Geschichtswissenschaft vor Gericht - Die Angst der Forscher vor der Wahrheit

In Polen wurden zwei renommierte Holocaust-Forscher wegen Verleumdung angeklagt. Die beiden Wissenschaftler, die zur Kollaboration der polnischen Bevölkerung während der deutschen Besatzung forschten, haben sich laut des gestrigen Urteils für ihre Forschungsergebnisse zu entschuldigen. Der Fall beunruhigt die internationale Historikerzunft.

Menschen tragen ein Kreuz, während sie an einer Kreuzweg-Prozession im ehemaligen deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager Lublin-Majdanek teilnehmen / dpa
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Autoreninfo

Dr. Matthäus Wehowski hat in Tübingen Geschichtswissenschaft und Slavistik studiert, sowie ein Gastsemester an der MGU in Moskau absolviert. Derzeit ist er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der TU-Dresden tätig. Im November 2020 erschien seine Dissertation mit dem Titel „Deutsche Katholiken zwischen Kreuz und Fahne: Konfessionelle Mobilisierung und nationale Aushandlungsprozesse in Slawonien und Ost-Oberschlesien (1922–1926)“ im Verlag des Herder-Instituts in Marburg. 

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Historikerinnen und Historiker aus aller Welt blickten in den letzten Wochen besorgt in Richtung Polen, da sie eine Einschränkung der freien Forschung befürchteten. Wer möchte gerne zu einem Thema arbeiten, wenn am Ende ein Gerichtsverfahren droht? Gegen die beiden Wissenschaftler Barbara Engelking und Jan Grabowski lief ein Zivilprozess wegen Verleumdung. Engelking ist Gründerin des Zentrums zur Erforschung des Holocaust an der Polnischen Akademie der Wissenschaften, Grabowski forscht an der Uni Ottawa.

Die Klage eingereicht hat die Nichte eines Dorfvorstehers, die den beiden Historikern vorwirft, dessen Andenken beschmutzt zu haben. Das am 9. Februar verkündete Urteil sah zwar von einer Geldstrafe ab, verlangte aber von den beiden Wissenschaftlern eine öffentliche Entschuldigung. Wie ist dieser Prozess in die aktuelle polnische Geschichtspolitik einzuordnen? 

Der Zweite Weltkrieg ist bis heute ein Fixpunkt der polnischen Erinnerungskultur. Von 1939 bis 1944 war das Land besetzt, und die Zukunft der gesamten polnischen Kultur stand in Frage. Im Gegensatz zu anderen okkupierten Gebieten – wie in Frankreich oder Norwegen – installierten die Deutschen in Polen kein Kollaborationsregime. Deutschland annektierte den Westen Polens und richtete im Osten das sogenannte „Generalgouvernement“ ein. Dort hatte Hans Frank als Gouverneur das Sagen, der bis heute als Personifikation des NS-Terrors in Polen gilt.

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Forschung zum ländlichen Raum

In beiden Okkupationszonen begannen SS, Gestapo und sogenannte Einsatzgruppen systematisch damit, polnische Eliten zu ermorden: Professoren, Priester, Offiziere, Ärzte. Der Rest der Bevölkerung sollte den Deutschen als Zwangsarbeiter dienen, erhielt minimale Rationen an Lebensmitteln und war ständiger Willkür ausgesetzt. Das Generalgouvernement war zudem von den Deutschen als „Sammelbecken“ für die jüdische Bevölkerung konzipiert, die aus anderen Teilen Europas dorthin deportiert wurde: Als Zwischenstation vor der Vernichtung in den Konzentrationslagern.

Hier setzt die von Engelking und Grabowski herausgegebene Studie „Dalej jest noc. Losy Żydów w wybranych powiatach okupowanej Polski” (Danach ist Nacht. Das Schicksal der Juden in ausgewählten Landkreisen des besetzten Polens)  an. Bislang standen die Ghettos in Warschau, Łódź und anderen großen Städten im Mittelpunkt der Forschung, während über den ländlichen Raum im Generalgouvernement vergleichsweise wenig bekannt war. Die Quellenlage ist zwar schlecht, der Sammelband wertete allerdings das verfügbare Material umfangreich aus, etwa Gerichtsakten aus der Zeit nach dem Krieg und Aussagen von Zeitzeugen. Insgesamt umfasst die Studie zwei Bände und mehr als 1.600 Seiten: Darunter die strittige Passage über den Onkel der Klägerin. Waren Aussagen der Zeitgenossen und Meinung der Herausgeber klar genug getrennt? Üblicherweise werden solche Fragen im wissenschaftlichen Diskurs behandelt und nicht vor Gericht. Obwohl der Prozess am Ende nur eine symbolische Strafe vorsieht, fürchten viele Historikerinnen und Historiker den Auftakt zu einer Einschränkung der freien Forschung. 

