Amt ohne Würden - Wenn Politik zum Kasperletheater wird

FDP-Abgeordnete freuen sich tanzend über die Abschaffung des Paragrafen 219a, und auf der Bundesversammlung hüpft nicht nur die verschleierte Rapperin Lady Bitch Ray herum, sondern auch Bundestagspräsidentin Bärbel Bas ungefragt ins Bild: In der deutschen Politik macht sich seit geraumer Zeit eine gewisse Nonchalance breit, mit der man betont unkonventionell wirken will – und bisweilen doch nur der eigenen Reputation schadet. Mehr Demut vor Amt und Aufgabe wäre wünschenswert.

Kunstfigur als Wahlfrau: Rapperin Lady Bitch Ray in der Bundesversammlung / dpa
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Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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Mit einem Text über Verhaltensweisen läuft man freilich Gefahr, als Spießer zu gelten. Das beginnt schon bei Wörtern wie Würde oder Anstand, die irgendwie altbacken klingen, auch ein bisschen überholt in Zeiten, in denen Menschen alles öffentlich machen, wovon Großmutter noch kompromisslos sagen würde, dass dieses oder jenes keinen Fremden etwas angehe. Doch das ist auch die Generation, in der es normal war, rasch zu heiraten, wenn aus wilder Ehe ein Kind wuchs, und die sich sehr viele Gedanken darüber machte, was wohl die Nachbarn denken.

Insofern ist es gut, dass sich die Zeiten geändert haben; dass heute nicht mehr als Tabu gilt, was nüchtern betrachtet gar keines sein müsste, und sich auch Begriffe wie Würde oder Anstand liberalisiert haben – dass wir uns heute also alle ein bisschen locker machen und entfalten können in unseren Vorstellungen von Diversität, Buntheit und Schrillheit. Also theoretisch jedenfalls.

Gleichwohl sind gewisse Regeln im Umgang miteinander wichtiger Bestandteil des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Und damit meine ich nicht Zwänge im engeren Sinne, sondern das, was man neudeutsch „Common Sense“ nennt. Nirgendwo ist festgeschrieben, dass man die Kassiererin an der Supermarktkasse grüßen muss, aber es wäre halt trotzdem nett, wenn man es täte. Man bekommt auch keinen Strafzettel, wenn man sich auf einer Hausparty nicht vorstellt, obwohl man der einzige ist, den niemand kennt. Und selbstverständlich stehe ich in der U-Bahn auf, um meinen Platz zu räumen für Menschen, die sich nicht nur aus Bequemlichkeit setzen möchten. Nicht alles, was sich Zwang oder Konformismus nennen ließe, ist also zwangsläufig schlecht. Womit wir wieder bei der Würde wären und beim Anstand.

„Weißt du was ne Bitch ist?“

Laut der Rapperin Lady Bitch Ray etwa ist eine Bitch unter anderem eine „Monster-Möse, die deinen Kopf fickt“ und eine, die „kein Blatt vor die Muschi“ nimmt. Alles nachzuhören in ihrem Werk „Weißt du was ne Bitch ist?“. Wissen Sie, ich mag deutschen Hiphop, und mir geht es gar nicht darum, auf schlechte Liedzeilen geradezu reaktionär zu schimpfen, weil ich überdies ein großer Anhänger der Kunstfreiheit bin und die Wertigkeit von Kunst eben immer im Auge des Betrachters liegt. Genau genommen, kann ich bis heute sogar einige Deutschrap-Texte auswendig, die in Zeiten von Political Correctness und Triggerwarnungen wirklich noch Leute hinterm Ofen hervorlocken würden; vor allem angebliche Progressive. 

Aber ich frage mich halt, für welchen Teil unserer Gesellschaft eine Lady Bitch Ray eigentlich stehen soll, wenn sie von der Linken zur Bundesversammlung geschickt wird, um bei der Wahl des Bundespräsidenten abzustimmen? Und ich frage mich auch, was das mit der viel zitierten „Würde des Amtes“ des Bundespräsidenten macht, wenn sie im weißen Schleier erscheint, mit Overknee-Stiefel und einer blauen Tasche, auf der „Nazis Raus“ und „no AfD“ steht, weil sie selbst dann nicht fähig scheint, einfach Reyhan Şahin – so ihr bürgerlicher Name – zu sein, wenn ihr eine solche Ehre zuteil wird.

Neun Sekunden Pietätlosigkeit

Zur Wahrheit gehört freilich auch, dass Lady Bitch Ray eine Kunstfigur ist, für die unterm Strich eben andere Regeln gelten als für einen Berufspolitiker. Allerdings fällt mir seit geraumer Zeit auf, dass sich auch bei Letztgenannten eine, sagen wir, merkwürdige Nonchalance zu etablieren scheint, die eine gewisse Demut gegenüber Ämtern, Mandaten und den Institutionen, in denen Politiker wirken, vermissen lässt. Im Folgenden drei Beispiele von einigen mehr.

