Der Flaneur - Von der Rettung des Planeten

Wir alle lieben moralische Symbolhandlungen. Ich zum Beispiel habe die Gewohnheit, beim Zähneputzen mit hingebungsvoller Gründlichkeit die letzten Reste aus der Zahnpastatube herauszudrücken. Aber retten wir damit den Planeten?

Erschienen in Ausgabe
„Vielleicht werden künftige Generationen unsere Epoche als die der kleinen moralischen Häppchen bezeichnen.“
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Autoreninfo

Stefan aus dem Siepen ist Diplomat und Schriftsteller. Von ihm erschien zuletzt im Verlag zu Klampen „Wie man schlecht schreibt. Die Kunst des stilistischen Missgriffs“. (Foto: © Susanne Schleyer / autorenarchiv.de)

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Letztens bei einer Dienstreise nach Brüssel. In der Eingangshalle eines Gebäudes der Europäischen Kommission sehe ich ein Schild: „For your health and the planet: Take the stairs.“ Ich habe einen Termin im fünften Stock, und die Treppe zu benutzen, mit Mantel und Aktentasche, scheint mir ein zu großes Opfer, selbst für die Erde – also steige ich in den Aufzug. Während ich in die Höhe schwebe, grübele ich über den Spruch nach, und beim Aussteigen habe ich mir zwei konträre Deutungen zurechtgelegt. Erstens: Die Menschen haben es aufgegeben, im Großen etwas bewirken zu wollen, sie suchen ihr Heil im Kleinen, auf Graswurzelniveau. Die Politik hat ihren Kredit verspielt, denn sie bringt nichts zustande, also werden die Bürger selbst aktiv. Dabei sichern sie sich, listig wie sie sind, gleich noch einen Vorteil. Das Keuchen im Treppenhaus verhindert den Herzinfarkt.

Moralische Symbolhandlungen

Zweitens, weniger freundlich: Welche Naivität! Glaubt wirklich jemand, der Planet könne gerettet werden, wenn ein paar mehr Menschen die Treppe benutzen? So billig ist es nicht zu haben! Erst richtet der hybride und ichversessene Mensch den Planeten zugrunde, dann gibt ihm dieselbe Hybris, nur mit umgekehrtem Vorzeichen, die Idee ein, er könne auf lässige Weise, einfach durch Treppensteigen, den Planeten auch wieder retten. Kleiner Mann ganz groß!

Wir alle lieben moralische Symbolhandlungen. Ich zum Beispiel habe die Gewohnheit, beim Zähneputzen mit hingebungsvoller Gründlichkeit die letzten Reste aus der Zahnpastatube herauszudrücken. So beweise ich mir, dass ich ein sparsamer und gewissenhafter Mensch bin, und beruhige mein Gewissen. Seit ich in Brüssel war, macht mir das Drücken und Quetschen noch größeres Vergnügen: Die geleerte Tube wandert in die Gelbe Tonne und rettet die geschundene Erde. Danach ist mein Gewissen in so blendendem Zustand, dass ich unbekümmert ins Auto steigen und große Mengen CO2 emittieren kann.

Weltrettung in bequemen Portionen

Vielleicht werden künftige Generationen unsere Epoche als die der kleinen moralischen Häppchen bezeichnen. Überall ist dieses elegante Prinzip am Werk. So stellen die Deutschen etwa ihre leeren Flaschen neben die Mülleimer, damit sie von den Obdachlosen aufgesammelt werden. Mit diesem Trick kann der Moralbewegte, ohne sich im Geringsten anzustrengen, die Armut in den Städten beseitigen, und nebenher wird er noch seine Flaschen los. Lustigerweise tragen dieselben Moralisten auch gern einen Pappbecher mit Kaffee durch die Straßen. Allein in Berlin fallen täglich 500 000 Becher an, die nicht wiederverwertet werden können, sondern verbrannt werden müssen. Der Kaffeetrinker sagt sich: Was macht schon mein einzelner Becher – den kann der Planet ertragen!

Vieles wird heute auf geschickte Art zerkleinert, in mühelos bequeme Portionen verpackt. Statt Büchern liest man Internet-Schnipsel. Chats und Tweets enthalten nur ein paar Sätze, die Sätze nur ein paar Sinnpartikel. Beim Crowdfunding zahlen viele so gut wie nichts. Arbeitsverträge werden nur für zwei Jahre geschlossen. Reisen um die halbe Welt dauern nur ein paar Tage. Autos leiht man sich für ein paar Stunden … Es wäre reizvoll, einmal alles und jedes aufzuzählen, was zerstückelt und atomisiert wird. Doch leider muss ich darauf verzichten – der Platz auf dieser Seite ist ausgeschöpft, die vorgegebene Zeilenzahl erreicht. Auch die Kolumne ist eben nur ein Häppchen. Wie schade! Ich hoffe dennoch, dass sie den Planeten rettet.

Dieser Text stammt aus der Dezember-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Online-Shop erhalten.















 

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