Stadtgespräche im November - Christliche Werte in der CDU und kein Bock auf Kenia in Sachsen-Anhalt

Berlin profiliert sich als Hauptstadt der Superlative: Das Komödiantische hat Konjunktur, ebenso das Sicherheitsgewerbe – was fehlt, ist eine Automesse

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Unsere Stadtgespräche im November
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Es ist ein Kreuz
Gerade hatte der Vorsitzende der Jungen Union, Tilman Kuban, auf dem Deutschlandtag in Saarbrücken seine Rede beendet, da trat ein ­JU-ler ans Mikrofon, der etwas aus der Zeit zu fallen schien. Tatsächlich erklärte der nicht mehr ganz junge Mann, dass er altersbedingt aus der JU ausscheide und deshalb ein Abschiedsgeschenk mitgebracht habe. Ihm liege das C am Herzen, deshalb habe er aus einem alten Weinfass ein Kreuz anfertigen und vom Freiburger Erzbischof weihen lassen. „Wann wird das Kreuz aufgestellt?“, fragte er herausfordernd. Kuban stieg von der Bühne, sagte ins Mikrofon: „Morgen!“ – und trug das meterhohe Kreuz davon. Inzwischen steht es im Besprechungsraum der Berliner JU-Zentrale und wartet auf den Mutigen, der den Nagel einschlägt. Moritz Gathmann

Beim Edel-Italiener 
Dreiundachtzig Mitglieder der Bewegung Extinction Rebellion, die im Oktober versuchte, zur Rettung des Klimas Berlin lahmzulegen, kehrten nach getaner Arbeit am 10. Oktober beim Edel-Italiener Centro Sud in Berlin-Schöneberg ein. Doch wer sich nun auf eine Fortsetzung des Narrativs „Wasser predigen und Wein trinken“ freut, den erwartet eine bittere Enttäuschung. Die Weltretter badeten weder in Trüffelöl noch in sizilianischen Rotweinen. Wie Restaurant-Chef Salvatore Pisani mitteilt, gab es pro Tisch eine Schüssel mit Pasta und stilles Wasser. Kostenpunkt: zehn Euro pro Person. Um 21 Uhr seien die Gäste gekommen, um 21.45 Uhr waren sie wieder weg. Immerhin, bis auf wenige vegane Ausreißer ließen sich alle ihre Carbonara („mit Speck“) schmecken. Moritz Gathmann

Boom der Komödie
Dass Berlin kein gespielter Witz sei, behaupten nur hauptberufliche Kommunalpolitiker. Diese Zahlen überraschten aber doch: Noch vor dem Ende des Kalenderjahrs 2019 gab die Senatsverwaltung für Kultur auf Basis der bisherigen Ticketverkäufe ein Ranking der beliebtesten subventionierten Berliner Bühnen bekannt. Weit vorne rangiert der Friedrichstadtpalast mit 550 000 Besuchern, gefolgt von den Berliner Philharmonikern und der Deutschen Oper. Bereits auf Rang 6 landet die Komödie am Kudamm, die nach dem Abriss ihres Stammhauses im Schillertheater Unterschlupf fand und dort 167 000 Zuschauer an sich zog – mehr als Berliner Ensemble, Deutsches Theater, Schaubühne oder Volksbühne. Ihren Ruf als Humormetropole hat die Hauptstadt damit gefestigt. Alexander Kissler

Kein Bock auf Kenia
Das in Deutschland bislang einzige Kenia-Bündnis aus Grünen, Sozial- und Christdemokraten in Sachsen-Anhalt soll derzeit Schablone sein für die Koalitionsverhandlungen in Brandenburg und Sachsen. Aber die Landesregierung aus Magdeburg möchte ihre Vorbildrolle im Osten offenbar nicht mehr ausfüllen. Wie es aus Regierungskreisen heißt, sollen etliche Landesminister schlicht keine Lust mehr haben, sich in der Landespressekonferenz den Fragen von Journalisten zu stellen. Dabei gäbe es viel zu besprechen. „Leider hat die Landesregierung in den vergangenen Monaten immer wieder die Einladungen der Landespressekonferenz ausgeschlagen, ihr politisches Handeln transparent zu machen“, beschwerte sich nun der Vorstand der LPK in einem offenen Brief. Zwar hatte die Haseloff-Regierung einigermaßen ausführlich nach dem Anschlag von Halle informiert, ansonsten scheint aber nichts mehr zu passieren. Außer dem Bildungsminister Marco Tullner (CDU) und der Umweltministerin Claudia Dalbert (Grüne) lässt sich kein Verantwortlicher blicken. „Beim Haushalt kommen wir keinen Meter voran“, heißt es in Regierungskreisen, „aber der Finanzminister will das nicht erläutern.“ Die ganze Regierung wirke derzeit „lustlos und pomadig“. Was mancher als zukunftsträchtige Koalition der Mitte verkaufen möchte, an Saale und Elbe könnte sie bald Vergangenheit sein. Bastian Brauns

