Politische Korrektheit - Der Schmerz der Anderen

Das Private wird immer mehr politisch, vor allem wenn es um persönliche Leiderfahrungen geht. Doch die Politisierung führt teils zu absurden Verbotsforderungen, mit denen zum Beispiel Rassismus bekämpft werden soll, aber eigentlich befördert wird.

In der Theorie der „Critical Whiteness“ werden weiße und schwarze Emotionen hierarchisiert
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Autoreninfo

Judith Sevinç Basad ist Journalistin und lebt in Berlin. Sie studierte Philosophie und Germanistik und volontierte im Feuilleton der NZZ. Als freie Autorin schrieb sie u.a. für FAZ, NZZ und Welt. Sie bloggt mit dem Autoren-Kollektiv „Salonkolumnisten“. 

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Mit Schmerz kann man keine Politik machen, schrieb Hannah Arendt einmal. Denn der Schmerz ist eine derart subjektive Empfindung, dass man ihn automatisch zerstörte, wenn man ihn in das Licht der Öffentlichkeit zerren würde. Denn sobald man versucht, den Schmerz zu beschreiben, ihn als einen greifbaren Gegenstand darzustellen, mit dem man Politik machen kann, verliert das Gefühl nicht nur seine Glaubwürdigkeit. Derjenige, der den Schmerz empfindet, verliert auch seine gesamte Privatsphäre, indem er seine intimsten Empfindungen der Öffentlichkeit zur politischen Bewertung preisgibt.

Im Stern schrieb eine junge Autorin einmal einen Text über den Tod ihres Vaters. Sie erklärte, wie ein Leben in dieser Welt unmöglich für sie geworden sei, weil ihr Umfeld ihren Schmerz nicht nachvollziehen konnte. Wie sie immer wieder die Arme über der Brust verschränkte, weil sie das Gefühl hatte, dass ihr Oberkörper auseinanderbrechen würde. Kurz: Sie versuchte, einen Schmerz zu schildern, den man eigentlich nicht beschreiben kann, weil es für ihn keine Worte gibt. 

Die Politik des Schmerzes

Um nochmal mit Hannah Arendt zu sprechen: Es gibt für derlei Gefühl keinen Referenten in der Dingwelt. Jeder Versuch, den Schmerz öffentlich zu machen, würde ihn nicht nur beschwichtigen und bagatellisieren, sondern den Menschen auch das Intimste rauben, was sie überhaupt haben: ihre Privatsphäre und ihre Individualität. 

Umso mehr irritiert es, wie gerade die feministische und antirassistische Bewegung das persönliche Leid zum Hauptgegenstand eines politischen Kampfes erklärt. Ja, mehr noch: Feministische Politik ist de facto zu einer Politik des Schmerzes geworden. 

Unpassende Gleichsetzungen

Das wurde etwa während der #metoo-Bewegung deutlich. Vergewaltigungsopfer schilderten im Netz ihr emotionales Leid, um in der Sicherheit der Online-Anonymität mehr Solidarität unter Betroffenen zu erfahren. Dagegen ist erstmal nichts einzuwenden. Das Problem war aber: Dass es unter manchen Frauen eine regelrechte Sehnsucht danach gab, auch zu den „Betroffenen“ zu gehören, um sich besonders zu fühlen. Motto: „Metoo! Ich auch, bitte!“ Der unbeschreibliche Schmerz von traumatisierten Vergewaltigungsopfern wurde nicht nur auf Twitter in einen Thread gepresst, sondern auch mit dem „Schmerz“ von Frauen gleichgesetzt, die sich verletzt fühlen, wenn ihnen ein Mann auf der Straße hinterherpfiff. 

Die gleiche Politisierung von psychischen Schmerzen geschieht auch bei Triggerwarnungen, die nicht nur von Universitäten, sondern auch zunehmend von Fernsehsendern in Video-Clips eingebaut werden. Auch dagegen ist nichts einzuwenden. Problematisch wird es aber, wenn die Angst, jemanden zu verletzten, so groß wird, dass man anfängt, Bücher aus dem Sortiment zu nehmen oder Gedichte an Hauswänden zu übermalen. Ganz banale Darstellungen – wie ein männlicher Blick – werden hier plötzlich zu einem Trigger, der Opfer von sexueller Gewalt gedanklich wieder in die traumatische Situation zurückwerfen könnte. 

Gegen den Schmerz gibt es kein Argument

Das Problem: Schmerz wird hier nicht nur politisch missbraucht, um Zensuren durchzuführen. Allen Frauen wird auch die Verletzlichkeit eines Vergewaltigungsopfers unterstellt. Besonders krass funktionierte dieser Mechanismus während der Metoo-Bewegung: Frauen mussten sich selbst von den größten Banalitäten verletzt fühlen, sich dem kollektiven Leiden qua Geschlecht anschließen, sich über den eigenen Schmerz definieren, mitleiden und sich als Opfer sehen, weil sie sich sonst gegenüber den hypersensibilisierten Aktivistinnen nicht „solidarisch“ verhielten. 

Hier wird eines deutlich: Dass Schmerz, wenn er in die Sphäre des Öffentlichen überführt wird, keinen Widerspruch zulässt. Gerade, weil er sich nicht in Worte fassen lässt, gibt es auch keine Argumente gegen ihn. Der Schmerz ist immer absolut, weil er eben so schmerzhaft ist. Und er kann alles sein, weil er so subjektiv ist. Wer mit dem eigenen Leid argumentiert, bekommt auch immer Recht. 

