Musikerausbildung - Lotterie und Armut

Immer mehr Musiker werden in Deutschland für immer weniger Stellen ausgebildet. Jugendwahn und Globalisierung verschärfen den Konkurrenzdruck. Eine Reise zu Hoffnungsträgern und Absturzexperten

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Musikstudent Justus Wilcken muss bald auf dem Arbeitsmarkt ums Überleben kämpfen / Anja Lehmann
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Michael Stallknecht ist Musikkritiker und Autor und spielt zur Erholung gerne Bach am Klavier

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Kürzlich hat Justus Wilcken mal wieder ein Angebot bekommen. Er sollte kurzfristig einspringen für einen erkrankten Kollegen. Ein Liederabend bei einem renommierten Festival für junge Sänger. Die Gage: 100 Euro, plus Fahrtkosten. Er hat höflich abgesagt – und sich dann geärgert, dass er so höflich war. Wilcken studiert Gesang an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin, im kommenden Wintersemester macht er seinen Bachelor als Bariton. Was danach auf ihn zukommt, kann er ziemlich genau einschätzen. Er will selbstbewusst auftreten, nicht sagen: „Bitte helft mir.“ Sondern: „Ihr könnt mit mir Geld verdienen.“ Doch Wilcken weiß, dass er auf einen Markt drängt, der aus dem Lot ist. Das Angebot übertrifft die Nachfrage bei Weitem. 

Kleiner Markt, großer Wettbewerb

An den 24 deutschen Musikhochschulen werden momentan über 1500 junge Leute zu klassischen Sängern ausgebildet, etwa 9000 wollen mit einem Instrument den Abschluss erreichen. Doch die große oder auch nur mittelgroße Karriere als freier Solist wartet auf die wenigsten. Schon als Instrumentalist in einem Orchester unterzukommen oder als Sänger eine Festanstellung an einem Theater zu ergattern, dürfte für viele unmöglich werden. Von den 1200 Stellen für Solosänger an deutschen Thea­tern und den etwa 10 000 Planstellen in deutschen Orchestern sind die meisten immer schon besetzt. Als kürzlich das Nationaltheater Mannheim einen Soloharfenisten suchte, bewarben sich 93 ausgebildete Harfenisten. Um einen Zeitvertrag für Oboe traten 83 Bewerber zum Wettstreit an. 

„Wer durchkommt, wird immer beliebiger“, sagt Antonia Klein, die eine Agentur für Sänger in München betreibt. Die reine Qualität sei oft nicht mehr ausschlaggebend, angesichts des Überangebots sei die Karriere oft Glückssache. Dabei gibt es in Deutschland mehr Opernhäuser und mehr Symphonieorchester als in der ganzen übrigen Welt zusammen. Doch der große Markt wirkt als weltweiter Pullfaktor. Kam die Konkurrenz früher vor allem aus den USA, so hat sich der Markt seit dem Fall des Eisernen Vorhangs vollständig globalisiert. Musik ist eine internationale Sprache – das ist ihre große Stärke, aber auch ein großes Problem für die in Deutschland ausgebildeten Sänger und Instru­mentalisten. Zumal es meistens die Besten sind, die es aus Russland, den osteuropäischen Ländern, aus Korea oder der Türkei nach Deutschland schaffen. 

Der Markt schrumpft

Für die Musikhochschulen ist das kein einfaches Thema. Schließlich ist jede von ihnen überzeugt, dass ihre Studenten sich schon durchsetzen werden. Momentan beginnen einige mit dem, was in Medizin- oder Jurastudiengängen längst selbstverständlich ist: Sie sammeln Daten über den Werdegang ihrer Absolventen nach dem Studium. Man wolle „auch mal Fakten haben und nicht immer nur gefühlte Stimmungen“, sagt Heinz Geuen, der Rektor der Kölner Musikhochschule. Präzise Erhebungen seien zweifellos noch „ein Desiderat“. An der Kölner Hochschule, der größten in ganz Europa, hat man in den letzten Jahren die Zahl der Studienplätze im Gesangsbereich reduziert. „Wir wollen vor allem möglichst die ausbilden, die wirklich auf dem schwierigen Markt bestehen können“, sagt Geuen. 

Im Trend liegt Köln damit nicht unbedingt. Zwischen dem Jahr 2000 und dem Jahr 2015 ist die Zahl der an deutschen Hochschulen studierenden Sänger um mehr als ein Drittel angestiegen. Der Markt aber schrumpft. Gerade im Osten der Republik sind seit der Wende Orchester und Theater abgewickelt oder fusioniert worden. Aber auch im Westen ist der finanzielle Druck gestiegen, weil die Kassen der Kommunen vielerorts leer sind. Hatte ein kleineres Stadttheater früher 25 fest angestellte Sänger, sind es heute manchmal nur ein Dutzend. 

