Serie: Bildungsmisere, Teil 3 - „Meisterschaft“ ist nur noch in der Bundesliga etwas wert

Die Gruppe der leistungsstärksten Schüler ist in Deutschland viel kleiner als in anderen Ländern. Der Grund: Hierzulande gilt Leistung als elitär und wird auch sonst kaum honoriert. Für gute und gutwillige Lehrer wird der Unterricht damit zum Minenfeld.

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Autoreninfo

Miriam Stiehler leitet eine private Vorschule sowie eine Praxis für Förderdiagnostik und Erziehungsberatung. Sie studierte Sonderpädagogik und promovierte in heilpädagogischer Psychologie. Als Dozentin befasst sie sich mit den philosophischen und wissenschaftlichen Grundlagen von Bildung, als Autorin stellt sie auf www.WissenSchaffer.de Fachtexte und systematisch erprobtes Lernmaterial zur Verfügung. Zuletzt von ihr erschienen: „AD(H)S - Erziehen statt behandeln“.

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Seit 25 Jahren befindet sich das deutsche Bildungswesen in einer Abwärtsspirale. Die jüngsten PISA-Ergebnisse markieren den bisherigen Tiefpunkt. Man hat sie schnell durch Migration und Lockdown erklärt, doch das greift zu kurz. Vom Kindergarten bis zum Abitur hat ein ideologisch begründeter Wandel stattgefunden, der die Qualität von Erziehung und Unterricht gesenkt hat. Die Einstellungen der Bildungspolitiker und -forscher müssen sich ändern, damit unsere Kinder wieder etwas Handfestes lernen können. In einer fünfteiligen Serie erklärt die Sonderpädagogin und heilpädagogische Psychologin Miriam Stiehler, woher diese Fehlentwicklungen kommen, wie sie sich auf Schüler auswirken und was sich ändern muss. Dies ist der dritte Teil der Serie. 

Wissen Sie, wie Begabtenförderung in der Schule aussieht? „Du darfst von zu Hause ein Buch mitbringen, das du liest, wenn du wieder vor allen anderen fertig bist. Aber vertief dich nicht zu sehr! Es ist schließlich nicht mein Job, dir ein Zeichen zu geben, wenn der Unterricht weiter geht!“ Wer sich kein teures Internat leisten kann, muss sich in der Regel mit solchen Brosamen begnügen. Selbst wenn ich den Lehrkräften meiner Klienten fertige Mappen mit zusätzlichen Übungen aushändige, bleiben diese meist ungenutzt liegen.

Nun ist nicht jeder Hochbegabte ein Hochleister, und nicht jeder, der viel leistet, ist außerordentlich begabt. Manche sind auch einfach fleißig. So oder so: Leistungsorientierung gilt in Deutschland seit einiger Zeit als elitär. Lehrer mögen leistungsstarke Schüler, weil sie im Notfall immer die ersehnte Antwort wissen, und weil man sie als Hilfslehrer neben schwache Schüler setzen kann. Aber engagierte Lehrer, die Hochleister wirklich fördern, sind eine Seltenheit. PISA zeigt erneut: Die Gruppe der leistungsstärksten Schüler ist in Deutschland viel kleiner als in anderen Ländern. Neben ideologischen Gründen gibt zwei ganz konkrete Erklärungen für die mangelnde Leistungsorientierung in Deutschland.

Lehrer mögen homogene Gruppen

Erstens: Lehrer mögen homogene Gruppen. Eine Klasse ist umso leichter zu unterrichten, je weniger unterschiedlich die Kinder sind. Insbesondere in der Grundschule sind noch alle Kinder vom grenzwertig Lernbehinderten bis zum Höchstbegabten vertreten. Daher ist es sehr anstrengend, hier allen gerecht zu werden. Die kurzsichtig beschlossene Inklusion bringt mehr Unruhe in die Klassen, da nun auch Kinder im Regelunterricht sitzen, die an der Förderschule besser aufgehoben waren. Zusätzlich bringen sie nicht selten ihre persönlichen, in aller Regel unqualifizierten Schulbegleiter mit. 

