Sachbuch im Januar - „Gott würfelt nicht“

Tobias Hürter hat mit „Das Zeitalter der Unschärfe“ ein fesselndes Buch über die revolutionären Aufbruchsjahre der Relativitätstheorie und der Quantenmechanik geschrieben. Deren Pioniere erkannten, dass hinter der bekannten Welt eine tiefere Wirklichkeit liegt.

Die Physik wird eine immer komplexere Naturwissenschaft. Tobias Hürter beweist, dass man sie trotzdem verständlich erklären kann / dpa
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Autoreninfo

Ulrike Moser ist Historikerin und leitet das Ressort Salon bei Cicero.

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Sie wollen Physik studieren? Der Ordinarius an der Münchner Universität versucht dem jungen Max Planck diesen Plan auszureden. Er schildert den Zustand der Physik „als eine hochentwickelte, nahezu ausgereifte Wissenschaft, die (…) wohl bald ihre endgültige stabile Form angenommen haben würde“. Bis zum Anbruch des 20. Jahrhunderts sind die Physiker zuversichtlich, ihre Disziplin bald zur Vollendung bringen zu können: „Die bedeutendsten Grundgesetze und Tatsachen der Physik sind alle entdeckt.“ 

Was für ein Irrtum! Das goldene Zeitalter der Physik beginnt gerade erst. Tobias Hürter, Mathematiker und Philosoph, hat ein mitreißendes Buch geschrieben über eine Zeit der Entdeckungen, die so revolutionär sind, dass die Wissenschaftler, die sie vorantrieben, erkennen mussten, dass hinter der bekannten Welt eine tiefere Wirklichkeit liegt, „die so fremdartig wirkte, dass sich die Frage stellte, ob sich überhaupt noch von ,Wirklichkeit‘ sprechen lässt“. Sie zerlegten die Welt in ihre kleinsten Teile, bis es keine Dinge mehr, sondern nur noch Wahrscheinlichkeiten gab.

Revolution oft improvisiert

Dabei sind die Anfänge bescheiden, improvisiert. Marie Curie und ihr Mann forschen in einem Schuppen, „eine Kreuzung zwischen Stall und Kartoffelkeller“. Und machen hier einige der wichtigsten Entdeckungen des anbrechenden 20. Jahrhunderts. Marie Curie gelingt es, aus uranhaltigem Gestein ein unbekanntes chemisches Element zu isolieren: Radium. Mehr noch, sie behauptet 1898, dass die unbegreifliche Uranstrahlung eine Eigenschaft des Atoms ist. Aber was löst sie aus? Curie hat einen unerhörten Verdacht: nichts. Radioaktive Strahlung entsteht spontan, ohne Ursache. Damit rüttelt Curie am Fundament der Physik, dem Kausalitätsprinzip.

Es ist eine Revolution im Gange, deren Bedeutung noch nicht einmal die Akteure erfassen. Als Max Planck 1900 herausfindet, dass Energie nicht gleichmäßig dahinfließt, sondern in kleinsten Einheiten, in Quanten, aufgenommen oder abgegeben wird, versteht er seine eigene Entdeckung nicht. Er hält die Quanten für einen einfachen Rechentrick. 

Albert Einstein erkennt als Erster die Tragweite der Entdeckung. Er arbeitet im Patentamt in Bern, nennt sich selbst „ehrwürdiger eidgenössischer Tintenscheißer mit ordentlichem Gehalt“. In dieser wissenschaftsfernen Randlage entstehen Aufsätze, deren Inhalte die Welt verändern werden. 1905 veröffentlicht er die spezielle Relativitätstheorie, mit der er Raum und Zeit neu denkt: Sie sind nicht absolut, sondern relativ. Unter Umständen kann der Raum gestaucht erscheinen und die Zeit gedehnt.

„Gott würfelt nicht“

Am 14. November 1915 stellt Einstein in Berlin die Grundzüge der Allgemeinen Relativitätstheorie vor, die ein neues Bild der Gravitation zeichnet: Ihm zufolge entsteht sie dadurch, dass schwere Massen den Raum um sich krümmen und andere Massen dieser Krümmung folgen. Diese Theorie wird Einstein zum berühmtesten Wissenschaftler der Welt machen.

