Peter Sloterdijk im Interview - „Die Welt auf Distanz halten“

Ob Trump, Rechtspopulismus oder Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen: Für den Philosophen Peter Sloterdijk sind die Proteste gegen die Autorität des Staates und der Wissenschaft Ausdrucksformen eines „Neozynismus“. Impfstoffe gelten ihm als Manifestationen des objektiv gewordenen Geistes.

Peter Sloterdijk spricht im Interview über Formen des „Neozynismus“ / Antje Berghäuser
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Autoreninfo

Stefano Vastano, italienischer Journalist aus Rom, lebt und arbeitet seit 1989 in Berlin. Er schreibt für die italienische Wochenzeitung L'Espresso und für eine Reihe deutscher Zeitungen. 

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Peter Sloterdijk ist einer der einflussreichsten Philosophen der Gegenwart. Im jüngsten Intellektuellen-Ranking des Cicero belegte Sloterdijk zum wiederholten Male den ersten Platz.

Herr Sloterdijk, das Virus spricht innerste Phobien an. Auch in Deutschland gibt es Demonstrationen von Querdenkern, die alle Impfungen und deren Nachweise ablehnen. Ist Covid denn ein Virus, das neben Krankheit mit schweren Verläufen auch vergessen geglaubte Formen schwerer Irrationalität reproduziert? 

Der Verdacht trifft sicher auf viele Betroffene zu. Das Nichtrationale, das uns irritiert, nimmt ja die Form eines unsichtbaren Eindringlings an. Wir erleben eine der heimtückischsten Formen des Beängstigenden: als Invasion eines obskuren Einwanderers, der sich um Grenzen und Leugnungen nicht kümmert. Dabei kommt eine Dunkelzone der Wirklichkeit zum Vorschein. Sie ist auf unheimliche Weise bevölkert, unter anderem von den Viren, diesen Ureinwohnern der terrestrischen Tiefenzeit. Viele sind in uns heimisch, gegen einige von den fremden und gefährlichen besitzen wir Abwehrkräfte, aber nicht gegen alle.

Sie haben sich schon früh mit den mentalen Reaktionen auf irrationale Katastrophen befasst. Berühmt wurden Sie durch die Veröffentlichung des Großessays „Kritik der zynischen Vernunft“ im Jahr 1983. Haben Sie, fast 40 Jahre später, den Eindruck, dass die Invasion des Coronavirus und das Chaos der Weltlage neue Formen des Zynismus entfesseln?

Ich muss sogar zugeben, dass mein Buch, obwohl ich dachte, es sei auf der Höhe der Zeit, der Schwerkraft des Vergangenen zu stark verhaftet blieb. Als ich den modernen Zynismus als das „aufgeklärte falsche Bewusstsein“ definierte und überzeugt war, der historische Höhepunkt zynischer und immoralistischer Strukturen liege in den zwanziger und dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts, habe ich die Eigendynamik des Phänomens in eigenen Tagen unterschätzt. Inzwischen darf als sicher gelten, dass wir den Gipfel einer neozynischen Welle erst vor uns haben. Der Trumpismus in den USA und die rechtsextremen Bewegungen in Europa sind in meinen Augen allesamt Ausdruck neozynischer Reaktionen gegen das Realitätsprinzip und seine rationalen Forderungen. Es scheint kein Zufall zu sein, wenn in solchen Milieus die Leugnung der Corona-Gefahr besonders gedeiht.

Was sind die wesentlichen Unterschiede zwischen den Formen zynischer Irrationalität in den 1920er Jahren und heute?