So kommt es, dass die meisten Lehrkräfte bestenfalls die Schwachen fördern. Nicht nur, weil die es „am nötigsten haben“. Sie unterlassen es, die Begabten zu fördern, weil mehr Homogenität entsteht, wenn die Schere sich ein wenig schließt. Wenn man schwache und starke Schüler gleichermaßen fördert, bleibt die Schere weit geöffnet; sie verschiebt sich nur insgesamt. Das ist für die Schüler angemessen, aber für die Lehrkraft besonders aufwändig. 

Ein Ausweg wäre es, von Anfang an in einem durchlässigen, aber gegliederten Kurssystem zu arbeiten: Statt dreizügiger Klassen (z.B. 3a, 3b, 3c) gäbe es (Basis-Mathe, Mittel-Mathe, Vertieft usw.). Wir bräuchten dafür kein zusätzliches Personal. Jede Lehrkraft könnte den Kurs wählen, der ihr am meisten liegt. Der Schulalltag würde für Schüler wie Lehrer effizienter und leichter handhabbar. Die oben beschriebene Ideologie, derzufolge wir Unterschiede vertuschen müssen, statt sie offen zu betrachten, verhindert dies jedoch.

Bei den Schwachen gibt es solche und solche

Zweitens: Bei den Schwachen gibt es solche und solche. In den letzten Jahrzehnten haben Diagnosen wie Legasthenie, Dyskalkulie und AD(H)S durch die zunehmende Medikalisierung von Bildung und Erziehung inflationär zugenommen. In den 1970ern gründeten Hausfrauen aus dem weißen amerikanischen Suburbia-Mittelstand entsprechende Lobbygruppen, um die schwachen Schulleistungen ihrer Kinder prestigefreundlich zu erklären: Per Definition sind Legastheniker und Rechenschwache nicht intelligenzgemindert – während in den 1970ern schwarze Kinder aus Ghetto-Vierteln bei gleichen Leistungen als lernbehindert eingestuft wurden. Bei beiden Gruppen hätte man lieber die Unterrichtsqualität, die häusliche Bildung und das Lernverhalten untersuchen sollen. 

Inzwischen ist es tabu, an der Aussagekraft dieser Diagnosen zu zweifeln. Wehe, jemand verweist darauf, dass „Legasthenie-Therapie“ auch heute keine medizinische Behandlung ist, sondern ein qualifizierter und intensiver Privatunterricht im Lesen und Rechtschreiben! Für gutwillige Lehrkräfte ist der Unterricht ein Minenfeld geworden. Es gibt zu viele Ausnahmen vom Normalen, zu viele Kinder, auf deren Sonderrechte und Entschuldigungen für Minderleistung es Rücksicht zu nehmen gilt. Das reicht vom Bub mit Notenbefreiung bis hin zur vermeintlich Hochbegabten, die von Mama folgende Notiz mitbringt: „Lea muss diese Rechenaufgaben nicht erledigen, da sie findet, das ist Pipifax. Sie hat stattdessen ein Bild von der Schule ihrer Träume gemalt.“ 

Eltern wehren sich heutzutage auf so viele Arten und Weisen gegen das Leistungsprinzip, dass es für Lehrkräfte fast unmöglich geworden ist, an ihm festzuhalten. Leistungsorientierung bedeutet auch, für das eigene Tun und Lernen Verantwortung zu übernehmen – das ist das Gegenteil von Medikalisierung. Aber warum fördern wir Leistung nicht, obwohl hochleistende Menschen überproportional viel für die Gesellschaft tun, sei es als Organisatoren der Schülerzeitung, als Steuerzahler, Ehrenamtler, Firmengründer oder Forscher?

