Literatur und Apokalypse - Der Untergang der Schneeglöckchen

Das Ende der Welt ist ein alter Stoff der Literatur. Kein Wunder, dass aktuell viele Autoren über die drohende ökologische Katastrophe nachsinnen. Welche Funktion kommt der Literatur in der Umweltkrise zu?

Was trägt die Literatur zur Krisenbewältigung bei? / dpa
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Autoreninfo

Björn Hayer ist habilitierter Germanist und arbeitet neben seiner Tätigkeit als Privatdozent für Literaturwissenschaft als Kritiker, Essayist und Autor.

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Hitzesommer und abschmelzende Pole, Überflutungen und Versteppungen. Während der Klimawandel den Planeten in blankes Chaos versetzt, debattiert die Politik über Abgaswerte, Zertifikatehandel, hier und da über Stellschrauben im Bereich der Landwirtschaft. Indessen steigt der CO2-Ausstoß unvermindert weiter an. 

Und die Literatur, so hat man zuweilen den Eindruck, steht wortlos daneben, schreibt über Liebe, Seitensprünge und Hormone. Schreibt, worüber sie immer schreibt: über große wie kleine Mythen und Sagen. Dabei gehört auch die Geschichte vom Ende der Welt seit je in den großen Fundus des Erzählens. Armaged­don, Sintflut, Weltgericht. Kein Wunder, wenn sich allmählich hier und da Autoren zu Wort melden, die im Angesicht der ökologischen Katastrophe mit der Sprache ringen und die das Menschheitsthema für ihr Schreiben entdecken. 

Doch wie geht die Literatur mit all den bedrohlichen Umweltveränderungen um? Welche Chancen und Risiken arbeitet sie heraus? Und was bietet sie anderes als Warnungen und Zynismus? 
Das Spektrum der belletristischen Verarbeitungen erweist sich bei genauer Betrachtung als vielschichtig. Bei nicht wenigen Autoren wird es zappenduster. Scheppernde Öko-Thriller à la Frank Schätzings „Der Schwarm“ (2004) oder Uwe Laubs „Blow Out“ (2013) befinden sich wochenlang auf den Bestsellerlisten und verkünden, dass die Welt der Zukunft ganz im Zeichen des Untergangs steht. 

Nur noch Trugbilder vom Paradies

Namhafte Größen des Literaturbetriebs halten sich mit derlei oftmals polemischen Zuspitzungen hingegen zurück. Zu sehr dürfte den meisten die Gefahr vor Augen stehen, in den Trash abzurutschen. Doch diese apokalyptischen Prediger bringen immerhin eine Paradoxie auf den Punkt: Nach Jahrhunderten ungebremsten Fortschritts droht der Mensch an seiner eigenen Hybris zu scheitern. Der empirische Drang, der heilige Gral unseres Wohlstands, er scheint nun zum Grund der ökologischen Katastrophe zu werden. 

Das sieht auch der 1983 geborene Autor Roman Ehrlich ganz ähnlich. Umso mehr sucht Ehrlich im Alltag nach Stille und Unbeschwertheit in der Landschaft: „Ich halte mich gern an Orten auf, die einem eine Idee von Natürlichkeit vermitteln – also Unberührtheit von Zivilisation, Kapitalismus, Industrialisierung. Mir persönlich legen diese Orte allerdings immer das Schweigen und Schauen sehr viel näher als das Schreiben oder Sprechen.“ 

Dabei gehört Roman Ehrlich längst zu den sprachmächtigen Nachwuchstalenten. Nach seinem Studium des Kreativen Schreibens am Deutschen Literaturinstitut Leipzig folgte schnell die Einladung zum Ingeborg-Bachmann-­Wettbewerb. Und nun hat er mit seinem Debüt „Malé“ eine der eindringlichsten Zukunftsschauen dieses Bücherjahrs vorgelegt. 