Den Hauptunterschied macht zweifellos der Meteoriteneinschlag des Krieges von 1914 bis 1918. Er stürzte die Europäer und die übrige Welt in einen Krater der Verwüstung und des Todes. In ihrer Monstrosität sprengte diese Erfahrung alle Normen der symbolischen Ordnung bisheriger Zivilisation. Der Weltkrieg lieferte die Matrix für die neuen Formen des Zynismus und Irrationalismus auf modernem Boden. Es war vor allem die Außerkraft­setzung des Fünften Gebots durch den Krieg, die ihre verheerenden Wirkungen auch nach Kriegsende verbreitete – viele Kämpfer verweigerten sich der Rückkehr in die Zivilität, so die SA-Leute in Deutschland und die Kampfbünde (fasci) in Italien. Eine Kultur, die das Tötungsverbot nicht mehr beachtet, kündigt den Zivilisationsvertrag auf. Was die 1920er Jahre bezeichnete, war nicht so sehr die neue Amüsierkultur und die Stimmung des Tanzens auf dem Vulkan. Es war vor allem die inflationäre Abwertung des menschlichen Lebens. Als das Gerücht von der Aushungerung der Ukraine durch Stalins Blockade im Winter 1932/1933 nach Deutschland durchsickerte, notierte Oswald Spengler: Wer fragt jetzt noch nach den Millionen, die im Osten umkommen? Mögen sie zugrunde gehen! Man muss diesen Ton im Ohr behalten, um zu verstehen, worum es bei krassen Äußerungen dieses Typs geht. Man wählt die kalte Pose und verweigert die Empathie – ohnehin sind solche Katastrophen für die Einfühlung zu groß. Die kalt-freche Pose ergibt genau die neozynische Rhetorik, die wir heute bei Negationisten rund um den Planeten hören, etwa bei Bolsonaro, der über eine „kleine Grippe“ spottete, während in seinem Land eine halbe Million Gräber ausgehoben wurden. 

Deutet die Weigerung, sich impfen zu lassen oder die Existenz eines potenziell tödlichen Virus zuzugeben, auf eine unmenschliche Missachtung des Lebens anderer hin?

Die mehr oder weniger explizite Botschaft derjenigen, die die Existenz des Virus, die Wirksamkeit der Impfstoffe oder die Notwendigkeit von Kontrollen leugnen, ist deutlich: „Lasst uns mit euren Toten in Ruhe!“ Keine Bilder mehr von Intensivstationen, keine Ermahnungen von oben! Einen Arzt, wie den aus Bergamo, der angesichts so vieler verlorener Leben nur noch sagen konnte: „io piango dentro“, „ich weine in mich hinein“, den möchte man nicht mehr hören. Eine Million Tote in Russland? Und wenn schon! Mit ihrem Nein zu den Nachrichten von der Front des unwillkommenen Realen hoffen die Leugner – zurückgreifend auf magisches Denken – sowohl die Anwesenheit des Virus als auch die Arbeit all derer zu neutralisieren, die um das Leben der Kranken kämpfen. 

Die Kälte des Neozynismus kennt keine politische Farbe; sie kann sowohl rechts als auch links auftreten.

Von Ernst Jünger ist bekannt, dass er im Ersten Weltkrieg die Idee hatte, aus dem Mittelfingerknochen eines im Grabenkampf gefallenen Kameraden sich ein Zigarettenmundstück anfertigen zu lassen. Er verzichtete darauf, weil an dem Knochen noch zu viele Fleischreste klebten.

Das erinnert an Bertolt Brechts Kommentar zur Nachricht vom Abwurf der Atombombe auf Hiro­shima: Was für ein gigantischer Furz! 

Für neozynische Haltungen ist das Verlangen bezeichnend, die Welt und ihre unbarmherzige Realität mit kalten Kommentaren auf Distanz zu halten.

Jünger war ein begeisterter Entomologe, die Wissenschaft der Insekten war seine Passion. Brecht näherte sich der Frage nach der Bedeutung der Wissenschaft in seinem Meisterwerk von 1939 „Leben des Galilei“. Beide stellten die Autorität der Wissenschaft nicht infrage. Bei ihnen blieb die kalte Attitüde mit dem Geist der Wissenschaft kompatibel. Kann man neuerdings auch so weit gehen, die Autorität der Wissenschaft infrage zu stellen, ebenso wie die des Staates und der politischen Parteien?

