Martin Luther - Keiner von uns

Gedanken zum Reformationsjubiläum 2017 und den Gründen, warum die EKD mit Martin Luther so rein gar nichts anzufangen weiß

Erschienen in Ausgabe
Martin Luther war kein Vorkämpfer unseres modernen Freiheitsverständnisses / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Martin Luther ist angesagt. Zumindest als Playmobil-Figur. Die Erstauflage des Spielzeug­reformators, immerhin 34 000 Stück, war innerhalb von 72 Stunden ausverkauft. Das war im Februar 2015. In der Zwischenzeit sind über 500 000 Mini-Luthers in alle Welt verschickt worden.

Umstrittener als die kleine Plastikdevotionalie ist jedoch das Original. Daran hat auch die Luther-Dekade nichts geändert, die 2008 von der EKD ausgerufen wurde und deren Höhepunkt, die Reformationsfeierlichkeiten 2017, unaufhaltsam näherrückt. Denn der zeitgenössische Protestantismus tut sich schwer mit dem Reformator.

Einerseits-Andereseits

Deutlich wird das schon an dem aufdringlichen Einerseits-Andererseits, mit dem Margot Käßmann, die offizielle „Botschafterin des Rates der EKD für das Reformationsjubiläum 2017“, Martin Luther würdigt. Mal lobt sie Luthers Mut, auch in schwierigen Zeiten für seinen Glauben einzustehen, warnt dann aber davor, Luther als Helden zu feiern. An anderer Stelle relativiert sie Luther zur Symbolfigur, nur um kurz darauf zu betonen, dass von Wittenberg eine welthistorische Bewegung ausgegangen sei. Mal ist Luther für Käßmann ein Pazifist, der den Krieg verdammte, dann wieder ein Mensch, der „mit einem Fuß noch hinten im Mittelalter steckt“.
Luther, so hat man den Eindruck, ist nicht einmal den Lutheranern geheuer. Das war natürlich nicht immer so. Über 400 Jahre lang galt der Doktor aus Wittenberg als Heros der Reformation, als Erneuerer des Glaubens, Bezwinger des Papsttums und Befreier vom römischen Joch. Insbesondere diese deutschnationale Komponente Luthers war nach Weltkrieg und Nationalsozialismus hochverdächtig. Der Reformator wurde zum deutschen Ungeist, zum Türöffner eines verhängnisvollen „deutschen Sonderwegs“, der direkt von Wittenberg über Bismarck zu Hitler geführt habe, wie der französische Historiker Edmond Vermeil schon in den dreißiger Jahren vermutete.

Protestantische Triumpherzählung

An dieser Einordnung Luthers stimmte allenfalls, dass der deutsche Protestantismus des Kaiserreichs eine explizit nationale Komponente hatte – so wie viele katholische oder protestantische Nationalkirchen des 19. Jahrhunderts, von der Iglesia española bis zur Church of England.

Allerdings beförderte der wirtschaftliche und wissenschaftliche Erfolg des Deutschen Reiches die Superioritätsfantasien des protestantischen Bürgertums zusätzlich. Aufklärung, Rationalismus, Technologisierung, bürgerliche Ethik und Hochkultur erschienen als Aspekte einer einzigen, großen protestantischen Triumpherzählung, deren Höhepunkt das wilhelminische Kaiserreich darstellte.
Allerdings waren es auch protestantische Theologen wie Ernst Troeltsch, die darauf hinwiesen, dass die Moderne im Wesentlichen ein Produkt der Aufklärung war und nicht etwa der Reformation. Zwar hob auch Troeltsch den Unterschied zwischen der katholischen Autoritätskultur des Mittelalters und der modernen Lebenswelt hervor, die sich durch Autonomie, Individualismus und Optimismus auszeichne. Zugleich aber unterstrich er, dass die Grundlagen der Moderne in direkter Fortsetzung spätmittelalterlicher Entwicklungen entstanden seien – unabhängig vom Protestantismus.