Hierin zeichnet Ehrlich das Porträt einer Inselgesellschaft am Rande des Abgrunds. Hitze liegt in den Straßen der titelgebenden maledivischen Hauptstadt, wo sich nur noch ein paar Aussteiger zusammenfinden. Ansonsten liegen Großteile der Insel längst unter Wasser. Mag unsere Sehnsucht einst von den Illusionen vom Südseerefugium genährt worden sein, so sind hier nur noch Trugbilder vom Paradies geblieben. 

Literaten als Gradmesser

Für Roman Ehrlich stellt sich im Schatten der Klimakrise eine große Frage: „Weshalb wird das Paradiespotenzial der Welt von den Menschen konstant verkleinert, bedroht, verunmöglicht? Paradiesvorstellungen, Wünsche, Sehnsüchte, ihre Traumwelthaftigkeit, das Unerreichbare der Traumwelt und die gesellschaftliche Funktion dieser Unerreichbarkeit sind Phänomene, die den menschlichen Einfluss auf das Klima betreffen. Sie erscheinen mir im Raum der Literatur verhandelbar. Andernorts mündet das Gespräch ja oft sehr schnell in Banalitäten, Gefasel, Kitsch oder Selbstdarstellung und muss aus Selbstschutz abgebrochen werden.“

Literatur als Raum für die echte Debatte? Als Korrektiv zu oberflächlichen TV-Talkrunden, die sich zumeist auf Slogans wie „Mehr Schiene“ und „Weniger Auto“ reduzieren? Vielen Autoren ist derzeit ein Anliegen gemein: Sie verstehen sich als genaue Beobachter, als Gradmesser, sowohl im buchstäblichen Sinne, was die Erderwärmung betrifft, als auch im übertragenen Sinne. Die Rede ist dann von einer genauen Beschreibung des Zustands der Gesellschaft im Leben mit dem Klimawandel. 

Diese Herausforderung nimmt auch der Schriftsteller und Dramaturg John von Düffel an, der beim Gespräch über sein Schreiben sehr schnell auf eine der wichtigsten Ressourcen unseres Planeten zu sprechen kommt: das Wasser. Als leidenschaftlicher Schwimmer ist von Düffel regelmäßiger Besucher an den Potsdamer Seen. Selbst Temperaturen um vier Grad schrecken den 1966 in Göttingen geborenen Autor nicht ab. Das Gleiten durch Wasser bedeutet für ihn, dass man sich selbst im virtuellen Zeitalter noch ein Stück Realität bewahren kann. 

Doch auch diese Realität wird bei von Düffel fiktiv – etwa in seinem jüngsten Werk „Der brennende See“. Um das titelgebende Gewässer aus seinem mittlerweile elften Roman formiert sich, anknüpfend an die Fridays-for-Future-Bewegung, jugendlicher Widerstand. Denn der See ist bedroht, und die Jugendlichen wollen ihn retten. „Klimagerechtigkeit = Generationengerechtigkeit“, so das Motto der juvenilen Rebellen, die heutiges politisches Versagen als Ursache für die bevorstehende planetare Krise reklamieren. 

Mensch ist nicht mehr Krone der Schöpfung

An diesem Roman lässt sich eine durchaus wichtige Funktion der Klimaliteratur aufzeigen: Indem sie die soziologischen und ökologischen Folgeerscheinungen der globalen Umweltkrise analysiert, führt sie ihre diagnostische Kompetenz vor Augen. Sie erläutert Zusammenhänge und Hintergründe, liefert einen Beitrag zum Verstehen. Wichtig ist von Düffel „die exakte Versprachlichung der elementaren Störung, nämlich der akuten Störung zwischen Mensch und Natur. Gerade die Generation Greta ist sehr politisiert. Die Debatten um Klimaschutz reichen bis zum Abendtisch, wo Ernährung und Ähnliches Thema wird.“

Die Inhalte der neuen Ökoromane sind das eine, die Ästhetik etwas anderes. Allzu oft ergeht sich die Prosa in ermüdenden Botschaftsvermittlungen. Diese Entwicklung reflektiert auch von Düffel: „Abseits der Überlegung, wie wir richtig leben, ist die Frage relevant: Wo überschreitet die schöne Literatur die Grenze zur sogenannten engagierten Literatur? Bei diesem schmalen Grat muss man aufpassen, nicht in die Falle des Tendenziösen zu tappen.“ 