Auf der Suche nach Ursachen

Fragt man an den Hochschulen nach diesem Missverhältnis, fällt schnell das Wort von der „Planwirtschaft“. In der DDR waren die Plätze für staatlich anerkannte Künstler kontingentiert wie alles andere auch. Wer einen Studienplatz an einer Musikhochschule errang, hatte danach seinen Platz irgendwo im Musikleben sicher. Die deutschen Hochschulen der Gegenwart betonen dagegen das grundgesetzlich garantierte Recht auf Ausbildungsfreiheit. „Ein Musikstudium ist genauso eine Bildungseinrichtung wie jedes andere universitäre Studium auch“, sagt Heinz Geuen. Man frage auch nicht, wie viele ausgebildete Philosophen das Land gebrauchen könne. „Es kann nicht unsere Aufgabe sein, passgenau für einen Markt auszubilden.“ Bei einer globalen Konkurrenz sei das auch gar nicht möglich. 

Ähnlich formuliert es sein Kollege Christoph Stölzl, der die Musikhochschule in Weimar leitet: „Wir bilden unsere Studierenden umfassend aus, damit sie die besten Chancen im Musikleben haben. Aber wir unterrichten nicht zielgerichtet nur fürs Geldverdienen.“ Die Frage, ob die Absolventen alle unter­kämen, hält er für eine „antikünstlerische Fragestellung“: „Wer sich zur Musik berufen fühlt, wird diesen Beruf auch leidenschaftlich anstreben.“ Deshalb hätten junge Menschen ein Recht auf eine künstlerische Ausbildung, wenn sie in einer Aufnahmeprüfung ihre Qualifikation nachweisen könnten. 

„Man ist eine Aktie“

Tatsächlich sind die Aufnahmeprüfungen an den Musikhochschulen hart, aufgenommen wird nur ein kleiner Bruchteil der Bewerber. Dennoch sind es letztlich die Hochschulen, die in Zusammenarbeit mit den Kultusministerien die Zahl der zur Verfügung stehenden Studien­plätze festlegen. Die hohen Zugangsvoraussetzungen sorgen oft für einen Fehlschluss. Wer aufgenommen wird, glaubt, es schon geschafft zu haben. „Wenn man weiß, dass sich 600 andere mit einem beworben haben, denkt man gar nicht daran, dass es draußen vielleicht nicht weitergehen könnte“, sagt Justus Wilcken. 

Der 28-Jährige ist ein aufgeweckter junger Mann. Neben dem Gesangsstudium hat er eine Schauspielausbildung abgeschlossen, spielt E-Bass in einer Punkband und arbeitete als Ghostwriter in der Werbung und im Pop. Als klassischer Sänger hatte Wilcken während des Studiums erste Engagements, sang kleine Rollen an der Mailänder Scala und bei den Salzburger Festspielen. Er hofft, dass diese Erfahrungen ihm helfen werden, von den Agenturen zum Vorsingen eingeladen zu werden. Dass selbst die Aufnahme in eine Agentur keine Garantie für eine ununterbrochene Tätigkeit im Beruf ist, weiß er. Man sei eine Aktie, sagt er, deren Wert steigen oder fallen könne. „Viele Sänger laufen einfach nur auf den Homepages der Agenturen mit, ohne dass sie wirklich vermittelt werden.“ 

Neue Situation

Damit dürfte er den Beruf realistischer sehen als viele Altersgenossen, die auch Opfer einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung sind. Noch vor 30 Jahren hatten Eltern oft erhebliche Einwände, wenn der Nachwuchs Schauspieler, Sänger oder Musiker werden wollte. In der Gegenwart ist der Kreative zur gesellschaftlichen Leitfigur geworden, suchen sich deshalb mehr junge Menschen in einer künstlerischen Karriere zu verwirklichen. Für eine zusätzliche trügerische Sicherheit sorgt die Akademisierung. In früheren Jahrhunderten bildeten Theaterleute ihren Nachwuchs in der Regel selbst aus. Wer als Eleve begonnen hatte, war schon Teil des Systems. Zudem war die Spezialisierung weniger hoch, konnte ein Oboist mal zur Flöte greifen, eine Sängerin als Schauspielerin weiterarbeiten. 

