Netflix-Serie - „Squid Game“ simuliert Gesellschaftskritik

Mit der erfolgreichen Netflix-Produktion „Squid Game“ wird Kapitalismuskritik zur käuflichen Ware und zur kostümierten Pose. Die Ideologiekritik erweist sich als Teil jener Ideologie, die sie kritisiert.

Die Marketingmaschine läuft: Das Team von „Squid Game“ in Hollywood / picture alliance/dpa/Invision/AP | Jordan Strauss
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Sie ist die erfolgreichste Serie des an Erfolgen nicht armen Medienunternehmens Netflix. In den ersten vier Wochen wurde sie von über 142 Millionen Netflix-Accounts aus aufgerufen. In über 90 Ländern belegte sie Platz 1 des nationalen Netflix-Rankings. Und aufgrund ihrer drastischen Gewaltdarstellungen ist sie zugleich hoch umstritten: die südkoreanische Serie „Squid Game“.

Setting und Plot der Serie sind schnell erzählt: Hauptprotagonist ist der arbeitslose und hochverschuldete Geong Gi-hun. Eines Tages bekommt er von einem Unbekannten das Angebot, an einer Spielshow teilzunehmen. Gi-hun sagt zu. Auf einer einsamen Insel spielen 456 Kandidaten um den millionenschweren Hauptgewinn. Jede Runde besteht aus einer Art Kinderspiel. Doch schon bei der ersten Runde wird klar: Die Sache ist kein Spaß. Wer verliert, wird auf der Stelle getötet. Nach dem ersten Durchgang leben noch 201 Spieler.

Wegen der drastischen Gewaltdarstellungen kam „Squid Game“ in Deutschland umgehend in die Kritik. Die Vorwürfe waren absehbar: Die Serie sei gewaltverharmlosend, die Tötungsszenen zu brutal, das Gesamtsetting zu zynisch, sie gefährde die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Natürlich geht diese Art von Kritik vollkommen an der Sache vorbei. Das Problem der Serie liegt ganz woanders. Doch dazu später.

Nordkorea ist begeistert

Wo es Kritik gibt, da gibt es auch Verteidiger. Die meisten Befürworter der Serie erkannten in ihr eine eindringliche Kapitalismuskritik und eine Parabel auf die Leistungsgesellschaft Südkoreas. Auch das Regime in Nordkorea schloss sich umgehend dieser Lesart an und sah in „Squid Game“ die Realität in kapitalistischen Gesellschaften abgebildet. Doch diese affirmierende Wahrnehmung der Serie ist mehr als naiv. Auch dazu später mehr.

Zunächst jedoch noch einmal zurück zur Geschichte selbst. Die Kandidaten bewegen sich in den Kulissen einer Gameshow, die aber auch an ein Gefängnis erinnern. Die Mitarbeiter – oder sind es Wächter? – tragen unifarbene Overalls und Masken. Jede Bewegung wird mit Kameras überwacht. Und es gibt, wie bei jedem Spiel, Regeln. Die wichtigste lautet: Wer sich weigert weiterzuspielen, wird disqualifiziert. Mit anderen Worten: getötet.

Nachdem bei der ersten Runde 255 Menschen erschossen wurden, ist das Entsetzen groß. Und tatsächlich gibt es noch eine weitere Regel: Wenn sich eine Mehrheit dafür findet, kann das Spiel abgebrochen werden. Und tatsächlich verlassen die überlebenden Kandidaten das Spiel, nur um – und das ist eine wichtige Pointe – dann doch freiwillig zurückzukehren. Denn in der realen Welt scheitern sie. 187 Spieler beginnen die zweite Runde. An deren Ende sind es noch 108. Insgesamt werden sechs Runden gespielt.

Platte Alltagsweisheiten

Man kann in dieses Szenario allerlei platte Alltagsweisheiten hineinlesen: dass der Mensch des Menschen Wolf ist, dass Menschen nur auf ihren Vorteil bedacht sind, rücksichtslos und brutal, dass Menschen für Geld bereit sind, alles zu tun, dass im Kapitalismus fiese Reiche abhängige Arme ausbeuten und so weiter. Wer so ansetzt, geht dem Projekt auf dem Leim – und der Gesellschaft, die es hervorgebracht hat. Also uns selbst.

Denn natürlich ist „Squid Game“ ebenfalls ein hochkapitalistisches Produkt. Seit Mitte September blüht der globale Merchandise-Markt, die PR-Aktionen von Netflix fluten weltweit Shopping-Malls und Einkaufszentren, die Kostüme zur Serie fanden schon zu Halloween reißenden Absatz, und selbst die in der Serie verwendeten Dalgona-Candies entwickelten sich zu einem weltweiten Renner. Vor allem aber zeigen die Social-Media-Aktivitäten von Milliarden Nutzern, dass „Squid Game“ die globale Populärkultur infiltriert hat.

Konsumierbare Konsumkritik

„Squid Game“ ist – auch ästhetisch – massenkonsumierbare Konsumkritik. Tatsächlich benutzt und bekräftigt sie die Logik eines entgrenzten Kapitalismus und implantiert sie in die Gehirne der Konsumenten. Kapitalismuskritik wird endgültig zur käuflichen Ware und zur kostümierten Pose. Die Ideologiekritik erweist sich als Teil jener Ideologie, die sie kritisiert. Die Konditionierung des Mediennutzers zum sich kritisch fühlenden Kunden ist vollständig.

Vor diesem Hintergrund wird der kleinbürgerliche Appell an Solidarität und Mitmenschlichkeit, den man aus der Serie herauslesen kann, besonders unangenehm: Er entlarvt sich als ein ideologisches Marketing-Tool. Die Entmündigung des Kunden wird so eine doppelte: als verführter Konsument und weltanschauliche auf Linie gebrachter Kritiksimulant, der sich über einen Mangel an Zusammenhalt beschwert, statt ökonomische Strukturen in Frage zu stellen. So gesehen ist „Squid Game“ tatsächlich ein problematisches Format.

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