Ist die Welt wirklich so schlecht? - Das Schwarz-Weiß-Paradoxon

Plötzlich sollen die Schneidezähne doch nicht abgestorben sein, und das wirft existenzielle Fragen auf: Hat Schriftsteller Jan Hoffmann über 20 Jahre sein düsteres Weltbild nach einer Fehldiagnose ausgerichtet? Und wird jetzt alles gut?

Die Welt ist nicht nur schwarz und weiß, sondern manchmal auch zahngelb / Sibylla Hirschhäuser
Anzeige

Autoreninfo

Jan Hoffmann studierte Rechtswissenschaften in Berlin und am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Veröffentlichungen u.a. im Logbuch Suhrkamp und bei Zeit Online. (Foto: Sibylla Hirschhäuser)

So erreichen Sie Jan Hoffmann:

Anzeige

Bei Aldi: Eine ältere Kundin schiebt mir den Einkaufswagen in den Rücken und verlangt, ich solle sie unverzüglich ihre aus Hackfleisch, Kohl und Markenbutter bestehenden Einkäufe aufs Band räumen lassen. Als ich ihrem Wunsch mit Hinweis auf den Mindestabstand nicht nachkomme, stößt sie ein markerschütterndes „Armes Deutschland!“ aus, was ich nicht weniger markerschütternd mit „Genau, armes Deutschland!“ beantworte.

Ich weiß, nicht gerade schlagfertig. Aber es ist doch so. Jede zweite Nase im Supermarkt könnte einem esoterischen Nazi gehören. Hinter den Glascontainern, in denen ein alter Mann nach Pfandflaschen fischt, entsteht ein neuer Wohnblock mit einem Quadratmeterpreis von 27.000 Euro. Und als ich meine Einkäufe zu Hause aus dem Stoffbeutel packe, bemerke ich den Schimmel auf den Bio-Heidelbeeren. „Die Welt ist Koth“, wusste schon der bucklige Leopardi, und weil ich an den pessimistischsten Dichter der Literaturgeschichte denke, ist es höchste Zeit, mich vor dem Spiegel aufzubauen und zu sagen: „Die Welt ist gut!“, und dabei zu lächeln, dass man meine Zähne sieht. 

Clinton, Lewinsky und ich

Kurze Rückblende – Ende Januar 1999: Die Nato bereitet sich auf ein militärisches Eingreifen im Kosovo vor. Bill Clinton steht wegen der Lewinsky-Affäre kurz vor dem Amtsenthebungsverfahren. Und bei einem D-Jugend-Hallenturnier versuche ich als Ersatztorwart der schlechtesten Mannschaft Baden-Württembergs ein weiteres Gegentor mit meinem Kiefer zu verhindern.

Das Ergebnis: Eine 0:11-Niederlage und zwei tote Schneidezähne, die nach der Rejustierung und vier Wurzelbehandlungen von einem medizinischen Notfall zu einem rein kosmetischen Problem werden. Sprich: heute kann ich mit meinen unteren Schneidezähnen zwar noch wunderbar beißen, über die Jahre sind sie aber unaufhaltsam dunkler geworden, vielleicht nicht ganz so dunkel wie Leopardis Seele, aber so dunkel, dass ich den Mund beim Sprechen nie weit öffne und nur mit aufeinandergepressten Lippen lächele.

Raucherbein-Witze und Latein

Nach meinem Sportunfall entwickelte ich eine Faszination für alles, was tot war. Ich liebte Geschichten über den Untergang Roms. Latein wurde mein liebstes Schulfach. Den Zivildienst leistete ich in der Pathologie ab, wo ich einige gute Raucherbein-Witze aufschnappte und meine Weltsicht verfestigte, das Leben bestehe aus ein bisschen Erneuerung und viel Zerfall. Warum auf Implantate oder Kronen sparen, wenn einem die Zähne sowieso irgendwann ausfallen? Frei nach meinem Lieblingssänger Morrissey kleidete ich mich so schwarz, wie ich mich im Innern fühlte. In meinem Fall gingen die dunkle Skinny-Jeans und meine Schneidezähne ein fast perfektes Match ein.

2020 stehe ich also vor dem Spiegel. Geschichten vom Niedergang großer Zivilisationen werden bis zum Erbrechen auf Twitter erzählt. Morrissey ist längst ein britischer Wutbürger geworden. Meine Skinny-Jeans passt mir nicht mehr. Es ist höchste Zeit für etwas Neues.