Kapitalismus macht Individualismus leichter

Es klingt hier schon an: Wer viel leistet, für den sollte sich das auch lohnen. Wer viel Verantwortung trägt, möchte Spielräume haben, um zu forschen, zu gründen, zu investieren, auszuprobieren. Kapitalismus macht Individualismus leichter. In Deutschland lernt man darüber jedoch wenig, denn unsere Schulbücher behandeln Unternehmertum nur als Randthema und wenn, dann unter dem Aspekt (Um-)Verteilungsgerechtigkeit, nicht aus dem Blickwinkel der Leistungsgerechtigkeit. 

Warum? Weil in Deutschland zunehmend eine kollektivistische Ideologie der „Geschlossenen Gesellschaft“ vorherrscht, die Individualismus als bloßen Egoismus abtut. Wie Karl Popper beschreibt, wurzelt sie in der Philosophie Platons: Wahr und gut und schön ist es, den vom Schicksal (Hinduismus: Dharma, Hegel: Weltgeist, Hitler: Vorsehung) vorbestimmten Platz im Ganzen einzunehmen und nicht, eigene Ziele in Freiheit zu verfolgen. „Wer bin ich wirklich?“ ist wichtiger als „Was sollte ich tun?“. 
 

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Wer seit Dezember mitliest, erkennt diesen Gedanken wieder: Der naturalistische Fehlschluss prägt dank Platon, Hegel und Marx die moderne Pädagogik in vieler Hinsicht. Vermeintlicher Individualismus ist nur für die Randgruppen erlaubt, die heute aus marxistischer Sicht die unterdrückte Arbeiterklasse ablösen, z.B. Menschen mit Störungen der Geschlechtsidentität, mehr oder weniger diskriminierte Minderheiten oder „Aktivisten“, die gerade an einer Revolution gegen die herrschende Klasse arbeiten. 

Wer sich hingegen dadurch auszeichnet, dass er aus eigener Kraft etwas besser kann als andere, braucht die Freiheiten, die eine „Offene Gesellschaft“ bietet. Das erkannte schon Humboldt: „Der wahre Zweck des Menschen […] ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen […] Zu dieser Bildung ist Freiheit die […] unerläßliche Bedingung.“ Dazu kommt die Idee, dass „Adel verpflichtet“, dass ein überdurchschnittlich leistungsfähiger Mensch eine Art Verpflichtung hat, mittels seiner Gaben entsprechend hohe Leistungen zu erbringen.

Das Trauma des 3. Reichs

Doch hier macht dem deutschen Pädagogen das Trauma des 3. Reichs einen Strich durch die Rechnung: Wenn man sich auf den Gedanken einlässt, dass Menschen von Natur aus unterschiedlich leistungsfähig sind, muss man zwangsläufig auch an die weniger Leistungsfähigen denken. Viele anständige Pädagogen sind aufrichtig besorgt, dass es nur ein kleiner Schritt ist vom Eingeständnis der geringeren Leistungsfähigkeit Behinderter zum Gedanken, der Wert des Menschen bemesse sich an seiner wirtschaftlichen oder intellektuellen Leistungsfähigkeit. 

Die furchtbare Nazi-Kategorie vom „lebensunwerten Leben“ wurde ja nicht zuletzt damit begründet, dass schwer geistig oder körperlich Behinderte im Lauf ihres Lebens mehr kosten als sie erwirtschaften. Und in der Tat ist es ohne Rückgriff auf das Christentum schwierig geworden, hier zu argumentieren. Wenn man nicht mehr glauben möchte, dass jeder Mensch als Geschöpf Gottes gleich wertvoll ist, gerät man schnell auf ethisches Glatteis. Also umgeht man die Frage.

Ich meine: Wir müssen uns diesem Gedanken stellen. Wie können wir begründen, dass ein Mensch nicht weniger wertvoll ist, wenn er zeitlebens auf andere angewiesen ist, anstatt für andere sorgen zu können? Dürfen die anderen ihn deswegen in letzter Konsequenz töten, zumindest, solange er wehrlos ist? Das ist keine bequeme Frage, aber eine wichtige, nicht nur im Hinblick auf Abtreibungen. Wir schützen Behinderte nicht vor Diskriminierung, indem wir behaupten, „irgendwie sind wir alle behindert“.

