Serie: Bildungsmisere, Teil 1 - Warum die Misere schon im Kindergarten ihren Anfang nimmt

Nach 50 Jahren „Situationsansatz“ und Montessori-Einflüssen bestimmen die Kleinsten in der KiTa, aber können kaum mit der Schere schneiden. Ein Großteil ist in Sprach- oder Ergotherapie. Wie konnte es so weit kommen, und was müssen wir ändern?

Vorsicht, Bildung! / Illustration: Dominik Herrmann
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Autoreninfo

Miriam Stiehler leitet eine private Vorschule sowie eine Praxis für Förderdiagnostik und Erziehungsberatung. Sie studierte Sonderpädagogik und promovierte in heilpädagogischer Psychologie. Als Dozentin befasst sie sich mit den philosophischen und wissenschaftlichen Grundlagen von Bildung, als Autorin stellt sie auf www.WissenSchaffer.de Fachtexte und systematisch erprobtes Lernmaterial zur Verfügung. Zuletzt von ihr erschienen: „AD(H)S - Erziehen statt behandeln“.

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Seit 25 Jahren befindet sich das deutsche Bildungswesen in einer Abwärtsspirale. Die jüngsten PISA-Ergebnisse markieren den bisherigen Tiefpunkt. Man hat sie schnell durch Migration und Lockdown erklärt, doch das greift zu kurz. Vom Kindergarten bis zum Abitur hat ein ideologisch begründeter Wandel stattgefunden, der die Qualität von Erziehung und Unterricht gesenkt hat. Die Einstellungen der Bildungspolitiker und -forscher müssen sich ändern, damit unsere Kinder wieder etwas Handfestes lernen können. In einer fünfteiligen Serie erklärt die Sonderpädagogin und heilpädagogische Psychologin Miriam Stiehler, woher diese Fehlentwicklungen kommen, wie sie sich auf Schüler auswirken und was sich ändern muss. Dies ist der erste Teil der Serie. 

Man braucht nur eine Minute, um zu verstehen, was in deutschen Kindergärten schief läuft. So lange dauert ein Werbevideo des Bildungsministeriums. Die kräftige blonde Erzieherin Jenny erklärt Frühpädagogik, während neben ihr Kinder mit Lupen und Kräutern hantieren: „Kinder sind von Natur aus neugierig und wissbegierig. Sie möchten gerne entdecken und losgehen und erstmal fühlen und riechen und schmecken. Das ist eben dieser Situationsansatz, dass man halt einfach schaut, was interessiert die Kinder gerade und daraus dann ein Projekt gestaltet, um ihre Neugier zu befriedigen.“ Dieses Video zeigt verdichtet die Grundprobleme unserer Kindergärten.

Kindergärten als Spielball alternativer Reformer

Des Pudels Kern ist besagter „Situationsansatz“: Es soll keine verbindlichen, geplanten Lernsituationen mit Erwachsenen als Wissensvermittlern mehr geben. Erzieher dürfen nur noch „Angebote“ machen, welche die Kinder nach Lust und Laune ignorieren können. Wer drei Jahre lang nichts malen oder ausschneiden möchte, lernt das eben nicht – verpflichtendes Basteln wäre „übergriffig“, eine böse „Verschulung der Kindheit“.
 

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Das regierungsfinanzierte Deutsche Jugendinstitut (DJI) betrachtet den Situationsansatz bis heute als eine seiner größten Errungenschaften. Er wurde dort Anfang der 1970er Jahre unter der Leitung von Walter Hornstein entwickelt. Hornstein stimmte zu, dass Kindergärten und Schulen „Ausdruck der industriell-kapitalistischen Gesellschaftsform“ seien. Er fand auch, dass „Technik und Wissenschaft, in der konkreten Form, in der sie das soziale und persönliche Leben bestimmen, immer schon […] Herrschaft und Gewalt“ waren. 

Hornstein betrachtete die gesamte Kultur und die moralischen Werte der BRD als „fragwürdig“. Man müsse die Erziehung „befreien“, und das könne nur gelingen, indem man fortan die „Ziele einer ‚postmateriellen‘ Orientierung, einer alternativen Lebensauffassung, […] der Friedens- und Frauenbewegung“ übernähme. Die Angehörigen „pädagogischer Berufe“ verträten bereits „in überdurchschnittlicher Häufigkeit“ und „radikal“ diese Auffassung. Da das DJI die Leitlinien der Bildungspolitik bestimmt, breitete sich der Situationsansatz trotz des Widerstands erfahrener Erzieherinnen unaufhaltsam aus.