Entmystifizierung Luthers

Beseelt vom Willen, sich von den Luther-Hagiografien des 19. und der Luther-Renaissance des frühen 20. Jahrhunderts abzugrenzen, ging die Luther-Forschung seit den achtziger Jahren dazu über, die Gestrigkeit des Reformators zu betonen. Luther wurde als Mann des Mittelalters gezeichnet, abergläubisch, provinziell, skeptisch gegenüber dem Humanismus und den Wissenschaften, desinteressiert an den Neuentdeckungen seiner Zeit, ein frommer Hinterwäldler, dessen Einstellungen zu Frauen, anderen Religionen und Minderheiten so gar nicht zu dem passen, was wir heutzutage als modern empfinden.

Keine Frage: Diese „Entmodernisierung“ Luthers war überfällig und verdienstvoll. Luther war kein Vorkämpfer unseres modernen Freiheitsverständnisses. Toleranz war Luther fremd, einen Pluralismus religiöser Wahrheiten konnte und wollte er sich nicht vorstellen – genauso wenig wie seine Gegner. Begriffe wie „Autonomie“ und „Emanzipation“ wären ihm nie in den Sinn gekommen. Luthers Probleme waren andere, und seine Vorstellung vom Menschen entsprach unserem spätmodernen Menschenbild mitnichten.
Wo Luther tatsächlich gesellschaftliche Vorstellungen formulierte, die man als modern interpretieren könnte, wurden sie bald von der historischen Entwicklung überrollt und entfalteten sich erst Jahrhunderte später. Ein schönes Beispiel dafür ist die von ihm zunächst vorgesehene Stärkung der Gemeinden, die unter den Zwängen der konfessionellen Auseinandersetzung und der Errichtung von autoritär gegliederten Landeskirchen bald kassiert wurde.

Prägung des öffentlichen Intellektuellen

Tatsächlich modern und zukunftsweisend war Luther allerdings überall dort, wo es um „Öffentlichkeitsarbeit“ ging. Hier lag sein großes Genie. Mit seinem populären Schreibstil und seiner Medienpräsenz begründete er eine Institution, die die europäische Geistesgeschichte nachhaltig geprägt hat: den öffentlichen Intellektuellen.

Innerhalb weniger Jahre entwickelt sich Luther von einem unbekannten akademischen Autor lateinischer Gelehrtentexte zu einem mitreißenden und polemischen Publizisten deutscher Sprache. Wie revolutionär das war, zeigt die verschnupfte Reaktion des Erasmus’, der konsterniert feststellte, dass Luther „alles öffentlich macht und dadurch den niedrigsten Handwerker an Problemen teilhaben lässt, die bisher Wissenschaftlern vorbehalten waren“.

Einher mit dieser Schaffung eines neuen Autorentypus geht die vielleicht nachhaltigste und beachtlichste Leistung des Reformators: die Schaffung einer deutschen Schriftsprache und ein darauf basierendes Bildungsprogramm, ohne das die deutsche Kulturnation nicht denkbar gewesen wäre.

Reformation: kein singuläres Ereignis

Philosophisch, theologisch und religiös stand Luther jedoch, wie die Arbeiten von Martin Brecht, David Steinmetz, Berndt Hamm und anderen gezeigt haben, fest in der Gedanken- und Glaubenswelt des Spätmittelalters. Das gilt für seine ganz persönlichen Ängste, sein Sündenbewusstsein etwa, seine existenzielle Sorge um das Seelenheil und sein tiefes Bedürfnis nach Erlösung und Gnade, aber auch für sein philosophisches Denken.

Schon aus diesem Grund geht die Vorstellung von der Reformation als einem singulären Ereignis an der Wirklichkeit vorbei. Wie der in Oxford lehrende Historiker Diarmaid MacCulloch in seiner grundlegenden Studie gezeigt hat, ist es daher sehr viel sinnvoller, von einem Reformationszeitraum zu sprechen, der sich vom späten 15. bis ins späte 17. Jahrhundert zieht.

