Identitätspolitik - Mit Napoleon gegen Cancel Culture

Emmanuel Macron hat mit seinem Napoleon-Gedenken ein Zeichen gesetzt gegen die Zumutungen der heutigen Denkmalstürzerei. Ein Präsident im Kampf gegen den Zeitgeist.

Macron bei seiner Rede in der Academie Francaise / dpa/AP
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Jens Nordalm leitete bis August 2020 die Ressorts Salon und Literaturen bei Cicero.

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Überall in Europa werden heute Denkmäler gestürzt. Denkmäler von Männern, die, was immer sie sonst noch Bedeutendes taten, in koloniale Strukturen verstrickt waren. In Frankreich hat es selbst den großen Aufklärer Voltaire getroffen, der einen Teil seines Vermögens Geschäften mit den Kolonien verdankte. Sein Denkmal wird gerade nach einem Farbanschlag nicht wieder aufgestellt, weil man nicht glaubt, dass er künftig in Ruhe gelassen würde.

Zumal in Frankreich und in Großbritannien haben Identitätspolitik, Cancel Culture, Postkolonialismus und Anti-Rassismus an den Universitäten derartige Ausmaße angenommen, dass bereits die Regierungen und die Parlamente tätig geworden sind: Es gibt offizielle Untersuchungen, Anhörungen über das Ausmaß der bereits eingetretenen Vergiftung der Debattenkultur und sogar gegensteuernde Gesetzgebung. Präsident Emmanuel Macron persönlich hat sich in den Widerstand geworfen und die Schädigung der Geisteswissenschaften durch die Identitätspolitik an den Universitäten gerügt.

Nicht feiern - aber gedenken

Und nun wollte Macron auch noch Napoleons gedenken, an dessen gestrigem 200. Todestag.

Er war deswegen im Vorfeld schärfster Kritik ausgesetzt, die sich vor allem darauf bezog, dass Napoleon 1802 die Sklaverei in den Kolonien wieder einführte. Aus den französischen Übersee-Départements Guadeloupe, Martinique und La Réunion, von schwarzen Organisationen in Frankreich und aus der französischen Linken hieß es: „Kein Opfer kann jemals seinen Peiniger feiern.“

Nein, nicht feiern – aber vielleicht doch des Mannes gedenken, als Franzosen, die in einer Gesellschaft leben, die in vielen Hinsichten ohne ihn anders wäre.

Auch in Deutschland dekretierte die Süddeutsche Zeitung vor Tagen ganz im identitätspolitischen Sound: „Die staatliche Würdigung Napoleons führt unweigerlich zur Verletzung all derjenigen, die sich in Frankreich als Erben der Last der Sklaverei sehen.“ Aber man kann als Nation die Verletzung im Gedenken auch auf die Schultern aller nehmen. Es gibt bei Kant den Gedanken, dass wir Menschheit und Menschenwürde immer auch in uns selbst verletzen, wenn wir sie anderen Menschen versagen.

Geschichte und Ambivalenz

In diese Richtung ging, was Macron dann gestern in und mit seiner Rede tat. Er hielt eine klassische Sowohl-als-auch-Rede. So war das mal: Eine Bildung, die Ambivalenzen aushält. Früher studierte man diese historischen Gestalten, bemerkte natürlich, dass vieles an ihrem Tun fürchterlich war, aber vieles auch wichtig und dauernd und grundlegend für alles Spätere.

Napoleon konnte, so Macron, gleichzeitig die „Seele der Welt und der Dämon Europas“ sein. Die Wiedereinführung der Sklaverei sei ein „Fehler“ und ein „Verrat am Geiste der Aufklärung“ gewesen. Es gehe nicht darum, Napoleon zu „feiern“, sondern „seiner zu gedenken“. „Napoleon ist ein Teil von uns.“ Sein „Werk prägt uns weiterhin“. Noch heute lebt Frankreich in Strukturen, die er prägte: Präfekturen, Gymnasien, Zivilrecht, Berufungsgerichte oder Nationalbank. Ohne Napoleon könne Frankreich seine eigene Geschichte nicht verstehen. Die Distanzierung von Napoleons europäischer Machtpolitik – er habe sich bei seinen Eroberungen „nie um menschliche Verluste gekümmert“ – geht bei Macron gut zusammen mit dem Hinweis, was diese Politik langfristig für Europa bedeutet hat und was schon Zeitgenossen wie Goethe, Victor Hugo oder Hegel sahen: Dass sie überlebte Strukturen des Alten Europas hinwegfegte, Staats- und Gesellschaftsreformen erzwang und einen Wirtschaftsraum vom Niederrhein bis Italien schuf, der bis heute nachwirkt.

Versuche der Verdrängung

Macron wollte diese Rede halten, weil man, wie es der französische Regierungssprecher im Vorfeld ausdrückte, der Geschichte „mit weit geöffneten Augen“ ins Angesicht schauen müsse. Das tut Macron übrigens auch konsequent und als erster Präsident im Falle der französischen Kolonialverbrechen insgesamt. In seiner Rede gestern warnte Macron dann trotzdem davor, an Napoleon nur heutige Maßstäbe anzulegen und so „die Vergangenheit auszulöschen“.

„Napoleon ein Teil von uns“ – so ist das mit Geschichte: Sie ist immer ein Teil von uns geworden, und die Cancel Culture gleicht dem Versuch der Abspaltung und Verdrängung – oft ungesund und nicht nachhaltig, denn die Dinge kommen zurück. Um die eigentlich hanebüchene neuliche Wortschöpfung zweier Berliner Aktivisten („Deutsche mit Nazi-Hintergrund“) ins Sinnvolle zu wenden: Franzosen sind Menschen mit Napoleon-Hintergrund, Deutsche sind solche mit Bismarck-Hintergrund – und ja, auch „mit Nazi-Hintergrund“: aber alle Deutschen, als Staatsbürger. Weil die Strukturen, in denen wir leben, ohne diese Vergangenheiten nicht zu denken sind.

Differenzierungsvermögen

Macron tat gestern als Präsident für alle das, was offenbar an den Universitäten – beginnend auch bei uns – zunehmend schwierig wird: Eine Bildung vorzuführen, die nicht glaubt, was sie im Denken berühre, damit stecke sie sich irgendwie an, damit infiziere sie sich. Eine Bildung, die sich nicht mit der ständigen ausdrücklichen Verachtung von Verachtenswertem begnügen will.

Macron hat gestern stellvertretend für alle ein intellektuelles Differenzierungsvermögen hochgehalten, das das einzige Mittel ist gegen die identitätspolitischen Versuche der Ver-Eindeutigung und Säuberung von Welt und Geschichte. Und er will zu Recht nicht begreifen, dass man sich von einem Gedenken dieser Art verletzt fühlen könnte. Hinter einer solchen Rede müsste man sich versammeln können als Franzosen.
 

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