Dem wohnt immer eine Verheißung inne

So schwierig dieses Thema auch sein mag: Es sollte uns nicht glauben machen, das kognitiv oder musisch oder sportlich leistungsfähigere Kind hätte irgendeine Verpflichtung, sich hintanzustellen, bloß weil es von Natur aus schon so gut ausgestattet ist. Dem, was einem Kind gegeben ist, wohnt immer eine Verheißung inne: Das, was es bestenfalls aus seinen Gaben machen kann. Damit sich diese Verheißung erfüllt, braucht es in jedem Fall viel Übung, Selbstkritik und harte Arbeit, sonst wird die Verheißung brach liegen. Aber es gibt eben auch ein Recht auf adäquate Unterstützung.

Außerdem brauchen wir leistungsfähige Menschen, die die Schwachen mitversorgen. Umgekehrt muss man verlangen können, dass jeder sein Bestes gibt, selbst wenn das wenig ist, denn wer Rechte hat, der hat auch Pflichten. Das ist kein böser „Leistungsdruck“, sondern Leistungsgerechtigkeit.

Leistungsorientierung ist notwendig, weil …

  • ... es gut ist, gut zu sein. Wissen ist es wert, dankbar und staunend erworben zu werden. „Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen“ – so falsch ist das nicht.
  • ... begabte Kinder von Anfang an schwierige Aufgaben brauchen, bei denen selbst sie sich wirklich anstrengen müssen. Sonst gibt es regelmäßig ein böses Erwachen um die 5. Klasse herum, da sie es nicht gewöhnt sind, Probleme durchzuarbeiten und fleißig zu sein, sondern immer nur erlebt haben, dass der Durchschnittsstoff ihnen zufliegt. Dann können sie mangels Arbeitsgewohnheiten ihr Potential nicht verwirklichen. 
  • ... ein leistungsorientierter Unterricht ein disziplinierter Unterricht ist. Die Schüler fühlen sich so nachweislich wohler und haben weniger Angst vor Mathematik. In diszipliniertem Unterricht lernen die Schüler mehr, da die Lehrer mehr Zeit zum Erklären haben und die Schüler konzentrierter sind. Schüler sind insbesondere umso besser, je konsequenter die Handynutzung im Unterricht unterbunden wird. Auch der voreilige Einsatz von Quiz-Apps, YouTube usw. sollte hinterfragt werden.
  • ... Leistungsorientierung ein Mittel zur Integration und Überwindung sozialer Unterschiede ist. Soziale Anerkennung durch Leistung ist für Immigranten leichter nachvollziehbar als Popularität durch den richtigen Kleidungsstil, die richtigen Meinungen oder Kreativität. In Ländern wie den USA, Kanada oder Singapur, wo Einwanderung stark mit dem Leistungsprinzip verknüpft ist, schneiden viele ausländische Schüler besser ab als die einheimischen!

Bei uns ist „Meisterschaft“ nur noch im Profifußball erstrebenswert. Beim Schulturnier hingegen bekommen alle eine Medaille, und wie mein Jüngster wutschnaubend feststellt, gilt zusätzlich: „Mädchentore zählen doppelt.“ So motiviert man weder Jungs noch Mädchen, ihr Bestes zu geben.


Literatur:
Breitenbach, Erwin: Das Märchen von der inklusiven Diagnostik. Aying, 2023
Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen [sic] der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851
Mostafa, T., A. Echazarra and H. Guillou: The science of teaching science: An exploration of science teaching practices in PISA 2015, in: OECD Education Working Papers, No. 188. Paris, 2018
OECD: PISA 2022 Band II: Results Learning During – and From – Disruption. Paris, 2023
Schlösser, Hans Jürgen: Marktwirtschaft und Unternehmertum in deutschen Schulbüchern. Berlin, 2017
Stiehler, Miriam: Konzentrationserziehung statt AD(H)S-Therapie. Ein Modell nach Paul Moor. Bad Heilbrunn, 2006.
 

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