Mystische Botschaften aus der Reformpädagogik

Den Bildungsideologen der 1970er Jahre hatte es die Reformpädagogik (ca. 1890 - 1920) angetan, besonders die Lehre Maria Montessoris von der „Befreiung des Kindes“. Entsprechend gern zitierte man sie. Montessori sah sich als Priesterin eines neuen Zeitalters, des „Jahrhunderts des Kindes“. Wie so viele Revolutionäre mit übersteigertem Sendungsbewusstsein berief auch sie sich auf einen mystischen Moment der Erkenntnis: Am Dreikönigstag 1907 bezog sie das Bibelwort „Völker werden in deinem Lichte wandeln“ auf sich. Ihr weiteres Lebenswerk war eine krude Mischung aus Nähe zu Mussolini, Verleugnung ihres eigenen Sohnes, katholischem Mystizismus, Psychoanalyse und pädagogischen Projekten. Ihr Anspruch: „Alles am Menschen ist verkehrt, und alles muss von vorn begonnen werden“. 

Montessori war überaus energisch, besaß Charisma und ein ungeheures Sendungsbewusstsein. Ihre berechtigte Kritik an Vernachlässigung und unhygienischen Einrichtungen in Armenvierteln gipfelte in eigenartigem Hass auf die Institution Schule: „Da sitzt nun das Kind in seiner Bank, ständig gestrengen Blicken ausgesetzt, die zwei Füßchen und zwei Händchen dazu nötigen, ganz unbewegt zu bleiben, so, wie die Nägel den Leib Christi an die Starrheit des Kreuzes zwangen“. 

Sie forderte zurecht mehr Geduld und Wertschätzung für kindliches Verhalten, verstieg sich dann aber in die überzogenen Behauptung, alle Kinder würden von den Erwachsenen gewaltsam unterdrückt. Montessori wollte „Fibeln, Lehrpläne und Prüfungen, Spielsachen und Leckereien“ abschaffen und stattdessen „Analyse der Bewegungen, Übungen der Stille, gute Manieren, peinliche Sauberkeit, Lesen ohne Bücher, Disziplin in freier Tätigkeit“ einführen. Kinder trügen einen „inneren Bauplan“ in sich, der lediglich Raum zur Entfaltung bräuchte. Ohne individuelle Instruktion durch Erwachsene würden sie anhand von Montessoris „vorbereiteter Umgebung“ alles Nötige selbständig lernen. Bis heute wird Montessori in der Erzieherausbildung als Lichtgestalt präsentiert, Kritik ist weitestgehend tabu. Ihr Einfluss auf die deutsche Frühpädagogik ist enorm.

Kindern zur Urteilsfähigkeit zu verhelfen ist nichts Böses

Tatsächlich lernen die meisten Kinder recht selbständig Dinge, die ihnen unmittelbar nützen: etwas essen, auf einen Hocker klettern, sich mitteilen. Trotzdem brauchen sie Erwachsene, um all das zu lernen, was kulturabhängig ist: richtig zu sprechen, im eigenen Zimmer durchzuschlafen oder Plätzchen zu backen. 

Kinder können noch nicht wissen, warum diese Dinge lernenswert sind. Sie benötigen Erwachsene, die die Verantwortung für die Angemessenheit der Lernziele übernehmen und den Lernprozess ermutigend und verlässlich leiten. Sie brauchen Erwachsene, die ihnen begeistert die kulturelle Schatzkammer aufschließen und die immer dann eingreifen, wenn es den Kindern noch an Urteilsfähigkeit und Selbstbeherrschung fehlt. 

Diese Ansicht wird heute bisweilen als „Adultismus“ verunglimpft. Viele Erzieher sind zutiefst verunsichert, weil sie gelernt haben, es sei Manipulation oder Gewalt, Kinder zu leiten. Wer aktiv erzieht, gar verbietet und gebietet, Dinge als gut und böse, vorbildlich oder verboten benennt, „löscht damit die Persönlichkeit des Kindes aus“ (Montessori). Solche Worte machen Erziehern Angst. Bisweilen dienen sie auch als Ausrede für Bequemlichkeit. 

Die Anzahl windeltragender Erstklässler steigt

Im Extremfall greift der Erwachsene nicht einmal mehr in die „Ausscheidungsautonomie“ des Kindes ein – ein wesentlicher Grund für die steigende Anzahl windeltragender Erstklässler. Wer erzieherische Führung aus Angst oder Faulheit ablehnt, vergisst, dass es einen dritten Weg gibt: Wertebewusste kluge Erwachsene, die auch sich selbst erziehen und Kindern durch ihre Autorität dienen. Erzieher, die Kindern helfen, durch Selbstbeherrschung empfänglich zu werden für tiefgehende Freude an Literatur, Kunst, Musik oder einem liebevoll selbstgebackenen Geburtstagskuchen. 

