stefan Mickisch hatte noch immer keine offizielle Reaktion bekommen. Also machte er weiter.

Übers Ziel hinaus

Am 13. Dezember 2020 war es dann so weit. Mickisch verfasste einen Facebook-Eintrag, in dem er zunächst Hans Scholl zitierte: „Nichts ist eines Kulturvolkes unwürdiger, als sich ohne Widerstand von einer verantwortungslosen und dunklen Trieben ergebenen Herrscherclique ‚regieren‘ zu lassen.“ Darunter stellte Mickisch exakt dieses Scholl-Zitat als altes Zitat von sich selber: „Nichts ist eines Kulturvolkes unwürdiger, als sich ohne Widerstand von einer verantwortungslosen und dunklen Trieben ergebenen Herrscherclique ‚regieren‘ zu lassen.“ Damit stellte er seinen privaten Kampf gegen die Festspiele und Angela Merkel auf die gleiche Ebene wie den Widerstand gegen Adolf Hitler. 

Seit über einem Jahr hatte Stefan Mickisch nun um eine offizielle Reaktion gebettelt und gegen wagnersche Würdenträger geschossen. Nun platzte ausgerechnet dem wohl konservativsten Wagner-­Offiziellen der Kragen: Sven Friedrich leitet das Haus Wahnfried und damit das Wagner-­Museum und das Wagner-Archiv seit 1993. Er ist Gralshüter qua Amt. Einer, der es liebt, mit seinem Konservatismus zu provozieren, der Spaß daran hat, im Fernsehen zu poltern, dass er gern „Negerkuss“ sagt und Pippi Langstrumpf weiterhin ins „Taka-Tuka-­Land“ zu den „Hottentotten“ segeln lassen will. Friedrich ist belesen, klug und provokant. Nur eines ist er noch leidenschaftlicher als konservativ: ein Humanist.

Klare Demarkationslinie nach rechts außen

Wessen Schreibtisch heute im ehemaligen Bayreuther Schlafzimmer von Adolf Hitler steht, weiß, dass sein Job eine ewige Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus sein muss. Und dass jedes noch so kleine Verständnis für die Schoah oder die mörderische Diktatur Hitlers dem rechten Rand in Bayreuth Tor und Türen öffnen würde. Sven Friedrich führt das Haus Wahnfried mit neobürgerlicher Noblesse wie einen intellektuellen Privatsalon und zieht immer wieder klare Demarkationslinien nach rechts außen.
Auch deshalb hatte er gar keine andere Wahl. Sven Friedrich antwortete mit einem offenen Brief auf Facebook: „Herr Stefan Mickisch! Wir kennen uns jetzt seit gut 20 Jahren. Ich habe Sie als humorvollen und witzigen Interpreten und Erklärer Wagners kennen und schätzen gelernt. Aber was in aller Welt ist Ihnen bloß zu Kopfe gestiegen? (…) Indem Sie die Worte Hans Scholls im gegenwärtigen Zusammenhang der Corona-Pandemie zu Ihren eigenen machen, schänden Sie nicht nur das Andenken eines der wenigen Zeitgenossen im 20. Jahrhundert, auf die wir stolz sein können, sondern missbrauchen ihn auch noch als vermeintlichen Zeugen für den geistigen Abschaum der Gegenwart, mit dem Sie sich so gemein machen und in eine Reihe stellen. Und Sie stellen damit unsere Regierung auf eine Stufe mit dem NS-Regime. Damit ist das Maß für mich persönlich endgültig voll!“ Sven Friedrich schloss mit den Worten: „In einer Mischung aus Traurigkeit und Zorn entziehe ich Ihnen hiermit (und übrigens zum ersten Mal in meinem Leben) das vertrauliche ‚Du‘ und erkläre Sie zur persona non grata im Haus Wahnfried!“

Opfer der Wagner-Dynastie

Schon in den achtziger Jahren hatte Mickisch immer wieder um die Gunst des Wagner-Museums gebuhlt, war zeitweise sogar mit der Tochter von Friedrichs Vorgänger, Manfred Eger, liiert. Und nun brach ausgerechnet Sven Friedrich den heiligen Wagner-Speer über ihm. Fortan waren die Rollen im Mickisch-Kosmos klar verteilt: Die Wagner-Autoritäten waren Verräter, und er ihr Opfer. „Bayreuth erteilt Mickisch Hausverbot“ ist zwar eine falsche Überschrift, aber sie klang so gut, dass sie Ende Dezember durch die ganze Wagner-Welt ging. 
Dann wurde es still um Stefan Mickisch.

Sein Narrativ von ihm, dem Guten, und den anderen, den Bösen, überlebte Mickisch um einige Tage. Seine Kritiker wurden mit gut koordinierten Shitstorms, Verleumdungen und Beschuldigungen gejagt. Dann folgten die einschlägigen Nachrufe. Die großen Feuilletons wollten sich die Finger nicht schmutzig machen, und im Festspielhaus hüllte man sich ebenfalls in Schweigen. Erst wurde nicht mehr miteinander gesprochen, jetzt nicht einmal mehr übereinander geredet – nicht einmal schlecht.

Was bleibt?

Die Facebook- und Internet-­Seite von Stefan Mickisch wurde inzwischen „ausgemistet“, das Video vom 2. November 2020 ist nur noch privat zugänglich. Mickisch wird übrigens nicht in seiner Heimat Schwandorf begraben und auch nicht in Bayreuth. Als letzte Ruhestätte wünschte er sich Wien.

Und was bleibt? Wie so oft in diesen Tagen: viele Verlierer. Und die Erinnerung an bessere Tage. Aber auch die Erkenntnis, dass das Morgen nicht unbedingt schlechter sein muss, wenn es nicht das Gestern sein soll.
 

Dieser Text stammt aus der April-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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