Für den guten Namen

Hinter der Zivilklage steckt der Verein „Reduta Dobrego Imienia“ (Bastion des guten Namens), der es sich zur Aufgabe gemacht hat, den „guten Namen“ Polens auf der ganzen Welt zu verteidigen. Bekannte Aktivitäten des Vereins waren etwa die Kritik an der ZDF-Serie „Unsere Mütter, unsere Väter“, welche die polnische Widerstandsarmee („Armja Krajowa“) einseitig als antisemitisch präsentierte oder gegen die missverständliche Wendung „polnische Konzentrationslager“, mit der eigentlich deutsche Konzentrationslager auf okkupiertem polnischen Territorium gemeint waren. Der regierungsnahe Verein sieht Polen als Opfer einer internationalen Schmierenkampagne. Man wolle die Deutung des Zweiten Weltkriegs verdrehen und letztendlich den Polen die Verantwortung für den Holocaust in die Schuhe schieben, heißt es.

Dem Verein und auch der Regierungspartei PIS geht es um die Deutungshoheit über die polnische Geschichte, die für sie zu einem wesentlichen politischen Instrument geworden ist. Sie greifen ein Motiv auf, das tief in der polnischen Kultur verankert ist und bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht: Polen als Land der Helden, das sich als „Christus der Nationen“ für die Freiheit Europas und christliche Werte aufopfert. Gefangen zwischen den imperialen Großmächten Deutschland und Russland, die tatsächlich im Verlauf der Geschichte wiederholt versuchten, die polnische Staatlichkeit zu zerstören. Jede genaue Untersuchung der Okkupationszeit zwischen 1939 und 1944 stellt dieses tradierte Heldennarrativ jedoch in Frage, weshalb auch die Studie Engelkings und Grabowskis so heftige Reaktionen hervorruft. 

Ein komplexes Bild

Die aus den Lokalarchiven gesammelten Materialien zeigen ein komplexes Bild der Realität im Generalgouvernement, in dem die Zivilbevölkerung jeden Tag ums Überleben kämpfte. Es gab unter der polnischen Bevölkerung Fälle von Kollaboration und Denunziation. Ohne Hilfe war es den Deutschen nicht möglich, Juden von Katholiken zu unterscheiden. Selbst wenn einige Fälle strittig oder uneindeutig sein mögen: Die Fülle an Material ist erdrückend. Richtig ist, dass die meisten von der Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ geehrte Personen aus Polen stammen, insgesamt knapp 7.000. Dies ist um so bemerkenswerter, als die Unterstützung von Juden ein Todesurteil für die gesamte Familie bedeuten konnte. Richtig ist jedoch auch, dass das deutsche Okkupationsregime Bedingungen schuf, die Kollaboration belohnten. Eine Sonderportion Lebensmittel konnte für eine polnische Familie den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen.

Doch es gab auch Fälle, in denen die Kollaborateure aus Überzeugung handelten – Antisemitismus war, wie in ganz Europa, in Polen weit verbreitet. Besonders im ländlichen Raum, wo die Juden oft den Ruf der „Ausbeuter“ hatten, da sie häufig Ladenbesitzer waren und kleinere Kredite an die Bauern vergaben. Die Studie macht auch deutlich, dass es viele Personen „dazwischen“ gab: Sie halfen Juden aus dem engeren Bekanntenkreis, denunzierten aber Fremde. Geschichte als makellose Heldenerzählung scheitert letztendlich an der Realität. Es muss aber auch immer betont werden, dass es ohne die deutsche Okkupation keine systematische Ausplünderung und Ermordung der Juden in Polen gegeben hätte. 

Aufmerksamkeit für das Thema

Die langfristigen Auswirkungen des Prozesses für den historischen Diskurs in Polen sind schwer einzuschätzen. Immerhin schafft er Aufmerksamkeit dafür, dass es in Polen durchaus Forschung gibt, die sich mit dem schmerzhaften und kontroversen Thema Kollaboration beschäftigt. Man darf nie vergessen, dass die kritische Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in Deutschland keineswegs selbstverständlich war und selbst heute noch vor Gericht über die Arbeit von Historikern verhandelt wird.  Es ist zu hoffen, dass zukünftige Auseinandersetzungen um die Geschichte zwischen Wissenschaftlern und nicht zwischen Anwälten ausgetragen werden.  
 

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