Die Eskalation der Realitätsabwehr greift quasi folgerichtig auf die Wissenschaftsabwehr über. In Hegels Sprache bilden Wissenschaften, staatliche Institutionen und etablierte Medizin etwas, was er Formen des „objektiven Geistes“ nannte. Auch Vakzine dürfen als Manifestationen des objektiv gewordenen Geistes gelten. Gegen solche Objektivität rebelliert der subjektive, der romantische, der anarchische Geist. Der spürt, wie seine kindlichen Projektionen von unverwundbarer Selbstgenügsamkeit mit den Zumutungen des Sozialen und des Institutionellen kollidieren. Die Weimarer Zyniker hatten summa summarum auf die Abgründe des Krieges reagiert – für sie war der zivilisatorische Überbau im Ganzen, die symbolische Ordnung als solche, ins Nichts versunken. Der Dadaismus war eine Blüte der Absurdität, er rief den Generalstreik aus gegen die Lüge einer Kultur, die diesen Exzess in sich trug. Man fragt sich allerdings, worauf die Verweigerer von heute sich berufen, außer auf ein diffuses Unbehagen in der Kultur. Sie haben von keiner Fronterfahrung zu berichten, sie tragen keine Traumaspuren in sich, die auf Krieg und Grenzsituationen zurückgehen. In der Mehrheit sind sie Besiegte eines anderen Typs, vermutlich Menschen, denen es nicht gelingt, so zufrieden zu sein, wie man es ihnen nach ihrer Versorgungslage unterstellen würde. Vor 150 Jahren hat Dostojewski den Typus des Mannes mit gescheiterten Ambitionen heraufkommen sehen, als er von den „Erniedrigten und Beleidigten“ erzählte. Solche Gestalten steigen jetzt massenhaft aus den Katakomben der Vorstädte. 

De facto spaltet der antirealistische Neozynismus Europa in zwei Hälften: Osteuropa ist nicht nur in den Händen ultranationalistischer Parteien und illiberaler Autokraten wie Orbán. Auch in Deutschland regt sich eine Partei wie die AfD. Woher kommt die relative Stärke rechtsextremer Parteien im globalen Zeitalter?

Es scheint, das Motiv des Widerstands hat das Lager gewechselt. Als Camus über den Menschen in der Revolte schrieb und Sartre dozierte, „on a raison de se révolter“, glaubte man, sie sprächen für das kosmopolitische Subjekt von morgen, den Menschen überhaupt, der sich weigert, „in der Zustimmung zu versinken“. Seit dem Aufkommen der nationalrevolutionären Bewegungen und ihrer Renaissance muss man sich an den Gedanken gewöhnen, dass auch lokale Einheiten sich gegen den Gang der Dinge auflehnen. Manche Radikalkonservative in Polen behaupten, in Brüssel sitze eine Verschwörung zur Fortsetzung des Hitlerismus mit anderen Mitteln. Orbán gibt vor, die dekadenten Liberalen aus dem Westen wollten das gesunde Land Ungarn durch Asylanten und Schwule unterwandern. Was zeigt, wie der Glaube, Widerstand zu leisten, ein Einfallstor für Irrationalitäten öffnet. 

Seltsam, dass eine so anarchische und kosmophobe Anklage sich mit dem Mythos des starken Mannes vermischt. Ist Wladimir Putin nicht die Verkörperung des superzynischen Tyrannen unserer Zeit?

Der antike Kyniker war an der Pflege seiner Autarkie interessiert. Er war ein Einzelner, der asketisch „gemäß der Natur“ zu leben versuchte, mittellos und freimütig bis zur Schamlosigkeit wie ein streunender Hund. Der moderne Zyniker verschanzt sich lieber hinter dem Narrativ eines „Wir“, er pflegt das Phantom einer ursprünglichen Gemeinschaft, zu der er von Geburt an zu gehören behauptet. Er appelliert an ein Kollektiv, das mit ihm gemeinsam den Rest der konfusen Welt verachtet. Deutschland wieder groß machen, mit Adolf Hitler! Amerika wieder groß machen, mit Trump! Frankreich wieder zur Heimat der Einheimischen machen, mit Zemmour! Den Demagogen ist es egal, dass sie im Unrecht sind – im Gegenteil, es gehört zum Programm. Nur wer im Zeichen des Irrtums triumphiert, triumphiert wirklich!

Und wegen der Invasion „fremder Agenten“, ob es Migranten sind oder Viren, beschwört der Neozyniker das thaumaturgische Eingreifen des Souveräns, des starken Mannes, der uns mit charismatischer Energie zur Ordnung zurückführt?

Aus anthropologischer Sicht sind Menschen Lebewesen mit stark verlängerten Kindheits- und Unreifephasen. Das macht den Charme von Homo sapiens aus, es schließt das Risiko des chronischen Infantilismus ein, sowohl religiös als auch politisch. In krisengeschüttelten Zeitaltern kommt es leicht zu Synergien zwischen infantilen Populationen und Kandidaten für die Rolle des starken Mannes. Die monotheistischen Religionen konzipierten Menschen explizit als immerwährende Kinder. In einer Kultur wie der chinesischen, die keinen Monotheismus entwickelte, diente der Kaiser als funktionales Äquivalent des Einen Gottes. Von Mao bis Xi Jinping blieb die quasitheologische Analogie des Großen Vorsitzenden mit der des Kaisers in Kraft. 80 Prozent des chinesischen Volkes scheinen heute damit einverstanden zu sein, dass seit kurzem jeder ihrer Schritte von einer Auge-Gottes-artigen Überwachungstechnik registriert wird. Offenbar befriedigt das ein virulentes Massenbedürfnis nach dem Glück in der behüteten Infantilität. 