Der persönliche Schmerz wird zur Waffe

Oder anders gesprochen: Der persönliche Schmerz ist zu einer Waffe geworden, um Politik zu betreiben und Macht auszuüben. Das Prinzip ist einfach: Je sensibler das Gemüt ist, desto mehr Maßnahmen, Verbote und Zensuren müssen auch vorgenommen werden, um das sensible Gemüt vor Schmerzen zu bewahren. 

Nehmen wir etwa die „Mikroaggressionen“, die immer wieder von Aktivisten als Argument vorgebracht werden, um gewisse Alltagshandlungen zu unterbinden. So sollten Weiße aufhören, Dunkelhäutige danach zu fragen, „woher sie denn wirklich kommen“, liest man immer wieder. Auch sind bestimmte „Gesten oder schräge Blicke“ nicht mehr erlaubt, liest man in der taz, weil das schwarze Menschen verletzen könnte. Die UC Berkeley veröffentlichte sogar eine „Anti-Oppression discussion guideline“, in der eine ganze Liste an zwischenmenschlichen Reaktionen beschrieben werden, die nicht mehr erlaubt seien. Dazu zählen: „passive Aggressionen“, „Ressentiment“, „aggressive Körpersprache“, „laute Geräusche“ und das „Erwecken von Schuldgefühlen“. 

Hierarchisierte Emotionen

Und hier kommen wir zum totalitärsten Moment in der feministischen Schmerz-Politik: Dass die politische Agenda in die intimsten Sphären der Menschen eingreift, um völlig normale Emotionen wie Wut, Empörung oder Abneigung nicht nur zu kontrollieren, sondern auch abzuschaffen. 

Besonders pervers wird es, wenn Emotionen hierarchisiert werden, indem sie gewissen Menschen – je nach Hautfarbe – entweder zugebilligt oder abgesprochen werden. Das geschieht vor allem in der postmodernen Theorie der „Critical Whiteness“, von der man immer häufiger in den Medien liest. Das Prinzip ist einfach: Der Schmerz von Menschen mit weißer Hautfarbe wird stigmatisiert, während der Schmerz von Dunkelhäutigen auf ein Podest gehoben wird. 

Der Rassismus der „weißen Psyche“

So verfasste die Kulturwissenschaftlerin Jule Bönkost einen Leitfaden für den Uni-Unterricht, in dem sie „weiße Emotionen“ als psychische Krankheit abwertete. Die westliche Welt wäre so sehr von den Gräueln des Kolonialismus beeinflusst, liest man hier, der Rassismus also so tief in der „weißen Psyche“ verankert, dass selbst die Emotionen von Weißen politisch wären. Und das gilt nicht nur für Erwachsene, sondern auch für weiße Kinder. 

Wenn man dem „weißen Kind“ beibringen würde, dass es Menschen nicht nach Hautfarbe bewerten solle, so liest man hier, dann würde das eine „Form der Misshandlung“ und „Entmenschlichung“ darstellen, die eine „emotionale und psychische Störung der weißen Psyche“ verursachen würde. Die These, dass man in einer aufgeklärten Gesellschaft „farbenblind“ sein sollte, wäre zudem eine „rassische Lüge“, die bei Kindern eine „Neurose“ auslöse. 

Auch Emotionen wie Wut, Scham und Schuld, die Weiße empfinden würden, wenn man ihnen Rassismus vorwerfe, werden hier als spezifisch „weiße Emotionen“, als ein „weißer“ Abwehrmechanismus beschrieben, der nur dazu diene, die eigene kolonialrassistische Prägung zu verschleiern. Den Beitrag verfasste die Autorin übrigens für das „Institut für Diskriminierungsfreie Bildung“, das nach eigenen Angaben auch Bund und Länder in Sachen Rassismus an Schulen und Bildungsinstitutionen berät. 

Andrew Onuegbu und sein Restaurant „Zum Mohrenkopf“

Neulich sorgte der schwarze Restaurantbesitzer Andrew Onuegbu in einer Talkshow für Aufregung. Der Grund: Er betreibt ein Restaurant, das er selbst „Zum Mohrenkopf“ taufte. In der Sendung erzählte er auch von einem rassistischen Vorfall: Ein Pärchen beschwerte sich bei ihm über den Namen des Lokals und forderte ihn auf, den Chef zu holen. Selbst nachdem sich der Nigerianer zweimal als Chef vorgestellt hatte, glaubte ihm das Pärchen nicht. „Eigentlich war das der wahre Rassismus: Dass sie nicht glaubten, dass ein Schwarzer der Chef sein kann“, erzählte der Gastronom.  

Was Onuegbu dann sagte, fasst das gesamte Problem der Social-Justice-Warriors gut zusammen: „Ich finde das ganz schlimm, wenn Menschen versuchen, mir zu sagen, wann meine Gefühle verletzt sind. Ich bin alt genug, ich habe genügend Verstand und genug Wissen, um zu bemerken, wann mich jemand verletzt – ich brauche keine zweite Person oder weiße Menschen, die mir sagen, wann meine Gefühle verletzt sind.“ 

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