Sieht man von Zuspitzung als Mittel literarischer Energieerzeugung ab, gilt es, eine adäquate Sprache für die massiven Veränderungen in der Ökosphäre zu finden. Inspiriert von ökoethischen Schriften von Donna Haraway bis Tom Regan, loten Autoren verstärkt die Grenzen unserer Wahrnehmungsfähigkeiten aus, indem sie sich schreibend in das Bewusstsein von Pflanzen und Tieren vortasten. Dichter wie Silke Scheuermann, Mikael Vogel oder die just gekürte Literaturnobelpreisträgerin Louise Glück nehmen in ihren Poemen die Perspektiven vom Schneeglöckchen oder von längst ausgestorbenen Arten wie dem Dodo ein. Sie leihen all den wehrlosen und stummen Mitwesen ihre Stimme. Die deutliche Ansage lautet: Der Mensch ist nicht mehr die Krone der Schöpfung, sondern lediglich Teil eines umfassenden Netzwerks aus organischen und anorganischen Akteuren. 

Sphäre für Möglichkeitsdenken

Diese Infragestellung des Anthropozentrismus mag als ein vorläufiger Endpunkt einer langen Auseinandersetzung der Literatur mit der Trias Flora, Fauna und Mensch gelten. Besonders im 18. Jahrhundert bildete sich dabei ein neues Verständnis für die grüne Welt heraus. Für die Empfindsamkeit band sich an die Natur ein Ethos. In ihr spiegelten Autoren den Blick des mitfühlenden Bürgers. Die Weimarer Klassik ging noch weiter. Ihr zufolge transportierte die Natur Maß und Schönheit, diente der Vervollkommnung des Menschen, galt mithin als das Göttliche und Mütterliche. In der Romantik, die noch einmal den Versuch unternahm, Mensch und Landschaft zu vereinen, ließen sich bereits Zeichen des Verlusts erkennen. Spätestens mit der industriellen Revolution machte sich dann eine zunehmende Verfinsterung in den Beschreibungen von Wäldern und Bergen bemerkbar. Auf die Natur  folgte in den siebziger Jahren schließlich die Umwelt- und Ökoliteratur, die – im Schatten des Atomzeitalters – das grüne Leben längst im Untergang begriffen sah.

Der Riss durch Zivilisation und Wildnis, ja, die große Entfremdung zieht sich also lange schon durch unsere Sätze und Worte, was allen voran die zeitgenössische Poesie belegt. 

Zu den derzeit bildmächtigsten Klimadichtern zählt etwa der Lyriker Mirko Bonné mit seinem Gedichtband „Wimpern und Asche“. Um die Kontamination der Tiere durch Chemie und Umweltverschmutzung darzustellen, spricht das Ich seiner Miniaturen von „Polyesterfischen“, die sich in einem Fluss aus Plastik tummeln. Doch der Autor findet sich nicht mit den beklemmenden Untergangsnarrativen ab. Stattdessen künden seine Texte vom Wiedererstarken der Flora und Fauna – selbst unter unwirtlichsten Bedingungen: „Wild, tief dunkelgrün, / wächst die Feige auf Unrat und Müll, / hineingeworfen zu den Fensterlöchern / – wie in einen / Schacht, in dem / Verfallenmüssen und / Leere zusammenfinden und / Zeit und Tod vergehen vor lauter Leben.“ 

Da solch Lyrik nicht an Gesetze der Wirklichkeit gebunden ist, offenbart sie sich als Sphäre für Möglichkeitsdenken. In seinem Schreiben versucht Bonné, der für 2021 auch ein erstes Prosawerk zum Klimawandel angekündigt hat, die Welt neu zu erfinden und sie gleichsam reisend zu erforschen – einen Ansatz, den er auch voll und ganz lebt. Von Südamerika bis in den Iran hat es den 1965 geborenen Autor und Weltenbummler auf seinen Expeditionen bereits verschlagen. Die Sommermonate verbringt er in Südfrankreich, den Winter eher auf der Insel Fehmarn. Und auch geistig ist er ein Reisender: etwa als Übersetzer von John Keats oder Sherwood Anderson. 

