Nationalsozialistische Architektur - Rassenideologie aus Stein

Wie soll man mit den Überresten monumentaler Nazibauten umgehen - etwa dem Nürnberger Parteitagsgelände oder dem Münchner Haus der Kunst? Eine originalgetreue Rekonstruktion zeugt von Geschichtsvergessenheit. Aber ebenso der Versuch, die architektonischen Zeugen zu „entnazifizieren“.

Monument des Größenwahns: Welthauptstadt Berlin / dpa
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Autoreninfo

Magnus Brechtken ist stellvertretender Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München. Sein Buch „Albert Speer. Eine deutsche Karriere“ gilt als Standardwerk.

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Geschichtsvergessenheit ist eine Dauerseuche. Kommen Nostalgie und Vergangenheitsverklärung hinzu, ist es bis zur abenteuerlichen Einbildung nie gewesener Fantasiewelten von vermeintlich guten alten Zeiten nicht mehr weit. 
Als das Institut für Zeitgeschichte 2016 Hitlers „Mein Kampf“ in einer wissenschaftlich kommentierten Edition veröffentlichte, sah jeder Interessierte: Hier liegt ein historischer Text aus den zwanziger Jahren vor, dessen jahrzehntealten Wurzeln und lang andauernden Wirkungen nun mit einer Fülle forschungsfester Informationen zugänglich sind. Niemand muss sich beim Lesen auf seine private Intuition verlassen, jeder kann zugleich selbst abrufen und prüfen, was Historiker über die Jahrzehnte an Wissen zusammengetragen haben.

Wer fordern würde, man solle doch bitte schlicht das Hitler-Original der Jahre 1925/1926 nachdrucken, damit Leser aus der unmittelbaren Lektüre ihre eigenen Gedanken entwickeln könnten, käme wohl mit etwas Nachdenken selbst zur Einsicht: Wie sollen einzelne Leser intuitiv Zigtausende Informationen eines hundert Jahre alten Textes aufbereiten und einordnen, für die selbst ein Forscherteam mehrere Jahre benötigt? Wissen, das kann eigentlich jeder verstehen, fällt nicht vom Himmel. Es ist das Ergebnis ausdauernder Recherchen und intensiver, oft kontroverser Diskussionen. Damit gewinnt man einen prüfbaren Fundus, und den gilt es ernst zu nehmen. 

Architektur ist Teil der Geschichte

Nicht nur Texte, auch Gebäude und Skulpturen sagen uns etwas, beeinflussen unsere Wahrnehmung und unser Denken. Darum sind sie geschaffen: mit einer Absicht, einem Ziel. Stadtviertel werden entworfen, Gebäude errichtet und Skulpturen geformt, weil sie, jenseits allen praktischen Nutzens, ein Motiv, eine Idee oder auch eine religiöse Botschaft oder Ideologie repräsentieren sollen. Gebäude mögen bewundert werden oder missfallen: Ohne Anlass und Botschaft sind sie nie. 

Machen wir uns deshalb immer wieder bewusst: Auch Stadtbaupläne, Architekturen, Gebäude und Skulpturen sind als Texte der Vergangenheit zu lesen. Sie sind dabei Anlass nicht nur zum Denken über ihre Entstehung, die Motive ihrer Schöpfer, ihr Wesen in der Vergangenheit. Auch unsere Haltung zu diesen Inhalten im Lebenskanon der Gegenwart und seiner Werte ist gefragt und verlangt reflektierte Selbstermündigung.

Warum diese manchen vielleicht banal erscheinenden Bemerkungen? Die Gründe sind mit Blick auf Architektur und Geschichte so offensichtlich, wie sie leider oft nicht wahrgenommen werden. Nehmen wir drei Beispiele jüngerer architektonisch-historisch geprägter Geschichtsdebatten und blicken nach Nürnberg, München und Berlin.

