Political Correctness - Wissenschaft als Charakterfrage

Hat der Feueralarm, der den Vortrag von Geburtstagskind Jürgen Habermas in Frankfurt unterbrach Symbolcharakter? Die Debattenkultur an den Universitäten verarmt stetig und verlagert sich in das Internet. Ein gefährlicher Trend, findet unser Autor

Erschienen in Ausgabe
Deutsche Universitäten: Ein Hort der Meinungsfreiheit? / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

So erreichen Sie Mathias Brodkorb:

Anzeige

Anlässlich des 70. Geburtstags des Grundgesetzes veranstaltet die deutsche Allianz der Wissenschaftsorganisationen eine Kampagne zur Würdigung und Verteidigung der durch die Verfassung garantierten Wissenschaftsfreiheit. Ihr Angebot und praxisrelevanter Tätigkeitsnachweis an den Rest der Republik: ohne Wissenschaftsfreiheit auch keine Demokratie. Ach wie wunderbar, wenn das denn richtig wäre!

Zunächst klingt das ja auch ganz plausibel: Mit der Ablösung des Feudalismus durch die bürgerliche Demokratie sollte eine Verallgemeinerung des Herrschaftsanspruchs auf prinzipiell alle Bürger einhergehen. Diese vielen benötigten allerdings etwas Gemeinsames, auf das sie sich verständigen konnten – jenseits aller bisherigen Autoritäten. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, die Aufklärung und mit ihr die Vernunfttätigkeit und Wahrheitssuche zum geistigen Nukleus dieser neuen Epoche zu erklären.

Parteien als Mittel zum Zweck

Verzichtet man jedoch auf eine normative Aufladung des Begriffs der Demokratie und begreift sie schnöde als eine auf Mehrheitsentscheidungen gegründete Herrschaftstechnik, ist es vorbei mit der romantischen Verknüpfung von Wissenschaft und Demokratie. Die auf Vernunft und Wahrheitssuche gegründete Demokratie erweist sich lediglich als Sonderfall. Dieses deliberative Modell lebt von der Vorstellung eines einheitsstiftenden Gemeinwohls, das diskursiv anhand verbindlicher Regeln ermittelt wird.

Einheit im Sinne der Mehrheitsbildung lässt sich aber innerhalb eines Wahlvolks ganz demokratisch auch auf andere Weise stiften, zum Beispiel durch einen überzeugenden Feind oder bloßen Eigennutz. Letzteres führen seit Jahrzehnten die liberal-pluralistischen Demokratien mit großem „Erfolg“ vor. Parteien verstehen sich selbst nicht als diskursive Angebote an das Wahlvolk auf der Suche nach dem Gemeinwohl, sondern als Interessenverbände zur zeitweisen Eroberung des Staates.
Die immer größer werdende Lücke zwischen der der Wissenschaftsfreiheit verpflichteten deliberativen Demokratie und ihrem real existierenden Zustand ist dabei nicht ohne den gravierenden, auch technisch bedingten Wandel zu erklären. Habermas’ „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (1962) müsste unter den Bedingungen der Digitalisierung eigentlich neu geschrieben werden.

Internet befördert politische Willensbildung

Seit den achtziger Jahren zeichnet sich ein dramatischer Umbruch in der Art und Weise ab, wie sich der öffentliche Raum strukturiert und kollektive Identitäten schafft. Bis dahin gab es einheitliche Kommunikations- und Identifikationsräume, die unter dem steuernden Zugriff kultureller Eliten standen. Während sich Werftarbeiter der BRD montags über die „Tagesschau“ und den aktuellen „Tatort“ unterhielten, waren es in der DDR die „Aktuelle Kamera“ und der „Polizeiruf 110“. Der Gewinn eines Mangels an Vielfalt bestand somit im Vorhandensein einer Quelle gemeinsamer Identitätsbildung.

Mit der Etablierung privater Fernseh- und Radiosender in den achtziger und neunziger Jahren wurde dieser einheitlich strukturierte öffentliche Raum aufgelöst. Mit ihm verschwand Schritt für Schritt eine wesentliche Grundlage kollektiver Identität und somit gesellschaftlicher Verständigungsräume. Das Internet trieb diese Entwicklung auf die Spitze. Durch die unüberschaubare Vielfalt der Informations- und Unterhaltungsangebote ist ein einheitlicher öffentlicher Raum endgültig zerbrochen. Mit dem Internet 2.0 wurde darüber hinaus die technische Grundlage für die symbolische Entwertung und Ersetzung der herkömmlichen kulturellen Eliten geschaffen: Fortan konnte jeder Internetnutzer bei geringen Kosten selbst zum Autor in den Weiten des Internets werden. Mit dem Internet der sozialen Medien entstand in einem dritten Schritt die Möglichkeit der Vernetzung sozial ausgegrenzter und kulturell unterprivilegierter Milieus zu politisch mobilisierbaren Gruppen. Aus dem Stammtisch mit seinen kathartischen Funktionen in der Epoche der Vorherrschaft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks werden in der Welt des Internets adressierbare und selbsttätige politische Subjekte. Die politische Willensbildung findet in den selbstreferenziellen Blasen des World Wide Web vielleicht mehr statt als jemals zuvor.