Schluss mit lustig
Autos kennen in Berlin zwei Aggre­gatszustände: Sie rasen oder sie stehen. Nachts werden die innerstädtischen Tangentialen zu Rennbahnen für Männer mit Testosteronüberschuss, ob mit, ob ohne Todesfolge. Zum Ausgleich darf der Verkehr am Tag ruhen. Die Straßen sind verstopft, weil Baustellen mit Ewigkeitsgarantie das Straßennetz verknappen, oder sie sind lahmgelegt. Irgendwo wird immer demonstriert, mal gegen den Kapitalismus, mal für den Antikapitalismus. Sollte sich dem Pkw eine Lücke bieten, wird er durch die Lokalpolitik gebremst. Das Auto ist der Hauptfeind der Regierung. Ihm rückt sie mit Tempodrosselung, Begegnungszonen, Fahrbahnverengungen zuleibe. Vor diesem Hintergrund wagte der Regierende Bürgermeister Müller den Befreiungsschlag und warb für die Übersiedlung der Internationalen Automobilausstellung. Immerhin erblickte der Vorläufer der IAA 1897 in Berlin das Licht der Welt. Dass der Rückgang der Aussteller für die Frankfurter Messe eine Krise bedeutet, bestreitet niemand. Sollte man das Format ganz zu Grabe tragen wollen, empfiehlt sich tatsächlich Berlin. Hier weiß die Demonstrationselite, wie man antihedonistischen Rabatz macht. Und Berlins kollektivismusgestählte Politiker können im Schlaf das Lied singen vom Individualverkehr als Irrweg der Schöpfung. Man müsste die Messe dann nur umbenennen: RIP, Auto. Alexander Kissler

Schöner pollern 
Schönheit oder Sicherheit, das ist hier die Frage: Berlin hat sich entschlossen, Letzterer den Vorrang zu geben, man ist Hauptstadt und somit meilenweit entfernt vom Credo der Provinzler, „unser Dorf“ solle schöner werden. Unsere Kapitale will sicherer werden, denn die terroristische Bedrohung weicht nicht. Darum erklärte Innensenator Andreas Geisel (SPD) den durch Poller und Gitter verschandelten Breitscheidplatz, Schauplatz des islamistischen Anschlags von Dezember 2016, zum sicherheitsarchitektonischen Vorbild. Sage und schreibe 18 öffentliche Plätze sollen zur Terrorprävention umgebaut werden, von Alexanderplatz und Gendarmenmarkt hin zu Hackeschem Markt und Brandenburger Tor – berichtete die Morgenpost. Geisel selbst bestätigte nur das Humboldtforum als nächsten Ort öffentlicher Gefahrenabwehr und griff tief in die Phrasenkiste: „Wir dürfen uns unsere Art des Lebens nicht nehmen lassen.“ Künftig aber wird der Gang durch Berlin einer Leistungsschau des Sicherheitshauptgewerbes gleichen, vorbei an Überfahrsperren, Steinkübeln, Betonpollern und lustigen Verkleidungen. Bunt und weltoffen bleibt die Stadt, und sei es um den Preis ihrer Verbunkerung. Der Berliner wird es ertragen wie alles, was Berlin ihm zumutet. Nur die Gäste werden sich wundern und beim nächsten Mal vielleicht einen Bogen machen um diese gefährdete Stadt. Alexander Kissler

Dieser Text ist in der November-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

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