Deshalb schulden es die Erwachsenen den Kindern, in den ersten Lebensjahren Maß und Rhythmus für die kindlichen Antriebe und Stimmungen zu etablieren. Das erzeugt eine seelische Ausgeglichenheit, ohne die Lernen nicht gelingen kann. Wer übermüdet ist, weil er keinen Schlafrhythmus hat; wer bei jedem Unlustgefühl weint; wer bei Frustration gleich mit Bauklötzen wirft, fühlt sich grundsätzlich unsicher und kann sich nur schlecht aufs Lernen konzentrieren. 

Sich zu konzentrieren bedeutet, dass man die zunächst spontane Aufmerksamkeit so lange weiter aufrecht erhält, wie die jeweilige Tätigkeit es erfordert. Das kann durch Willenskraft und vertrauenden Gehorsam geschehen oder weil man anhaltende Freude an der Tätigkeit findet. Diese Grundfertigkeit muss ein Kindergarten aufbauen, aber das ist völlig unmöglich, solange Kinder alle ihre Tätigkeiten selbst wählen und sie immer dann beenden, wenn ihre spontane Aufmerksamkeit oder Lust endet.

Bildung verkommt zum Befriedigen von Neugier

Genau das ist aber die Realität, die aus dem Situationsansatz und der Diskreditierung des Erwachsenen entstanden ist. Im obigen Video wird sie als Ideal präsentiert. Man gewöhnt Kinder daran, sich egozentrisch von ihren kurzlebigen Interessen leiten zu lassen. Ihre Betreuer müssen zur Verfügung stehen, um sie spontan zu „bilden“, bzw., wie Jenny im Video sagt, ihre „Neugier zu befriedigen“. Bildung verkommt zum Befriedigen von Neugier. Ob etwas der Mühe wert ist, wird nicht vom Bildungsgehalt des Themas bestimmt, sondern davon, ob es mich gerade emotional anspricht und interessiert. 

Wer so geprägt wurde, prokrastiniert schon in der 1. Klasse. Es fehlt diesen Kindern an Ausdauer und Grundfertigkeiten. Entsprechend schwer fällt es ihnen, in der Schule konzentriert mitzuarbeiten. Ich erlebe in meinen Vorschulgruppen von Jahr zu Jahr mehr Sechsjährige, die Stifte mit beiden Händen gleichzeitig halten, nicht reimen können und nachzählen müssen, wenn ich drei Finger hochhalte. Nur professionelle Förderung kann verhindern, dass solch ein Lernrückstand in didaktogener Legasthenie und Dykalkulie mündet. Instruktion bringt Kinder voran, und sie sind stolz auf die Ergebnisse, wie z.B. das selbst gemalte Eichhörnchen:
 

Ohne Anleitung - „Ich will nicht mehr, das sieht gar nicht wie ein Eichhörnchen aus.“

Leider fehlt selbst gewillten Erzieherinnen das Rüstzeug, um es besser zu machen. Die Ausbildung ist dominiert von Rollentheorien, Situationsanalysen, Inklusion und Gender-Diversität. Effektive Sprachdidaktik, systematische Verhaltensbeobachtung oder die Passung von Emotions- und Realitätskurve spielen praktisch keine Rolle. Moderne Forschung wie die Basisemotionen nach Ekman oder kindliche emotionale Schemata fehlen im Lehrplan.

Mit Schritt für Schritt Anleitung - „Schau mal Frau Stiehler, ich hab’s geschafft!“

Auf die Schultern von Riesen klettern

Kindergärten müssen die Voraussetzungen für geduldiges Üben, konzentriertes Zuhören, tiefgehende Freude an Tätigkeiten oder staunendes Nachvollziehen von 4000 Jahren Kulturgeschichte schaffen. Sie müssen Kinder befähigen, sich dankbar auf die Schultern von Riesen zu stellen. Momentan werden die Zwerge im Glauben eingeschult, selbst bereits Riesen zu sein – nur, um anschließend vielfach an Handschrift, Lesen und Dezimalsystem zu scheitern.
 

Literatur:

  • DJI Impulse. Das Forschungsmagazin des Deutschen Jugendinstituts. 2/23  ISSN 2192-9335
  • Hornstein, Walter Neue soziale Bewegungen und Pädagogik. Zur Ortsbestimmung der Erziehungs- und Bildungsproblematik in der Gegenwart
    Zeitschrift für Pädagogik 30 (1984) 2, S. 147-167)
  • Montessori, Maria: Kinder sind anders. Klett, Stuttgart, 1961.
  • Stern, William: Psychologie der frühen Kindheit, Leipzig, 1914 
  • Stern, William: Die Kindersprache: Eine psychologische und sprachtheoretische Untersuchung. Leipzig, 1907.)
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