Roman von Robert Seethaler „Der letzte Satz“ - Im Meer der überschwappenden Gefühle

Robert Seethaler erzählt von der Lebensreise Gustav Mahlers, verheddert sich in Klischees und überzeugt dann doch durch Sprache und Stil – sowie einem grandiosen Talent für Unterhaltsamkeit und Kurzweiligkeit.

Gustav Mahlers letzte Schiffreise bildet das Setting von Seethalers Roman / Jill Senft
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Im Februar 1911 dirigierte Gustav Mahler in der New Yorker Carnegie Hall ein legendäres Konzert, bei dem die Premiere von Ferruccio Busonis „Wiegenlied am Grabe meiner Mutter“ das Programm prägte. Von starkem Fieber und heftigen Schmerzen geplagt, fuhr er danach mitsamt seiner Familie per Schiff nach Europa, wo er später in einem österreichischen Sanatorium an einer Infektion des Herzens verstarb. 

Die letzte Seereise des Komponisten inspirierte Robert Seethaler, Autor von Bestsellern wie „Der Trafikant“ (2012) und „Ein ganzes Leben“ (2014), zu seinem jüngst erschienenen Buch „Der letzte Satz“. In diesem meditiert der todkranke Musiker auf dem Deck des Passagierdampfers über einschneidende Momente seiner Karriere, die sich jäh dem Ende zuneigt. Mahler ahnt, dass er für seinen internationalen Ruhm bald mit dem „Desaster eines sich selbst verzehrenden Körpers“ büßen wird, denn der Komponist beutete sich ununterbrochen mit einer fast schon an Manie grenzenden Intensität aus. 

Längst gelesene Skandalons

Bei einem biografischen Stoff wie diesem kommt Seethaler natürlich nicht umhin, während der Rückblenden seines Helden dessen legendäre Gefährtin Alma ins Spiel zu bringen. Er nennt sie in bester Marlene-Dietrich-Manier die „schönste Frau Wiens“, die „von den unterschiedlichsten Männern umflattert wurde wie eine Nachttischlampe von Holzmotten“. Permanent unterstreicht er ihre suggestive erotische Ausstrahlung und ihre üppige Sinnlichkeit. Doch mit derlei Formulierungen strapaziert er zuweilen auch abgedroschene Klischees über eine Amour fou, an der sich auch andere Autoren bereits brillant und amüsant abgearbeitet haben – etwa der Historiker Oliver Hilmes in seiner viel beachteten Alma-Mahler-Werfel-Biografie „Witwe im Wahn“. 

So vermag Robert Seethaler über die komplizierte Ehe des Jahrhundertgenies mit der vermeintlichen Femme fatale auch nichts Erhellendes, Neues oder gar Bahnbrechendes zu berichten. Stattdessen bemüht er übliche Skandalons, die man hier und da längst gelesen hat.

Seethaler entrinnt dann doch der Trivialität

Ermüdet liest man Szenen über Streitereien der sich entfremdenden Partner, die schließlich in einer hitzigen Affäre Almas mit dem Architekten Walter Gropius sowie in einem ernsten seelischen Kollaps Mahlers münden, der in tiefer Verzweiflung den Wiener Psychoanalytiker Sigmund Freud konsultiert und sich bei ihm ausweint. Mahler in den Mund gelegte Ausdrücke wie „Ich weiß nicht, ob ich ihr Glück bin, jedenfalls ist sie meins“ gleichen im Zusammenhang mit seiner nervlichen Labilität Stereotypen und lösen zuweilen Achselzucken aus. 

Spätestens seit seinen Romanerfolgen „Ein ganzes Leben“ oder „Das Feld“ bezweifelt niemand mehr die ungeheure Feinnervigkeit und Sensibilität von Robert Seethaler. Mit diesem Schriftsteller kündigte sich eine Renaissance der Epoche der Empfindsamkeit an. Aber in der Causa Mahler spitzt er die Gefühlsseligkeit über Gebühr zu. Häufig driftet er ab in Richtung Sentimentalität und Tränenrührigkeit. 

Doch anders als umstrittene Kollegen wie Eric-Emmanuel Schmitt oder Margriet de Moor, die ebenfalls auf das bewährte Rezept Emotionalität vertrauen, schafft Seethaler es, den schleichenden Versuchungen des Kitsches und der Trivialität zu entrinnen, indem er clever Episoden einstreut, die in einer Erdung des affektiv aufgepeitschten Geschehens münden. Etwa dann, wenn er schildert, wie Mahler dem Bildhauer Auguste Rodin für eine Büste Modell sitzt und dabei vor wachsendem Selbstekel und Welthass fast vom Stuhl kippt. Oder wenn er den Maestro in düster schwelenden Visionen um seine an Diphterie verschiedene jüngste Tochter Maria trauern lässt, die er ebenso abgöttisch liebte wie seine untreue Gattin.

Ästhetisch äußerst heikel und riskant

Thomas Mann stülpte dem Schriftsteller Gustav von Aschenbach in seiner Geschichte „Der Tod in Venedig“ die Maske Mahlers über. Solche Finessen erspart sich Seethaler. Er porträtiert den Tondichter ohne jegliches Täuschungsmanöver, ganz so, als sei er sein Zeitgenosse. Die Methode birgt freilich das große Risiko, sich als Autor selbst in seine Figur hineinzuinterpretieren und sie als Projektionsfläche zu nutzen. Und in der Tat: Seethaler verfällt dieser Verlockung gleich mehrfach. Deshalb wirkt sein literarisches Experiment über weite Strecken auch ästhetisch äußert heikel und riskant. 

Hervorzuheben gilt es jenseits solcher Nörgelei, dass der Erzähler sich eines ungemein flüssigen, flotten Stils bedient. Der simple Hauptsatzfetischismus, dem viele Autoren seiner Generation frönen, infiziert ihn nicht. Vielmehr gebietet er über einen erstaunlichen Fundus an Verben, der seinem Schreiben eine ganz besondere Dynamik verleiht. Die Schärfe und die Bildhaftigkeit seiner Sprache brennen sich dem Leser tief ein, zumal sie sich mit einem grandiosen Talent in puncto Unterhaltsamkeit und Kurzweiligkeit paaren. 

Stets wirft See­thaler jede Menge Schwung und Leidenschaft in die Waagschale. Er weiß, wie man Dialoge aufbaut und sie geschickt zur Forcierung der Spannung gebraucht. Damit entpuppt er sich als würdiger Erbe von Peter Härtling, der in Werken wie „Hölderlin“, „Schumanns Schatten“ oder „Verdi“ auf ebenso pikante wie grandiose Art Künstlerpersönlichkeiten charakterisiert hat. Dass der Hanser-Verlag, der seit dem Erfolg von „Der Trafikant“ Seethalers Bücher publiziert, diesen Text als Roman deklariert, erscheint indes rätselhaft. Der Form nach nämlich handelt es sich bei „Der letzte Satz“ ziemlich klar um eine Novelle.

Robert Seethaler: Der letzte Satz. Hanser Berlin, Berlin 2020. 128 Seiten, 19 €.

Dieser Text stammt aus der Oktober-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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