Bauten als Teil der NS-Ideologie

In Nürnberg läuft seit vielen Jahren eine Debatte über den Umgang mit den Überresten monumentaler Nazibauten. Auf dem NS-Parteitag von 1935 ließ Hitler nicht nur die bekannten „Nürnberger Gesetze“ gegen die jüdischen Deutschen verabschieden. Er legte auch den Grundstein für die gigantische Kongresshalle und begründete in einer „Kulturrede“, wie Rassenpolitik und Bauvorhaben ideologisch verwoben waren. Bauten als Kulturprodukte gehörten für ihn „zu dem Gesamtkomplex der rassischen Werte und Veranlagungen eines Volkes“. Die Steine sollten „sprechen“. Das Parteitagsgelände sollte die Essenz dieses rassistischen Selbstverständnisses verkörpern.

Zwar wurde das Hakenkreuz über dem Zeppelinfeld 1945 gesprengt, der Rest aber blieb erhalten und wird im Verfall als Freizeitgelände ebenso genutzt wie für Autorennen. Die Kongresshalle, geplant für Nazifeiern mit bis zu 60.000 Plätzen, blieb ein unfertiger Klotz. Die größte erhaltene Ruine der NS-Architektur steht seit 1973 unter Denkmalschutz. 

Bis 1945 wurden Bauten und Pläne durchweg als Ausdruck des rassenkämpferischen Willens und nationalsozialistischer Tatkraft präsentiert. Mit Bildgeschichten in Zeitschriften sowie repräsentativen Ausstellungen sollten Großmodelle in Deutschland und dem eroberten Europa den Besuchern das Selbstbewusstsein, technische Können und den Anspruch auf Erhabenheit des NS-Staatsgeists vermitteln. Das ist der Text, der nicht nur in den Nürnberger Gebäuden präsentiert wurde und bis heute lesbar ist. Die Fabel vom Ruinenwert, wonach schon bei der Planung an das Aussehen im Verfall gedacht worden sei, erfand Albert Speer erst im Oktober 1966.

Diskussion über den Umgang

Wenn nun mehr als 80 Millionen Euro für den Erhalt des Zeppelingeländes verplant werden und nebenan in der dröhnenden Leere des Kongresstorsos die städtische Oper für mehrere Jahre einen Interimsbau erhalten soll – der den Raum grundlegend verändern würde –, so kann man darin zweierlei sehen: eine Bedrohung angemessener Erinnerung oder einen zeitgenössischen Kommentar der Gegenwartsgesellschaft. 

Für beide Perspektiven gibt es passende Argumente. Die Zivilgesellschaft streitet zu Recht und sucht nach passenden Formen: Auf der Zeppelintribüne illustrierte die Bemalung der Säulen in Regenbogenfarben eine Adaption der Gegenwart. Die Farbe wurde nach zwei Tagen abgewaschen mit dem bürokratisch korrekten, zivilgesellschaftlich grotesken Argument, die Steine könnten Schaden nehmen. Denn Menschen „schaden“ mit Betreten des Geländes den Steinen ebenso wie Picknicks, Abgase und der Tourismus überhaupt. Noch provozieren Kommentare wie regenbogenfarbene Säulen, aber sie ermuntern zugleich zu einem aktualisierten Prozess des Verhandelns über die Komplexität der NS-Botschaften in Stein. Kein Mensch mit demokratischer Gesinnung käme wohl auf die Idee, aus dem Parteitagsgelände wieder einen vermeintlich originalen Ort zu gestalten, wie ihn sich Hitler und die Nationalsozialisten fantasierten.

Münchner Debatten

In München scheint das anders. Hier diskutieren – wobei man fragen muss: wer diskutiert da eigentlich? – „die Stadt“ und „das Land“ über die Frage des Umgangs mit dem Haus der Kunst. Der 175 Meter lange Klotz mit dem auffälligen Säulengang am Südende des Englischen Gartens ist der vielleicht prominenteste Repräsentationsbau nach Hitlers Geschmack und zweifellos der markanteste erhaltene architektonische Signaltext der NS-Zeit. 