Heute studieren viele jahrelang, um den extrem spezialisierten Anforderungen auf dem Musikmarkt gerecht zu werden. Hochschullehrer haben oft Angst, dass ihre Schützlinge nicht reif genug sind für ein Vorsingen am Theater oder ein Probespiel beim Orchester. Wer sich blamiert, bekommt oft genug keine zweite Chance. Doch wer sich deshalb erst mit Ende 20 ans Bewerben traut, hat die beste Chance schon vertan. Das gilt sowieso für all jene, die eine Karriere als Solist anstreben. Für Pianisten etwa gibt es kaum feste Stellen in Orchestern. Wer hier mit Mitte zwanzig keinen der großen internationalen Wettbewerbe gewonnen hat, kann die große Solistenkarriere abhaken. Er wird wie die meisten anderen sein Glück als Dozent an einer der städtischen oder privaten Musikschulen versuchen müssen, wo viele ausgebildete Musiker unterrichten. Doch auch dieser Markt dünnt aus. Musikschulen schließen oder werden verkleinert, die Kommunen müssen sparen.

Mehr Rollen für Männer als für Frauen

Auf dem Orchestermarkt ist derweil der Altersdruck rigide gewachsen. „Solobläser werden mit 30 kaum noch zum Vorspielen bei einem Orchester eingeladen“, sagt Wolfgang Weber. „Mit spätestens 35 ist Schluss.“ Weber betreut die Instrumentalisten bei der ZAV München, der staatlichen Künstlervermittlung der Arbeitsämter. In den meisten Orchestern gebe es eine interne Altersgrenze, sagt Weber, auch wenn diese nicht nach außen kommuniziert werde. Noch härter sieht es bei den Sängern aus, besonders bei den Frauen. Zwei Drittel der Gesangsstudenten sind weiblich, doch in den Opern des klassischen Kanons ist die Zahl der Männerrollen deutlich größer als die der Frauenrollen. Tenöre und tiefe Bässe haben nach der Ausbildung auch eine Chance auf ein Erstengagement, wenn die Stimme noch nicht ganz fertig ist. Sopranistinnen dagegen konkurrieren selbst an kleineren Theatern mit der Weltspitze. „Mit Anfang 30 ein Festengagement zu bekommen, ist für Frauen kaum noch möglich“, sagt Inge Wiesner, die seit 17 Jahren bei der ZAV München die Sänger betreut. 

Wiesner hat beobachtet, wie während ihrer Dienstzeit der Druck konstant gestiegen ist. Früher habe die Agenturen vier oder fünf Sänger für ein Vorsingen angeboten, danach sei die Rolle besetzt gewesen. Heute ließen die Theater bis zu 50 Sänger für eine einzige Partie vorsingen. Durch das Überangebot aus aller Welt haben sich die Relationen massiv verschoben, auch die Leiter kleiner Theater versuchen fortwährend, das Bestmögliche für sich herauszuholen. Feste Verträge von Sängern sind auf zwei Jahre, manchmal nur ein Jahr begrenzt, sie müssen also jährlich um ihre Verlängerung zittern. Kommt ein neuer Intendant ans Haus, tauscht er in aller Regel das Ensemble aus. Hinzu kommt der Druck der Regisseure, die junge, fotogene Gesichter bevorzugen. 
Entsprechend kurz ist der Verlauf vieler Karrieren. Hat sich ein Sänger im Erstengagement nur als durchschnittlich erwiesen, gilt sein Gesicht oft als verbraucht und findet er andernorts nicht unbedingt einen Job. Inge Wiesner von der ZAV wirft den Theatern deshalb eine „Wegwerfmentalität“ vor. „Die Leute werden in den ersten Jahren bei einer Mindestgage von 1850 Euro brutto kaputtgemacht und dann aufs Abstellgleis geschickt“, sagt sie. Seit den 1980er-Jahren, schätzt sie, seien die Solistenensembles an den Theatern um 30 bis 50 Prozent geschrumpft. Sänger müssen deshalb heute deutlich mehr singen als früher, nicht jede junge Stimme hält das aus. 

