Shortlist Deutscher Buchpreis - Identität, wo findet man dich?

Die Shortlist für den Deutschen Buchpreis verzichtet auf unkonventionelle und avantgardistische Kandidaten. Aber sie zeugt von einem guten Kompromiss und bildet den State of the art der Gegenwartsliteratur ab.

Bücherstapel in einer Buchhandlung / dpa
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Autoreninfo

Björn Hayer ist habilitierter Germanist und arbeitet neben seiner Tätigkeit als Privatdozent für Literaturwissenschaft als Kritiker, Essayist und Autor.

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Die große Überraschung, die unkonventionelle Wahl blieb aus: Die Jury zur Verleihung des diesjährigen Deutschen Buchpreises hat eine Shortlist zusammengestellt, die auf renommierte Namen und aktuelle Themen setzt. Zwar hat man bei den sechs Titeln die Geschlechterparität gewahrt, allerdings finden sich unter den Verlagen mit Hanser, Suhrkamp, S. Fischer und Kiepenheuer & Witsch lediglich die Big Player der Branche wieder. Kleinere, zuletzt noch auf der Longlist vertretenen Häuser wie Klett-Cotta, Wallstein oder der Leykam Verlag fielen weg, genauso wie all jene Titel, die sich einer experimentelleren Ästhetik bedienen. Prämiert wurden stattdessen nicht minder virtuose Bücher mit starkem erzählerischen Gestus, Bücher über Charakterentwicklungen und allen voran Bücher, die von Suchenden berichten.

So etwa Norbert Gstreins „Der zweite Jakob“ oder Thomas Kunsts „Zandschower Kliniken“. Während der Protagonist in ersterem, ein Schauspieler im Fieber dunkler Erinnerungen, um den Kern seines Ichs ringt, wagt der Held des zweiten Romans den Aufbruch ins Ungewisse und landet in dem titelgebenden Ort im Norden, der sich als utopisches Erprobungsfeld erweist. Pendelnd zwischen reichlich skurrilem Humor und elegischem Timbre verhandelt der Autor hierin ein visionäres Gegenbild zum DDR-Sozialismus.

Was prägt uns?

Wie ist man zu dem geworden, der man ist? Was prägt uns? Welche Rolle spielt die eigene Familie für unseren Lebensweg? Diese Fragen stehen vor allem im Zentrum gleich zweier Werke, in denen sich Schriftsteller mit ihren Eltern auseinandersetzen. Monika Helfers autobiografischer Entwurf „Vati“ kreist mit lakonischer Wortökonomie um ihren wenig redseligen Vater. Früh verlor der Kriegsheimkehrer seine Frau und wurde dadurch zu einem gebrochenen Mann, still und von der Welt abgewandt.

Im Fall von Christian Krachts „Eurotrash“, eine Art Fortsetzungsstory seines frühen Erfolgsromans „Faserland“, lebt die Mutter noch. Wenn sie nicht gerade Beruhigungsmittel schluckt, trinkt sie literweise Wodka. Nachdem sie in diesem Dauerdelirium ihren Sohn allerlei Tiraden aussetzt, durchbricht er nun die Spirale der Vorwürfe und entführt die Drama Queen aus ihrer miefigen Plattenwohnung. Sie will nach Afrika, er fährt sie in die Berge, wo es ans Eingemachte geht: den Umgang der Mutter mit ihrem Vater, der als Untersturmführer der SS tätig war.

Traum von einer besseren Zukunft

Die einen Bücher durchforsten die Vergangenheit, andere träumen von einer besseren Zukunft. Und wieder andere klopfen die Gegenwart auf politische Verkrustungen und gesellschaftliche Machtstrukturen ab. So widmet sich Antje Rávik Strubel in „Blaue Frau“ erneut ihrem Hauptthema, nämlich der Unterdrückung von Frauen durch das Patriarchat. Nachdem ihre Hauptfigur, die junge, aus Osteuropa stammende Adina, vergewaltigt wurde, zieht sie sich mehr und mehr in sich zurück und findet in der finnischen Landschaft einen stillen Zufluchtsort. Road-Novel, Porträt und Gesellschaftsanklage finden in dieser in Teilen etwas zu lang geratenen, aber letztlich dichten Komposition zusammen.

Gleißende Satire

Was Rávik Strubel verhandelt, mögen viele neudeutsch unter dem Schlagwort „Identitätspolitik“ subsummieren, zu der Mithu Sanyal eine gleißende Satire vorlegt. In „Identitti“ gibt sich eine Düsseldorfer Professorin und Koryphäe auf dem Gebiet der Postcolonial Studies als People of Color aus, hat sich dafür sogar die Haut verdunkeln lassen. Natürlich wird der Fake entlarvt und dabei eine Menge theoretischer Debattenstoff auf erfrischende Weise über die Seiten gewirbelt.

Nach der Lektüre der sechs Nominierten befindet man sich ganz auf dem State of the art der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, die neben dem Politischen genauso das Individuelle und Private auslotet. Gewiss vermisst man bei der Auswahl ein wenig die Avantgarde und zumindest einen Text, der so ganz mit allen Erwartungen bricht. Es zeigt sich: Am Ende operieren Jurys demokratisch und einigen sich auf einen Kompromiss. Man darf ihn nur nicht, wie die allesamt lesenswerten Kandidaten belegen, mit Mittelmaß verwechseln.

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