Das bedeutet doch, dass die größten Tyrannen der Welt, von Putin bis Xi Jinping, von Erdogan bis Bolsonaro, ihrerseits nur in dem Maß Erfolg haben können, wie sie Botschaften von verlorenen Kindern an ihresgleichen senden? 

Man muss in den Gesichtern lesen. Wer sieht denn nicht in Putins Miene die erstarrten Tränen des abgewiesenen Kindes? In Trumps Gesicht, in seinen prahlenden Gesten ist der Trotz des frustrierten Bengels so deutlich zu sehen, dass man nicht lange nachdenken muss, an welche Klientel er sich wenden wird. Er hat das Zeug dazu, jene Hälfte der US-Bevölkerung an sich zu binden, für die der Mythos vom amerikanischen Traum am Zerplatzen ist und die seiner illusorischen Wiederherstellung entgegenfiebert. 

Nichts hat sich daher als falscher erwiesen als die Prophezeiung des amerikanischen Soziologen Francis Fukuyama, der nach dem Fall der Berliner Mauer das „Ende der Geschichte“ nahen sah …

… was zeigt, mit einem glänzenden Irrtum kann man erfolgreicher sein als mit einer braven Analyse. Fukuyamas damalige Schlüsse sind ohne Weiteres nachzuvollziehen: Die Sowjetunion war implodiert, die USA blieben als einzige Supermacht übrig. Was sollte ein von Hegel und Kojève inspirierter Politologe anderes folgern als das „Ende der Geschichte“, das heißt den Eintritt der Mehrheitswelt in ein Regime des immerwährenden Konsumlebens? In philosophischer Sicht meinte das den Zustand, in dem allen Erdenbürgern virtuell die Befriedigung ihres Strebens nach Anerkennung formal zugesagt ist, zugleich auch das Recht auf Regression in den Zustand des entspannten Haustiers. Fukuyama war nicht wirklich naiv, er sah voraus, dass nach dem Ende des Kalten Krieges verdeckte Quellen sozialer Unzufriedenheit viel leichter aufbrechen können. Die Geschichte der vergangenen 30 Jahre gibt seinen dunkleren Vorahnungen recht. Der Ausgang des Menschen aus „selbst verschuldeter Unmündigkeit“ – um Kants Formel für das Potenzial an chronischer Infantilität zu zitieren – fand nicht so wie erwartet statt. An seiner Stelle machten sich alle möglichen Aufbrüche ins Ressentiment bemerkbar und ebenso viele Evasionen in den Viktimismus, in die Xenophobie, die souveränistischen Phantasmen und die neopopulistischen Trotzbewegungen. Die Kämpfe um Anerkennung sind heftiger geworden denn je. Mit Hilfe radikal-charakterloser Medien treiben die Vorsprecher gekränkter Minoritäten die Skandalkonsumenten vor sich her.

Könnte es sein, dass die Tyrannei des Irrationalen genau zu dem Zeitpunkt in den Westen einzudringen begann, als die Berliner Mauer fiel?

Mit der Implosion des kommunistischen Systems haben wir etwas Entscheidendes verloren, nämlich die Fähigkeit, die globale Situation so zu vereinfachen, wie es der Mythos der zwei „Blöcke“ zwischen 1945 und 1990 erlaubte. Im Rückblick erkennt man: Es waren die Diktaturen des Ostens, die bei uns in Westeuropa die Ära der Sozialdemokratien ermöglicht haben. Die konnten sich angesichts der „Zustände da drüben“ jederzeit mit der Aura des kleineren Übels umkleiden. Als die Mauer fiel und die Sowjetunion von der Bühne verschwand, verlor die klassische Sozialdemokratie als historische Alternative zum Kommunismus ein Gutteil ihrer Motive. Sie hatte genügend Zeit gehabt, sowohl die konservativen Parteien und das Bildungswesen als auch die Lebensformen der klassischen Kleinfamilie zu durchdringen. „Abschied vom Proletariat“, Kleinbürgertum forever. 