Mehr Kollektiv statt Solo

Auch im instrumentalen Bereich, bestätigt Wolfgang Weber, herrsche teilweise schon bei kleinen Orchestern „eine wahnsinnige Arroganz“. Selbst für einen kurzen Zeitvertrag veranstalteten viele inzwischen regelrechte Massenvorspiele. Wer es nach dem Probespiel auf eine feste Stelle im Orchester schafft, hat Glück gehabt. Er unterliegt dem Kündigungsschutz und in den meisten Fällen den Tarifsteigerungen im öffentlichen Dienst. Das gilt auch für die Mitglieder von Opernchören, auch wenn das nicht für alle ausgebildeten Sänger von Beginn an die Traumperspektive ist. Er könne sich nicht vorstellen, in einen Chor zu gehen, sagt auch Justus Wilcken. „Dazu habe ich als Sänger zu viel zu sagen.“ 

Tatsächlich bilden die Hochschulen ihre Absolventen traditionell erst einmal zu Solisten aus. Bei manchen fördert das ein Selbstbewusstsein, das nur in der Enttäuschung enden kann. Der Deutsche Bühnenverein fordert deshalb schon seit Jahren, dass Musiker an den Hochschulen konkreter auf das Leben in einem Kollektiv vorbereitet werden. Gemeinsam mit der Rektorenkonferenz der deutschen Musikhochschulen und der Deutschen Orchestervereinigung hat man eine Kooperation begonnen, die dafür sorgen soll, dass Musiker nicht am Markt vorbei ausgebildet werden. 

Hört man sich an den Hochschulen um, gewinnt man durchaus den Eindruck, dass sie mit dem Thema offener umgehen als noch vor zehn Jahren. „Unsere Aufgabe ist es, Sänger auszubilden, die sich selbst gegenüber nicht blind sind“, sagt Martin Bruns, Gesangsprofessor an der Musikhochschule Hanns Eisler in Berlin. „Deshalb hat jeder Professor die Pflicht, ehrlich zu seinen Studenten zu sein.“ Allerdings gibt auch Bruns zu, dass das manchmal schwierig sei, wenn man derart persönlich zusammenarbeite, wie es in einem Gesangsstudium üblich ist. Im vergangenen Jahr hat er damit begonnen, Agenten schon zu hochschulinternem Vorsingen einzuladen. Es soll beiden Seiten den Übergang erleichtern, frühzeitige Kontakte ohne Verpflichtungen entstehen lassen. „Sänger müssen sich heute ein viel individuelleres Paket als früher schnüren, um am Markt zu bestehen“, sagt Bruns. 

Versuche der Anpassung

Es ist das Stichwort von der Patch­workexistenz, das inzwischen viele Hoch­schulen wie einen Ausweg beschwören. „Studierende tendieren dazu, sich immer stärker in Projekten zu organisieren oder auch freie künstlerische Tätigkeiten zu übernehmen“, sagt Heinz Geuen von der Kölner Musikhochschule. Die Berliner Musikhochschule nimmt das Thema so ernst, dass es dort eine Professur für Selbstmanagement und Musikvermittlung gibt. Lehrstuhlinhaberin Andrea Tober versucht den Musikern das kleine Einmaleins des Lebens auf freier Wildbahn beizubringen: vom Aushandeln der Verträge über das Einrichten einer eigenen Homepage bis zum Abschluss einer Krankenversicherung. Musiker seien „auf eine sehr spezielle Weise sozialisiert“, sagt Tober, die meisten von ihnen „total auf ihr Instrument fokussiert“. 

Tober sucht mit den Studenten nach Möglichkeiten, sich selbst neue Tätigkeitsfelder zu erobern, ermuntert das Streichquartett, auch mal in einem Klub zu spielen, oder die junge Klarinettistin, sich mit Musikern aus nichtklassischen Genres zusammenzutun. Das Thema gewinne für die Hochschulen zunehmend an Bedeutung, sagt Andrea Tober. „Aber wir müssen ein Geflecht entwickeln, sodass keiner der Studenten das Studium ohne Survival-Package verlässt.“ Für manche Musiker sei dann diese Patchworkexistenz beglückender als „das Leben im Orchesterkollektiv, in dem man alt wird“. Das mag sein, sofern sich Glück nicht allein in Geld bemisst: Bei der letzten statistischen Untersuchung im Jahr 2012 verdienten freiberufliche Orchestermusiker um die 10 000 Euro im Jahr, bei freiberuflichen Sängern sieht es nicht sehr viel anders aus. 

Es sei wichtig, sich „eine Deadline zu geben“, sagt Inge Wiesner von der ZAV. Wer mit Mitte 30 keinen Erfolg hatte, solle rechtzeitig über berufliche Alternativen nachdenken. Ganz einfach freilich dürfte das in diesem Alter auch nicht mehr sein. Ein Musikstudium fordert den Einsatz der ganzen Person, die bedingungslose Hingabe an die Kunst der Töne. Viele, die sie später nicht ausüben können, tragen mindestens untergründig eine lebenslange Enttäuschung davon. 
Justus Wilcken weiß schon, was er macht, falls es mit dem eigenen Singen doch nicht klappen sollte: Er will Popmusik produzieren – und damit anderen eine Möglichkeit zum Singen geben.

 

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