Wahre Werte - Relativisten schließen die offene Gesellschaft

In der Postmoderne ist alles relativ geworden: Erkenntnisse, Wahrheiten, sogar die Menschenwürde. Das entlastet einerseits das eigene Gewissen, führt andererseits aber auch zu Diskursverweigerung und Demagogie. Am Ende bedroht die Beliebigkeit die offene Gesellschaft.

Das Gute ist nicht relativ / dpa
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Autoreninfo

Michael Andrick ist Philosoph und Kolumnist der Berliner Zeitung. In seinem Buch „Erfolgsleere“ bietet er eine Erklärung für massenweisen, fraglosen Konformismus an.

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Die populären Irrtümer des Relativismus lauten: „Jeder hat seine eigene Realität!“, „Wahrnehmung ist Wirklichkeit.“ Anders gesagt: „Du hast recht und ich habe recht, jeder auf seine Weise!“

Der Relativismus besagt, dass jede Ansicht nur eine Ansicht sei. Niemandes Meinung könne Wahrheit für sich beanspruchen, denn jeder stehe ja auf einem einzigartigen Standpunkt, den keiner teile. Und damit sei die eine Ansicht des Einen so gut wie jede andere Ansicht jedes Anderen.

Nun ja: Hätte jeder seine „eigene Realität“, dann hätten wir kein gemeinsames Weltverständnis. Wir könnten uns dann nur subjektive Eindrücke berichten, aber nie gemeinsame Orientierung gewinnen. Die relativistische Kernthese – jeder habe seine eigene Wirklichkeit – könnten wir dann auch nicht gemeinsam wissen. Wäre der Relativismus wahr, so wäre er folglich bloß „genauso“ wahr oder falsch wie jede andere Aussage. Es gäbe keinen Grund, ihn zu akzeptieren. 

Ein geistiges Garnichts

Wir leben denn auch unrelativistisch und verwenden Kriterien der Wahrheit. Sage ich den Ausgang eines Experiments vorher und weise ich ihn wiederholt nach, etabliere ich eine Wahrheit der Naturwissenschaft. Mahne ich, dass Kinder Würde haben und deshalb nicht als bloße Instrumente zur Minderung eines Risikos Erwachsener gebraucht werden dürfen, so sage ich eine moralische Wahrheit unseres Grundgesetzes. 

Für Relativisten, die hier einwenden wollten, aus ihrer Sicht seien Experimente unnötig oder ihrer Meinung nach gelte Art. 1, Abs. 1 des Grundgesetzes nur für Erwachsene, haben wir kein Verständnis.

Wie konnte dieses geistige Garnichts, der Relativismus, bestimmenden Einfluss in unserer Kultur gewinnen? Ich sehe seine Anziehungskraft darin, dass er systemgerecht unser Gewissen entlastet. Doch die sittliche Desorientierung, mit der Relativisten diese Beruhigung bezahlen, ist am Ende ruinös für die offene Gesellschaft. 

Nicht-Relativisten wissen, dass sich unsere Sozialordnung aus ökologischen Gründen ändern muss; es herrscht Krisenbewusstsein. Viele fragen, ob sie zu einem nicht nachhaltigen System überhaupt beitragen dürfen. 

Ein leichtes Spiel für Demagogen

Diese Gewissensnot behebt der Relativismus: Denn gibt es bloß Ansichten, keineswegs aber moralische Wahrheiten, denen fundamentale Rechte des Menschen entsprechen, so gibt es keine wirklichen Pflichten. Unsere Rolle im System ist dann auch kein Problem.

Nach dem Grundsatz der Affektspiegelung wird diese psychische Entlastung umso mächtiger und gemeinschaftsstiftender, je mehr Menschen sie einander gewähren. Wir lieben den, der uns das Herz leicht macht.

Wo aber der Relativismus sich kulturell durchsetzt, da verarmt der politische Diskurs, und in der Folge hat Demagogie leichtes Spiel. Wie kommt das?

Als Demokrat will man mit anderen gemeinsam handeln und dieses Handeln voreinander verantworten können. Dazu benötigt man geteiltes Wissen, also auch den kritischen Austausch darüber, was eigentlich der Fall (also wahr) ist

Unterwerfung unter den Mainstream

Dem Relativisten scheint diese Mühe vergebens: Er erwartet nicht, mit anderen Wissen herstellen zu können. Vielmehr wird er einfach seine Ansichten kundtun und die meinungsmeteorologische Lage beobachten, die sich daraus ergibt. 

Ohne die Wertschätzung kritischer Debatte aufgrund geteilten Wissens aber bleibt dem Relativisten in Leben und Politik am Ende stets nur Unterwerfung unter eine der angebotenen Ansichten und ihre Parteigänger übrig. Die Autorität des besseren Grundes hat abgedankt.

In relativistisch unterspülten offenen Gesellschaften wird es medial machtvoll präsentierten Narrativen (ganz unabhängig von ihrem Tatsachengehalt) deshalb sehr leicht, sich durchzusetzen und sich (wiederum tatsachenunabhängig) sehr lange zu halten. 

Denn kritische Abwägung von Gründen ist in der Regel nicht die Stärke derer, die nur zu gerne glauben, nichts sei letztlich ethisch von ihnen gefordert. Sie werden einfach die Vormachts-Meinung suchen und sich ihr fügen.

So werden Relativisten leicht Opfer schon einfachster Demagogie und schließen dann als Täter mit größtem Gleichmut auch die offene Gesellschaft, sollte die sozial mächtigste „Ansichtsfraktion“ dies von ihnen fordern.

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