Hürter gelingt das Kunststück, den Leser zu fesseln durch die Radikalität des Aufbruchs, selbst wenn diesem Teilchen und Quanten weiterhin so fremd bleiben wie im Schulunterricht. Zum Trost: Es ging vielen Wissenschaftlern dieser Zeit nicht anders. 

Tobias Hürter gewährt Einblick in einen Wissenschaftler-Kosmos, der seine Erkenntnisse nur im Austausch gewinnen konnte. Durch komplizierte Lehrer-Schüler-­Verhältnisse, Konkurrenzkämpfe, Freundschaften, wie die zwischen Niels Bohr und Werner Heisenberg, die an ihrer entgegengesetzten Haltung zum Nationalsozialismus zerbrechen wird.

Bohr ist der Erste, der ein brauchbares Atommodell findet, in dem die Elektronen nicht nur Bahnen ziehen, sie springen auch zwischen ihnen hin und her. Einstein hält nichts von Quantensprüngen. Ist das noch Physik, wenn Elektronen im Atom herumspringen wie Roulettekugeln? „Jedenfalls bin ich überzeugt, dass der liebe Gott nicht würfelt“, sagt er.

Nur noch Wahrscheinlichkeiten

Roulettekugeln. Würfel. Oder Billardkugeln. Deren Bewegungen sind berechenbar, wenn sie aufeinanderprallen. Doch wie sich Teilchen nach der Kollision bewegen, ist unmöglich vorherzusagen, behauptet Max Born. Es ist nur möglich, die Wahrscheinlichkeit zu berechnen, wohin das Elektron nach einer Kollision fliegt. Bei Isaac Newton hatte jedes Teilchen stets einen bestimmten Ort und eine bestimmte Geschwindigkeit. Hier liegt für Born das Problem. „Ich selber neige dazu, die Determiniertheit in der atomaren Welt aufzugeben“, schreibt er. Das ist unerhört. Das Prinzip von Ursache und Wirkung ist der Angelpunkt der klassischen Physik. Wie soll Physik noch möglich sein, wenn alles nur noch Wahrscheinlichkeit ist?

Nachdem Born die Kausalität abgeschafft hat, vollzieht Heisenberg den endgültigen Bruch mit der klassischen Physik. Er erkennt, dass sich Ort und Geschwindigkeit eines Teilchens niemals gleichzeitig bestimmen lassen. Je genauer man weiß, wo das Elektron ist, desto weniger weiß man, wie schnell es ist – und umgekehrt. Und so stößt Heisenberg auf jene Beziehung zwischen den Ungenauigkeiten von Ort und Bewegung: die „Unschärferelation“. „Wir müssen einsehen“, sagt Heisenberg, „dass unsere Worte nicht mehr passen.“

Greifbare Physik

So himmelstürmend die Physik aufgebrochen ist, Hürter holt sie stets auf den Boden zurück, indem er den Persönlichkeiten ihrer Akteure großen Raum gibt. Bohr, in dessen Werk ebenso viel Kunst steckt wie Wissenschaft. Der schweigsame Dirac, der fähig zu sein scheint, Naturgesetze durch reines Denken hervorzuzaubern. Schrödinger (der mit der Katze), der Frauenheld. Pauli, der dem Alkohol verfällt.

Sie alle sind gezwungen, sich zu den Zeitläuften zu verhalten. Mit dem Nationalsozialismus bricht die dunkle Zeit der Physik an. Lenard und Stark sehen die Zeit für eine „deutsche Physik“ gekommen. Einstein und Born fliehen. Planck versucht zu lavieren, Heisenberg sich zu arrangieren. 

Am Morgen des 6. August 1945 erhellt ein Lichtblitz den Himmel über Hiroshima. Der Bau der Atombombe ist zum Zivilisationsbruch der Atomphysik geworden. Von der Theorie ist die Physik zur Anwendung geschritten. Und die Welt ist eine andere geworden.

Tobias Hürter: Das Zeitalter der Unschärfe. Die glänzenden und die dunklen Jahre der Physik 1895–1945. Klett-Cotta, Stuttgart 2021. 400 Seiten, 25 €

Dieser Text stammt aus der Januar-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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