Rezensionen im September - Moser liest

Susan Kreller über die Altmark, Heinz Strunk über Jammerlappen, Michel Houellebecq über Pornos: Unsere Kultur-Chefin Ulrike Moser rezensiert aktuelle Gegenwartsliteratur.

Aussichtsloser Kampf gegen den Verfall: Heinz Strunk / dpa
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Autoreninfo

Ulrike Moser ist Historikerin und leitet das Ressort Salon bei Cicero.

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Kein Leben, kein Tod. Keine Welt

Abgehängt, strukturschwach und überaltert. „In the Middle of Nüscht“ hieß ein Buch über die Altmark aus dem Jahr 2018. Auch die Berliner machen einen großen Bogen um die Region im Norden Sachsen-Anhalts und kaufen lieber überteuerte Datschen in der Uckermark. Daran wird auch der neue Roman von Susan Kreller wenig ändern.

Hier, im „Totenland“, zwischen Ruinen und verfallenen Bahnhöfen, im braunen Wald Salzruh, liegt die schäbige Pension Bertoldi, in der sich eine kleine Schar Gäste einfindet, die sich von einer Wurfsendung und dem billigen Preis haben anlocken lassen. Und die, kurz nach ihrer Ankunft, erfahren, dass sie die Pension zu ihrer eigenen Sicherheit nicht mehr verlassen dürfen, weil eine „Gefahrensituation“ vorliege. Aus Gästen werden Gefangene. Und was folgt, sind Zweifel, Aufbegehren, Wut und schließlich Angst und Verwahrlosung. „Kein Leben, kein Tod. Keine Welt.“ Kreller hat eine klaustrophobische Versuchsanordnung entworfen, ein düsteres Kammerspiel, das durch seinen kunstvollen Sprachwitz zu einem abgründigen Lesevergnügen wird.

Susan Kreller: Salzruh. Schöffling, Frankfurt a. M. 2023. 272 Seiten, 24 €

 

Lachi lachi saufi saufi spaßi spaßi

Alt werden ist eine Demütigung. Erst recht bei Heinz Strunk. In seinem Erzählband ist viel von alten Menschen die Rede. Die sich, um das Sozialsystem zu entlasten, von der Klippe stürzen. Einen aussichtslosen Kampf gegen den Verfall führen. Oder als Tote einfach entsorgt werden. Strunks neue Texte variieren zwischen Miniaturen und größeren Erzählungen, wobei es die längere Form ist, in der sich sein Können entfaltet, mit fast zärtlichem Witz von all den Jammerlappen, den gescheiterten, verkommenen und zu körperlicher Auflösung neigenden Existenzen zu schreiben.

Da ist der Mann, dem nur ein genervtes „Och nö“ entfährt, als sein Kampfhund einen Jungen zerfleischt. Da ist der Motivationstrainer, der versucht, mithilfe seiner Optimierungs-Mantras sein Leben vor einer Gruppe Neandertaler zu retten. Oder da ist Carola, die Nachrichten an ihren Lieblingsautor Strunk schreibt: „komm und lach mit lachi lachi saufi saufi spaßi spaßi“. Hier entfaltet sich der ganze Strunk-Kosmos, der in seinen fantastischen Momenten der Wirklichkeit abgeschaut ist.

Heinz Strunk: Der gelbe Elefant. Rowohlt, Hamburg 2023. 208 Seiten, 22 €

 

Si tacuisses

Si tacuisses – wenn du geschwiegen hättest. Vordergründig ist Michel Houellebecqs Büchlein die Schilderung seiner Perspektive auf die Entstehung eines Pornos, dessen Veröffentlichung der Schriftsteller vor Gericht verhindern will. Vor allem aber ist es eine Selbstentblößung und Abrechnung. Allein die Sprache: Degenerierte „Kakerlake“ und „Parasit“ nennt Houellebecq Stefan Ruitenbeek, der den Film mit dem an Houellebecqs Eitelkeit appellierenden Vorwand initiierte, eine junge Frau wolle vor laufender Kamera mit einem ihrer liebsten Autoren vögeln. Sie wird von Houellebecq durchgängig als „Sau“ bezeichnet.

Darüber hinaus erfährt der Leser, welche Wonnen ein Dreier mit zwei Frauen für einen Mann bedeuten kann. Dass Sex mit einer an vier Bettpfosten gefesselten Frau eine vortreffliche Art ist, einen Sommernachmittag zu verbringen, wenn es zu heiß für den Strand ist. Und nicht zuletzt, dass sich Houellebecq wie eine Frau nach einer Vergewaltigung fühlt! Will das wirklich irgendjemand wissen? Und so bleibt nur die Frage: Wo waren die, die den Autor vor sich selbst hätten schützen können?

Michel Houellebecq: Einige Monate in meinem Leben. Oktober 2022 – März 2023. Du Mont, Köln 2023. 100 Seiten, 20 €

 

Dieser Text stammt aus der September-Ausgabe von Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

 

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