Als Hitler am 22. Januar 1938 hier die erste Deutsche Architektur- und Kunsthandwerkausstellung eröffnete, erinnerte er an das ideologische Programm: „Wenn Völker große Zeiten innerlich erleben, so gestalten sie diese Zeiten auch äußerlich. Ihr Wort ist dann überzeugender als das gesprochene: Es ist das Wort aus Stein.“ Bauen als „Wort aus Stein“ war der ideologische Schlüsselbegriff und wurde zum Titel des bekanntesten Werbefilms für die NS-Architekturpläne. 

Dies ist weithin verfügbares Wissen. Es scheint über die Jahre in einen Schatten gefallen zu sein. Zumindest in jenen Kreisen, siehe oben, die 2016 diskutierten, wie eine notwendige Sanierung des Gebäudeinneren zugleich für umfassende Eingriffe in die Außenanlagen dienen sollte. „Fehlt nur noch die Hakenkreuzfahne“, titelte treffend der Tagesspiegel, als 2016 die Pläne des britischen „Stararchitekten“ David Chipperfield bekannt wurden. Die zur Straßenseite über Jahrzehnte gewachsenen Bäume – ein seit den fünfziger Jahren hier wie im weiteren Münchner Stadtraum gleichermaßen ziviler wie natürlicher Kommentar – sollten abgeholzt, der Hitler-Bau seiner Kommentierung wieder entkleidet werden. 

Hitler-Bauten kann man nicht „freilegen“

Wem die NS-Geschichte bekannt war, der wunderte sich. Wer Jahrzehnte gewachsenen Umgang zu beseitigen und das einstige Haus der Nazikunst so zu präsentieren wünschte, wie Hitler es bauen ließ, der mochte vielleicht als nächstes „Mein Kampf“ in einer unkommentierten Ausgabe aus den Baujahren anbieten. Wer meint, man könne Hitler-Bauten „freilegen“, wie die Nazis sie feierten, ohne dass deren Text sichtbar wird, der hat recht wenig vom Nationalsozialismus verstanden: nicht seine Ideologie, nicht seine Architektur, nicht seine Absichten, nicht seine Ziele. 

Wie die Projekte in Nürnberg und München, so waren auch die gigantischen NS-Umbaupläne für Berlin in Hitlers Augen der Ausdruck einer rassenideologischen Selbstfindung und völkischen Neuformierung. Berlin städtebaulich als Welthauptstadt zu formen – der Begriff „Germania“ ist in den zeitgenössischen Plänen nicht zu finden –, sollte ein atemverschlagendes Instrument sein zur Erziehung der „Volksgemeinschaft“. Ihr Ziel war es, den „Volksgenossen“ ein neues „arisches Selbstbewusstsein“ und ein Gefühl rassischer Superiorität einzuprägen. Das bedeutete: Abreißen gewachsener Stadtflächen und monumentale Ideologierepräsentation an ihrer Stelle. Seit 1938 wurde etwa im nordwestlich des Reichstags gelegenen Alsenviertel, wo die „Große Halle“ entstehen sollte, ein Gutteil der großbürgerlichen Stadthäuser dem Erdboden gleichgemacht. Lange bevor die Bomber der Alliierten kamen. Zugleich wurde massiv umgebaut. Im 1939 fertiggestellten Film „Das Wort aus Stein“ sind Pläne und Modelle mithilfe spezieller Tricktechnik so täuschend echt für die Volksgenossen in Szene gesetzt, dass zukünftige Straßen und Gebäude plastisch erlebbar scheinen. Das gewaltsam Zerstörte bleibt unsichtbar.