Das fluoreszierende Bild meines Schädels

Zwei Wochen später finde ich mich auf einer Liege wieder. Ein Stirnleuchte bringt Licht ins Dunkel meines aufgerissenen Mundraumes. Der Zahnarzt sagt etwas, was mein Herz schneller schlagen lässt: „Ihre Zähne sind gar nicht abgestorben.“ Hinter ihm auf dem riesigen 4K-Fernseher läuft eine beruhigende Tierdokumentation. Schimmernde Fische schwimmen durch ein Korallenriff. Er empfiehlt eine Zahnreinigung und ein Bleaching und schickt mich zurück ins Wartezimmer.

Am Empfang mühen sich die Arzthelferinnen heldenhaft ab, die medizinische Grundversorgung während der Pandemie aufrechtzuerhalten, und eine neu angekommene Patientin öffnet nach ihrem Eintreten zunächst das Fenster und setzt sich dann höflich auf den Stuhl, der am weitesten von mir entfernt ist. Ich schaue auf eine Kopie der zwanzig Jahre alten Unfallbescheinigung, die meine Eltern aus den Tiefen einer Schublade ausgegraben haben. Ist es möglich, dass ich mein Weltbild nach einer Fehldiagnose ausgerichtet habe? 

Nun geht es in die Röntgenkammer. Ich habe erwartet, dass man mir eine schwere Bleischürze umhängt, aber dank des technischen Fortschritts übernimmt eine kleine Kieferstütze diese Aufgabe. Kurze Zeit später beugt sich mein Zahnarzt über das fluoreszierende Bild meines Schädels. Dann sagt er einigermaßen erstaunt: „Sie hatten recht. Ihr Zähne sind doch abgestorben.“ Die neue Empfehlung: Abfeilen und überkronen. Auf dem 4K-Fernseher springt ein Leopard in schlammgrünes Flusswasser und tötet ein Krokodil. Ich schlucke und unterschreibe einen Behandlungsplan.

Der Untergang des Abendlandes

In den folgenden Wochen streiten meine Krankenversicherung und die Versicherung des Sportvereins um den Zuschuss für das Kosmetikprojekt. Die esoterischen Nazis erreichen die Treppen des Reichstags. Im Supermarkt wird wieder das Klopapier knapp. Ich frage mich, ob ich mein Erspartes nicht besser hätte verwenden können. Wenn das Abendland untergeht, braucht man kein Elmex-Lächeln sondern ein Gebrauchtwagen, in dem man sich aufs Land flüchten kann.

Aber die Bezuschussung ist da. Ab jetzt gibt es kein zurück mehr. Zuerst werden meine Schneidezähne abgeschliffen. Der 4K-Fernseher ist dabei ausgeschaltet. Auf dem Selfie, das ich in einer Behandlungspause schieße, sehe ich aus wie ein Protagonist aus „Tiger King“. Man nimmt Abdrücke von meinen Stummeln. Bevor man mir ein Provisorium einsetzt, bringt eine Arzthelferin ein Mäppchen mit Kronen-Mustern. Dass Weiß eine so schöne Farbe sein kann, hätte ich nie für möglich gehalten.

Passend dazu gibt es gute Nachrichten. In den Umfragen liegt Joe Biden vor Donald Trump. Und Stephen Hawkings Schwarzes-Loch-Paradoxon scheint nach 50 Jahren gelöst zu sein. In aller Kürze: Fällt man in ein schwarzes Loch, ein buchstäblich Universen verschlingendes, kommt man am Ende wieder in einem Stück heraus. 

Zu weiß

Es kann kein Zufall sein, dass der letzte Behandlungstermin auf den Tag der Schicksalswahl am vierten November fällt. Ich quetsche mich in meine schwarze Skinnyjeans und raune, dicke Kopfhörer auf den Ohren, auf dem Weg zur Praxis meinen Zahnstummeln zum Abschied ein leises „Everyday Is Like Sunday“ zu.

Im Wartezimmer läuft eine Dokumentation über Donald Trumps deutsche Vorfahren. Ich lächele und bin mir sicher, dass er abgewählt wird. Morgen wird der Spuk ein Ende haben. Die Liege fährt zurück. Auf einem Tablett blitzen meine wunderschönen neuen Schneidezähne, die wie angegossen passen. Der Zahnarzt stellt seine Stirnleuchte an und sagt: „das gefällt mir noch nicht. Die sind zu weiß“ und gibt dem Medizintechniker die Anweisung, sie nachzugelben. 

Anzeige