Helmut Kohl und Angela Merkel wären also zwei große sozialdemokratische Kanzler gewesen?

Die Politik ist die Sphäre, in der die Wörter und die Dinge so weit auseinanderklaffen wie nirgendwo sonst. Die Wirklichkeit liebt die Pseudonyme. François Mitterrand zum Beispiel war ein fast klassischer sozialdemokratischer Präsident, obschon er unter der Maske des königlichen Sozialisten auftrat. Und doch, seit dem Fall der Mauer läuft die hohe Erfolgsphase der Sozialdemokratien aus, sie befasst sich jetzt eher mit der Verteidigung von Besitzständen. 

Ein weiterer Traum ist zerplatzt, jener von Joschka Fischer, dem ehemaligen Außenminister der Grünen, der von den Vereinigten Staaten von Europa zu träumen schien.

Die Europäische Union ist durch den Rückzug der Briten auf ein realistisches Format zurückgeschnitten worden, bei nüchternem Licht kann man das sogar gutheißen. Als Churchill in der ominösen Zürcher Rede vom September 1946 die „Vereinigten Staaten von Europa“ evozierte, war ja nie daran gedacht, sein Land könne daran beteiligt sein. Im Gespräch mit de Gaulle erklärte der britische Premier, dass die Briten, müssten sie zwischen Europa und dem offenen Meer wählen, immer für das offene Meer votieren würden. Nach dem Weltkrieg waren im United Kingdom die imperialen Illusionen noch virulent, und wie viele Relikte einer haltlosen Großraumfolklore über der Insel schweben, haben die letzten Jahre gezeigt. 

Könnte es sein, dass mit dem Aufkommen des Internets, der digitalen Kommunikation und von Social Media jeder Form von utopischem Denken, von universellen Visionen die Kraft genommen wurde?

Die Utopie des freien Netzes war kurzlebig, sie hat ihr Leben unter den Schlägen der nationalen Zensuren ausgehaucht. In Russland oder China, in der arabischen Welt, in den asiatischen und afrikanischen Diktaturen meint „Navigation“ im freien Datenmeer nur noch eine naive Metapher. Durch den rapiden Ausbau staatlicher Überwachungsapparate haben die Netzfantasien sich in Albträume verwandelt. Ganz zu schweigen von den Vorgängen in den Netzwerken selbst, die oft gruppenautistische Blasen unterstützen, wildes Telesektentum erlauben und Exhibitionismen entfesseln.

Junge Menschen besetzen jedoch die Schauplätze der G-20-Konferenzen mit Fridays-for-Future-Märschen, um gegen die Zerstörung der Ökosysteme des Planeten zu protestieren. Wenn eine Utopie noch lebendig ist, hat sie sicherlich die Farbe Grün.

Es wäre ein Irrtum zu glauben, sie gehöre einer Partei. Grüne Imperative sind in tausend lokale Programme übersetzt worden, das Urheberrecht am Umweltgedanken hat sich überparteilich verteilt, obwohl den Grünen das Verdienst nicht abzustreiten ist, das Thema Umwelt vor anderen an die erste Stelle gehoben zu haben. In den USA sind grüne Anliegen eher bei den Demokraten zu Hause, in Deutschland hat Angela die Plötzliche mit ihrer Wende gegen die Atomkraft die Grünen weit links überholt. Grün ist keine Utopie, sondern eine strikte Topie – falls der Ausdruck erlaubt ist. Er enthält die Frage, wie wir als Ortskräfte der Erde leben wollen. 

Was halten Sie von dem Projekt „Gaia“ Ihres Freundes Bruno Latour? Sollte die Philosophie das grüne Feld betreten, um uns daran zu erinnern, dass wir definitiv nur eine planetarische Ökosphäre haben?