Die Laienbewegung und der Nominalismus

Prägend für Luthers Theologie, darauf hat etwa der Kirchen- und Reformationshistoriker Heiko A. Oberman immer wieder hingewiesen, wurden vor allem zwei bedeutende Strömungen des 14. Jahrhunderts, die Devotio moderna und der sogenannte Nominalismus. Die Devotio moderna war eine Laienbewegung, die vor allem die innere, individuelle Glaubenserfahrung, die Nachfolge Christi in das Zentrum ihrer Spiritualität setzte. Ihre wichtigste Korporation waren die Brüder vom gemeinsamen Leben. Sie unterhielten in Magdeburg ein Fraterhaus, in dem der junge Luther kurzzeitig wohnte.

Der Nominalismus ist eine philosophische Denkschule. Ihn lernte Luther während seines Erfurter Studiums kennen. Für den Nominalismus gibt es nur Einzeldinge. Abstrakte Allgemeinbegriffe sind gegenstandslos: Es gibt nur einzelne Rosen, weder gibt es eine Rosenheit noch eine Rosenhaftigkeit, die Rosen zu Rosen macht. Das klingt sehr akademisch. Doch mit seinen logischen Einwänden legte der Nominalismus die Axt an das hochspekulative Vokabular der mittelalterlichen Scholastik und demontierte so das darauf aufbauende hierarchische Verständnis von Kirche und Amt. 

Wichtiger noch: Aus nominalistischer Sicht sind rationale, wissenschaftliche Aussagen über Gott nicht möglich. Rationale Aussagen bleiben auf die empirische Welt beschränkt. Jenseits des wissenschaftlich Erfahrbaren gibt es jedoch das Unbegreifbare und Unaussprechliche. Hier knüpft Luther unmittelbar an. Das macht das ambivalente Bild seines Denkens aus. Einerseits ist das alles hochmodern gedacht. Andererseits hat sich insbesondere in Deutschland eine rationalistische Vorstellung von „Modernität“ durchgesetzt, die der Reformator mit Nachdruck abgelehnt hätte.

Luthers Aktualität

Insbesondere protestantische Theologen übersehen leider gerne die nominalistischen Wurzeln von Luthers Theologie und betrachten diese stattdessen mit der rationalistischen Brille des deutschen Idealismus, namentlich Immanuel Kants. Das ist zirkulär und widersinnig und geht an der Sache vorbei: Man bewundert Luthers Denken, seine Art zu denken lehnt man jedoch ab. 
Es ist daher nur folgerichtig, dass Luthers Aktualität gerade dort deutlich wird, wo seine Theologie eine einzige große Anklage des herrschenden Zeitgeists ist. Nein, hämmert uns der Reformator ein, der Mensch kann sich nicht selbst erlösen, weder durch philosophische Reflexion, Yoga oder Schönheitsoperationen noch durch Psychotherapeuten, Personal Trainer, Coaches. Eine harte und unpopuläre Botschaft, die den Instinkten des sich selbst optimierenden modernen Individuums diametral entgegenläuft.
In diesem Sinne weist Luther zugleich jede Leistungsfrömmigkeit mit Nachdruck zurück, auch in ihrer säkularisierten Form. Denn Glück, Zufriedenheit und Seelenfrieden lassen sich nicht erarbeiten, nicht durch Karriere, nicht durch Statussymbole oder zur Schau getragenes Aussteigertum.

Konservativer Revolutionär

Damit erteilt Luther zugleich jenem zeitgenössischen Hypermoralismus eine brachiale Absage, dessen Werkgerechtigkeit man als säkularisierten Neukatholizismus interpretieren könnte. Luthers Botschaft hingegen ist klar: Weder eine nachhaltige ökologische Lebensführung noch zivilgesellschaftliches Engagement – so wünschenswert es sein mag – wird dein Leben sinnvoller oder „besser“ machen.

Martin Luthers revolutionäre Modernität liegt somit gerade nicht darin, den Geist der Moderne vorausschauend zu legitimieren. Im Gegenteil: Luther war ein konservativer Revolutionär. Das ist der eigentliche Grund, weshalb der offizielle EKD-Protestantismus ihm derart hilflos gegenübersteht.

 

Dieser Text ist aus der Januar-Ausgabe des Cicero, die Sie in unserem Shop nachbestellen können.

 

 

 

 

 

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