Kürzlich ist ein Video viral gegangen, das eine Gruppe FDP-Politiker zeigt. „Wir, auf dem Weg zur Abstimmung, um endlich § 219a aus dem StGB kicken zu können“, war zu lesen. Im Video tanzen die Liberalen zum „Club Remix“ des Songs „Short Dick Man“ einen gelb beleuchteten Gang entlang. Alle fünf Beteiligten machen eine Kopf-ab-Geste. Nach neun Sekunden ist das Video vorbei – und das Erstaunen über so viel Pietätlosigkeit beim Betrachter groß.

Denn der Paragraf 219a hat nicht etwa zu tun mit einem Tanzverbot an Feiertagen – was irgendwie naheliegend gewesen wäre –, sondern mit Werbung für Abtreibungen, also „Schwangerschaftsabbrüche“, wie es heutzutage ein bisschen euphemistischer heißt. Die Aufregung über dieses Video war im Netz entsprechend groß und das kurze Filmchen schnell wieder vom Account der FDP-Politikerin Kristine Lütke, die seit kurzem im Bundestag sitzt, verschwunden. Allerdings zu spät. Denn das Internet vergisst nicht.

Das Internet vergisst nicht

Sagen wir mal so: Ein Bundestagsabgeordneter verdient über 10.000 Euro im Monat. Hinzu kommt eine Kostenpauschale von rund 4500 Euro. Abgeordnete fahren kostenfrei in der 1. Klasse der Deutschen Bahn, und auch Inlandsflüge werden bezahlt. Zudem steht ihnen ein Budget von fast 20.000 Euro im Monat zur Verfügung, um persönliche Mitarbeiter einzustellen. All das wird nicht nur von den Bürgern finanziert. Sie sind es auch, die die Abgeordneten mit einem Mandat ausstatten, das genau genommen nur geliehen ist. Und ich finde, dass es daher das Mindeste wäre, als Berufspolitiker zu erkennen, dass alles, was ein Abgeordneter sagt, macht oder tanzt, auf die Reputation seines Berufsstandes wirkt – und damit eben auch Einfluss hat auf den Ruf der deutschen Politik in Gänze.

Ende Januar etwa twitterte die Linke-Bundestagsabgeordnete Żaklin Nastic zwei Screenshots, die zeigen, dass sie sowohl von Sevim Dağdelen als auch von Helin Evrim Sommer, beide ebenfalls Bundestagsabgeordnete der Linken, auf Twitter geblockt wurde. Das heißt, Nastic konnte nicht mehr sehen, was Dağdelen und Sommer posten. Das erzürnte sie derart, dass sie sich zu folgendem Tweet hinreißen ließ:

Wenn ich das damals richtig verstanden habe, blockte Sevim Helin und Helin blockte Zaklin, wobei Zaklin nicht versteht, warum Evrim (die auch Helin ist) das macht. Ich rätsele zwar noch, ob Helin nun auch Sevim blockte. Aber unterm Strich ist eh Der Spiegel schuld. Und ich frage mich ehrlich, wie es sein kann, dass sich eine Bundestagsabgeordnete derart in den sozialen Medien und damit in der Öffentlichkeit präsentiert? Und warum jemand, der gut 15.000 Euro im Monat dafür kassiert, Vertreterin des Volkes zu sein, nicht in der Lage ist, sich selbst ein bisschen mehr unter Kontrolle zu haben? Wenigstens derart, dass gewisse Aktivitäten in den sozialen Medien nicht an zankende Grundschüler auf dem Pausenhof erinnern.

Grund für Fremdscham

Wer, wie ich, viel in den sozialen Medien unterwegs ist, der stellt sich Fragen wie diese mittlerweile mehrfach die Woche. Das beginnt bei so schnell in die Smartphone-Tasten getippten wie hanebüchenen Vorwürfen von Abgeordneten gegen Politiker anderer Parteien, geht über umstrittene Inhalte, die ein Parlamentarier mal schnell teilt, weshalb er anschließend wieder zurückrudern muss, und endet bei Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, deren Partei, die SPD, ein Bild verbreitet, auf dem Bas während der Bundesversammlung eine sogenannte „Photobomb“ macht, also ungefragt ins Bild hüpft.

Und nein, auch ich wünsche mir keinen Politikstil derart, dass alte humorlose Männer zigarrerauchend um große Eichentische sitzen. Aber als Bürger fände ich es schon gut, wenn man die Social-Mediasierung der deutschen Politik wieder ein bisschen eindämmen würde und sich Berufspolitiker wieder mehr im Klaren darüber befänden, dass es eher von Nachteil sein könnte, wenn erst der schlechte Gag kommt und dann die mahnenden Worte an Putin. Oder Gute-Laune-Photobombs in die endlosen Weiten des Internets versendet werden, während die Menschen im Land die größten Grundrechtseinschränkungen in Friedenszeiten erleben. Anders formuliert: Politik muss nicht immer bierernst sein. Aber sie sollte auch nicht zum Kasperletheater werden.

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