Ferdinand von Schirachs „Nachmittage“ - Prosa im September: Erlesene Melancholie

In „Nachmittage“ erzählt Erfolgsautor Ferdinand von Schirach von Begegnungen, Reisen und natürlich von spektakulären Kriminalfällen. Aber immer wieder blitzt, wie das rote Fädchen in der ersten Geschichte des Bandes, die Reminiszenz an eine große, offenkundig verlorene Liebe auf.

Ferdinand von Schirachs neues Buch ist von eigenen Erlebnissen geprägt / dpa
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Ferdinand von Schirachs Erzählen hat von Anfang an mit dem Autofiktionalen gearbeitet, um nicht zu sagen: kokettiert. Ein Strafverteidiger als Autor hat in der Hinsicht viel zu bieten. Als Inspiration Kriminalfälle anführen zu können, mit denen man in Berührung gekommen ist, wirkt deutlich attraktiver als der Alltag in, sagen wir: einer Schule, einer Behörde oder einer Stipendiatenunterkunft.

Ganz in den Vordergrund getreten ist das Autofiktionale bereits in der Prosasammlung „Kaffee und Zigaretten“, die vor drei Jahren erschien. So ist es auch in Ferdinand von Schirachs neuem Buch. Es heißt „Nachmittage“, und wieder kompiliert er in kurzen bis kürzesten Texten Erlebnisse, Beobachtungen und Einfälle aus seinem mittlerweile 58-jährigen Leben. 

Mehr als Reisefeuilletonismus

Einige der 26 durchnummerierten Kapitel des schmalen Buches umfassen kaum eine Seite, da geht es meist um Kunsterlebnisse und Lesefrüchte, die Prägung durch Giacometti oder Hemingway, Funde in Thomas Manns Tagebüchern und das Unglück von Isadora Duncan und Sergej Jessenin. In den längeren Texten erinnert sich der Erzähler an erste Reisen mit Freundinnen, Vorfälle während des Jurastudiums in Bonn, an Begegnungen und Wiederbegegnungen in Hamburg, Paris, New York.

Dazwischen blitzt, wie das rote Fädchen in der ersten Geschichte des Bandes, immer wieder die Reminiszenz an eine große, offenkundig verlorene Liebe auf. Es ist kein Zufall, dass hier F. Scott Fitzgeralds „Great Gatsby“ zitiert wird, genauer gesagt, die Auseinandersetzung zwischen Tom Buchanan und Jay Gatsby in einer Suite des legendären New Yorker Plaza, denn im Foyer eben jenes Plaza hat Schirachs Erzähler „sie“ das erste Mal gesehen. Das Ambiente ist insgesamt oft exotisch, geraucht wird viel, und erlesene Melancholie ist die vorherrschende Stimmung. 

Gehobenen Reisefeuilletonismus strebt Schirach freilich nicht an – obwohl der Distinktionsgewinn beträchtlich ist, der sich einstellt, wenn einer in Tokio das Hotelzimmer buchen kann, in dem „Lost in Translation“ gedreht wurde, in Taipeh und Marrakesch von Interviewern und Lesepublikum belagert wird und Freunde hat, die ihn einladen, ihre edel heruntergekommene Hundert-Zimmer-Villa in Bassano del Grappa für einen Sommer als Schreibort zu bewohnen. Doch eigentlich geht es ihm darum, die eigenen Geschichten mit denen anderer zu verweben, Geschichten, die Fremde einander an einer gepflegten Hotelbar erzählen, denn „diese Geschichten beschützen uns vor der Einsamkeit, den Verletzungen und der Kälte. Und am Ende sind sie das Einzige, was uns wirklich gehört.“ 

Ohne Not garniert mit Spruchweisheiten

Schön gesagt, aber stimmt es auch? Jedenfalls landet Schirachs Erzählen von sich selbst erneut bei seinen Lebensthemen Schuld, Verbrechen und Strafe, gespiegelt in spektakulären Kriminalfällen und anderen schlimmen Vorkommnissen. Zwar werden sie eingebaut in bewunderungswürdig verschachtelte Konstruktionen. Aber leider geht dabei so manche Pointe wie ein moralischer Holzhammer auf die Leserschaft nieder, anderes wird ohne Not garniert mit Spruchweisheiten, was denn doch überrascht bei einem so intelligenten Autor und begabten Stilisten.

Ferdinand von Schirach: Nachmittage. Luchterhand, München 2022. 176 Seiten, 22 €

Dieser Text stammt aus der September-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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