Latour und ich haben uns gelegentlich über politischen Monotheismus ausgetauscht. Offensichtlich ist der nicht allgemeinheitstauglich, weil „Aton“, „Jahwe“, „Gott“, „Allah“ „Rama“ und andere Namen des Einen nicht dasselbe meinen. Der „Mono-Geismus“ hingegen setzt sich ganz ruhig durch, nicht mit Predigten, einfach durch geologische und meteorologische Aufklärung. Doch jetzt tut sich ein neuer tiefer Graben auf. Latour hat das Weltproblem der „anthropozänischen“ Ära auf den Begriff gebracht, indem er die Redensart „Wir leben wohl nicht auf demselben Planeten“ wörtlich nahm. Er kam so zu der Unterscheidung zwischen denen, die willens sind, den planetarischen Lockdown zu akzeptieren und die Erde als Heimatstern zu bewohnen, und den Globalisierern: Diese gleichen illoyalen Extraterrestrischen, die den Planeten ausplündern, um weiterzuziehen, wenn die Lage hier unlebbar geworden ist. Ich vermute, die Unterscheidung zwischen den „Erdverhafteten“ und den „Erdüberfliegern“ wird für das kommende Jahrhundert bedeutender und produktiver werden als die altlinke Unterscheidung von Bourgeoisie und Proletariat, die überwiegend Unheil bewirkt hat. 

Das einzig „Positive“, das die Pandemie wie auch das Klimaproblem uns in Erinnerung gerufen haben, ist die Bedeutung der irdischen Lufthülle. Das zwingt uns, die überaus reale geopolitische Dimension der Atmosphäre so ernst zu nehmen wie nie zuvor.

Die neue Aufmerksamkeit für Klimafragen bringt philosophisch den Impuls mit sich, nach dem Prinzip Wirklichkeit neu zu fragen. Seit Jahrtausenden galt, wirklich sei nur, was auf festem Boden gründet. Sogar Jesus, ansonsten stark pneumatisch engagiert, warnte vor Konstrukten auf losem Sand. Heute ist es an der Zeit, den sehr dünnen Film der Luft, die atembare Schicht der Erdatmosphäre, als das eigentliche ens realissimum zu begreifen. Ein Planet ohne Atmosphäre wäre nur totes Gestein. Leben ist ein atmogenes Phänomen. Bruno Latour und Peter Weibel haben jüngst den ätherischen, atmogenen und biogenen Film, der die Erde umhüllt, in einer gemeinsamen Arbeit als die effektive Quelle des Wirklichen, als schwebendes „Fundament“ aller vitalen und zivilisatorischen Phänomene hervorgehoben. Latour und Weibel nennen den biogenen Film der Erdhülle Critical Zone – einen Ausdruck des Pariser Geo-Biologen Jérôme Gaillardet aufnehmend, mit dem der metaphysisch belastete Begriff „Welt“ neu definiert wird. À propos Atmosphärenbewusstsein: Erinnern wir uns an die Antwort, die Marcel Duchamp gab, als man ihn fragte, was er denn nach seinem Abschied von der Kunst betreibe: „Ich bin ein Atmer.“ 

Kehren wir nach Deutschland zurück, wo sich ein ungewöhnliches Experiment entwickelt: die Ampelregierung zwischen der SPD, den Grünen und den Liberalen. Haben die Deutschen nach den endlosen Merkel-Jahren Lust, mit einem neuen politischen Projekt zu experimentieren?

Ich habe den Merkel-Zustand einmal als „Lethargokratie“ bezeichnet – das meint eine Atmosphäre, in der Regierung und Regierte sich gegenseitig einschläfern. Heute haben die meisten Deutschen offensichtlich große Lust, aus dem resignativen Dauer-Merkelismus zu erwachen. Der russische Künstler Ilja Kabakow hat gelegentlich bemerkt, die Russen hätten den Kommunismus erduldet, so wie man einen Schneesturm über sich ergehen lässt. Einen Sturm kritisiert man nicht, man kann ihn nur überstehen. Vielleicht beginnen die Deutschen zu begreifen, dass es außer dem „Merkel-­Schneesturm“ noch andere klimatische Optionen gibt. Mal sehen, ob es dem Bundeskanzler Olaf Scholz gelingt, seine Visionen mit denen der Grünen und der Liberalen zu vereinen. 

Woran arbeitet der Philosoph Sloterdijk in der Zwischenzeit? 

Ich habe gerade ein Buch beendet mit dem etwas seltsamen Titel „Wer noch kein Grau gedacht hat“. Es enthält so etwas wie eine Farbenlehre für die zeitgenössische Welt. Eine „graue Romantik“ kann uns als Vorschule des Realismus dienen. Ich halte eine Lobrede auf die mittleren Töne – ausgehend von Paul Cézannes Diktum: „Wer noch kein Grau gemalt hat, ist kein Maler.“ Mir schien es plausibel hinzuzufügen: Wer noch kein Grau gedacht hat, ist kein Philosoph. 

Das Gespräch führte Stefano Vastano.

 

Dieser Text stammt aus der Februar-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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