Moralisierung als Schlüssel zum Erfolg

In einer auf Vielfalt, Selbstbezüglichkeit und Unterkomplexität angelegten Medienwelt wird der Populismus nicht nur zum bestimmenden Modus für das Parteiensystem mit allen seinen zentrifugalen Konsequenzen, sondern zu einer gesellschaftlichen Lebensform. Er ist in der technischen Struktur des Internets angelegt und seine Wirkung ubiquitär. Dass auch das Wissenschaftssystem hiervon nicht unberührt bleibt, zeigen zahlreiche Einzelfälle: Baberowski in Berlin, Schönecker in Siegen, Schröter in Frankfurt am Main. Bei Baberowski geht es um seine eigenen Texte, bei Schröter und Schönecker um die Frage, ob es bei der Wahrheitssuche an einer deutschen Universität legitim sein kann, Referenten mit unliebsamen Meinungen „ein Podium zu bieten“.

In all diesen Fällen wirken meist dieselben Mechanismen. Zunächst wird von einer kleinen, meist anonymen Gruppe im Internet eine virtuelle Kampagnenrealität erschaffen. Der Schlüssel zum Erfolg liegt hierbei in der Moralisierung, also einem wissenschaftsfremden Denunzierungscode. Die typisch deutsche Form der moralisierenden Diffamierung ist dabei die reductio ad Hitlerum, die auch in diesen drei Beispielfällen aus allen Ritzen lugt. Was darauf folgt, ist zuverlässig prognostizierbar: Regionale Tageszeitungen steigen in die Berichterstattung ein; kurz darauf folgt die überregionale Presse. Spätestens das löst an den betroffenen Universitäten Diskussionen aus, schließlich gilt es „Schaden“ von der jeweiligen Institution abzuwenden. Mit anderen Worten: Ohne die technischen Möglichkeiten des Internets und die Bereitschaft von Journalisten, das Populismus-Schwungrad dieses Mediums als Transmissionsriemen anzutreiben, sind die genannten Fälle nicht zu erklären.

Die vornehmste Verpflichtung eines jeden Wissenschaftlers

Aber die Rolle der journalistischen Öffentlichkeit in diesen Fällen ist nicht das eigentlich Betrübliche. Betrüblicher sind die Reaktionen des Wissenschaftssystems selbst. Während im Falle Baberowski die ehemalige Wissenschaftsministerin und jetzige HU-Präsidentin Sabine Kunst (SPD) den Angegriffenen zumindest öffentlich verteidigte und sich nunmehr mit Rücktrittsforderungen ihres eigenen Parteinachwuchses konfrontiert sieht, entschloss sich die Universität Siegen selbst zum Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit. Philosophieprofessor Schönecker hatte unter anderen Thilo Sarrazin und Marc Jongen (AfD) als Referenten in ein hochschul­internes Seminar eingeladen, auf dass sich die Studenten argumentativ selbst an den Herrschaften erproben könnten.

Während ansonsten allenthalben mehr Praxisnähe in der Hochschulausbildung gefordert wird (und was könnte das im Fach Philosophie anderes bedeuten als den direkten Diskurs auch mit unliebsamen Autoren?), sahen Hochschul- und Fakultätsleitung es in diesem Falle anders: Sie kritisierten das Seminar wegen mangelnder „politischer Neutralität“. Zwar stehe man zur Wissenschaftsfreiheit und wolle das Seminar auch nicht unterbinden, allerdings komme in diesem Falle die Nutzung der Fakultätsmittel zur Durchführung der Veranstaltung nicht infrage. Da sich die Freiheit von Forschung und Lehre allerdings nicht ohne die erforderlichen finanziellen Mittel realisieren lässt, handelt es sich um den Versuch eines mittelbaren Eingriffs in die Wissenschaftsfreiheit – und zwar durch die Wissenschaft selbst.

Diese selbstzerstörerischen Entwicklungen sind für das deutsche Wissenschaftssystem bedrohlich. Die beschriebenen Ereignisse erscheinen vor allem deshalb so bedeutsam, weil sich echte Wissenschaftsfreiheit ja gerade nicht an den lauen Fällen als solche erweist. Das Grundrecht auf Freiheit von Forschung und Lehre hat in jenen Fällen seinen Probierstein, in denen Wissenschaft an die Grenzen des Common Sense stößt. Es soll dafür Sorge tragen, dass die Wahrheitssuche nicht durch außerwissenschaftliche Motive in Mitleidenschaft gezogen wird. Es auch und gerade gegen Angriffe von außen zu verteidigen, ist daher die vornehmste Verpflichtung eines jeden Wissenschaftlers – auch im wohlverstandenen Eigeninteresse.
Wissenschaftler sind jedoch nicht nur Wissenschaftler, sondern haben auch eine bürgerliche Existenz und können bei entsprechender Medienlage schnell zum Paria mutieren. Wer einem Paria öffentlich beisteht, droht dasselbe Schicksal zu erleiden. Und umgekehrt: Wer auf den Paria eindrischt, darf darauf hoffen, mit einem Fingerschnippen sein Karmakonto mit symbolischem Kapital aufzufüllen. Wissenschaft und Journalismus sind eben immer auch eine Charakterfrage – gerade im digitalen Zeitalter des Populismus.

Dieser Text erschien in der Juni-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

Jetzt Ausgabe kaufen

Anzeige