Überfällige Frage

Nicht alles verschwand nach 1945 so spurlos wie die Neue Reichskanzlei. Aber der Kalte Krieg bescherte Berlin ein Inselleben, in dem öffentliches Nachdenken über die steinernen Erbmassen wenig Resonanz fand. So blieben etwa auf dem Olympiagelände die NS-Propagandabilder und völkischen Werbe­skulpturen nicht nur jahrzehntelang weithin unbeachtet. Manche „Heldenbilder“ mit Nazisprüchen sind gar in einer Weise wieder herausgeputzt, dass Alfred Rosenberg und Joseph Goebbels ihre Freude daran hätten. Wer die Geschichte kennt, weiß: Auch hier sind Architektur und Gestaltung der bewusste Ausdruck von Rassenideologie in Stein. 

Wer möchte das unkommentiert – das meint: baulich im Nazioriginal – erhalten? Und warum? Die Diskussion darüber ist überfällig, interessiert in Berlin aber offensichtlich nur wenige. Prägnant benannte dies im Mai 2020 der ehemalige Senator für Stadtentwicklung Peter Strieder. Durch Skulpturen und Bauwerke aus der NS-Zeit werde „mit Unterstützung des Denkmalschutzes die Propaganda der Nazis fortgesetzt, und keiner der Nutzer des Geländes erhebt sich dagegen“. Wer wollte ihm widersprechen? Strieders Frage, „ob es nicht an der Zeit ist, das gesamte Gelände und den Denkmalschutz einer kritischen Revision zu unterziehen und das Gelände zu entnazifizieren“, ist bis heute ohne Antwort. Auch das ist Geschichtsvergessenheit.

Zwei Lesarten

Womit wir beim Thema der längeren historischen Perspektiven Berlins sind: Am Beginn des 21. Jahrhunderts lässt sich die Rekonstruktion von Schlossfassaden und ähnlichen Herrschaftssymbolen auf zwei Arten lesen. Als Widerspiegelung von Geschäftsmodellen für Unterhaltung und Kommerz im Stil der globalen Disney- und Vergnügungsparks. Auch hier strebt aktuell die Volksrepublik China nach vorn. So findet sich in Macao eine Kopie der Las-Vegas-Kopie von dem, was sich beide irgendwie als Venedig vorstellen möchten. In Boluo ist ein Nachbau des österreichischen Weltkulturerbe-Dorfes Hallstatt zu besuchen, Plastikgeranienbalkonschmuck inklusive. Die Kirche, außen getreu kopiert, ist innen Verkaufsbüro für Immobilienmakler. 

In der zweiten, durchaus verwandten Lesart ist Rekonstruktion der Spiegel einer geschichtsmüden Gesellschaft, der es – Stichwort Berliner Mitte – an historischem Verständnis und intellektuellem Selbstbewusstsein mangelt, ihre eigene Kreativität zu formulieren und die Gegenwart zu gestalten. Flucht in die Halluzination einer imaginären Wohlfühlwelt, die vom eigenen Denken über die Gegenwart ablenkt, ist beides.

Der Blick in die Geschichte

Es ist ernüchternd zu sehen, dass nach vielen Jahrzehnten der Forschung zu den Traditionen und Wirkungen der deutschen Obrigkeitsstaaten, zur Welt des Untertanengeistes und des völkischen Nationalismus, zu den tönenden Reden vom deutschen Besonderssein, das nicht nur Intellektuelle bis 1945 immer wieder formulierten, erneut die Sehnsucht nach Vergangenheitsverklärung in betäubender Ignoranz aufscheint.

Hoffen lässt, dass die Seuche der Geschichtsvergessenheit mit etwas Aufwand an Lektüre und Information heilbar bleibt. Der Blick in die Lebenswirklichkeit der eigenen Familie vor 200 und 300 Jahren dürfte für die Mehrheit ein erster, vielleicht erhellender Realitätscheck sein, um zu sehen, dass die Chancen der Gegenwart den Fantasiewelten einer nie gewesenen Vergangenheitsharmonie vorzuziehen bleiben. Wer in dieser Gegenwart nach Orientierung sucht, sollte neugierig in die Geschichte blicken. Aber nicht, um sie naiv zu verklären oder gar zu rekonstruieren, sondern um sich mündig zu machen für heute.

 

Dieser Text stammt aus der Januar-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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