Beschwörung einer gefährdeten Schönheit?

Nicht zuletzt aus diesem Grund wählte man ihn jüngst als einen von fünf internationalen Autoren aus, die im Rahmen des Projekts „Wetterstation“ in unterschiedlichste Metropolen reisen und sich dort mit Wissenschaftlern und Philosophen austauschen durften. Aus Aufenthalten in Melbourne, Berlin, Dublin, London und Warschau gingen facettenreiche Texte hervor. Sie beleuchten, wie Bonné sagt, die emotionale Seite der Umweltveränderungen: „Meine Lyrik entspringt einem romantischen Impuls, ist getrieben vom Hineinschauen in die Welt, die mir Material gibt. Gerade die Fakten zum Klimawandel sind wie eine trockene Masse, die ich so aufbereiten und verdichten will, dass daraus wieder Klang wird.“ 

Dieses Suchen nach dem richtigen Sound vermittelt eine wichtige Einsicht: Allein die wissenschaftliche Datenlage genügt nicht, um ein Umsteuern in unserem Verhalten einzuleiten. Dichtung hingegen weiß, das Unsichtbare und Vage greifbar zu machen, es in unser sprachliches Bewusstsein zu holen. Sie eröffnet Erfahrungsräume und schreibt etwas fest. Sie ist das Mittel gegen Flüchtigkeit und Vergänglichkeit – auch und gerade einer bedrohten Natur. Sie bedeute, so Bonné, immer auch Bewahren.

Könnte vor diesem Hintergrund vielleicht ein passendes Rezept zur literarischen Klimawandelbewältigung darin bestehen, noch einmal, vielleicht ein letztes Mal, die Schönheit der Schöpfung zu beschwören? Gerade in Anbetracht ihrer permanenten Gefährdung?

Den Gegenpol zu derlei Versuchen stellen gezielte Verwissenschaftlichungen von Stil und Handlungen dar, wie sie etwa Daniel Falb in seinen poetologischen Studien „Geospekulationen. Metaphysik für die Erde im Anthropozän“ und „Anthropozän. Dichtung in der Gegenwartsgeologie“ anvisiert. Da der Klimawandel allein den exponentiellen Graphen als ikonisches Zeichen habe, solle man sich ihm zufolge nicht so sehr allein auf die Bildung von Metaphern fokussieren, sondern sich in den direkten Zahlendiskurs einarbeiten, ja, ihn zur Literatur erheben. 

Nicht retten, aber mahnen und warnen

Im breiten Spektrum der Sci-Fi-Literatur lässt sich ein solcher Ansatz seit langem verfolgen. Obgleich man Sibylle Bergs Roman „GRM. Brainfuck“, eine so wuchtige wie zornige Abrechnung mit der Dekadenz der Spätmoderne, nicht ausschließlich in diese Schublade einsortieren kann, weist er dennoch einige Züge des Genres auf. Entworfen wird hier eine zukünftige, technologisch aufgeputschte Ego-Gesellschaft, in der sich der Ballast unserer Epoche potenziert. Um der Leere zu entfliehen, stürzen sich die Menschen in den Konsum und in die virtuellen Sphären. „Die Angehörigen der Generation Z lebten in ihren Endgeräten, wo immer mehr los war als auf den langweiligen Straßen in ihrem Nest.“ Während sich das Dasein gänzlich in die virtuellen Weiten verlagert, bleibt die Ausbeutung der natürlichen Grundlagen von den meisten unbemerkt. So erfährt man von einer „ehrliche(n) Gegend des Anthropozäns (…), wo es verwunschene Seen gibt (…).

Irgendetwas passiert da, tief in diesen Seen, die nach Schwefel riechen, sie liegen zwischen Industrieanlagen wie kleine Blutlachen, die aus gestorbenen Robotern austreten.“ Anstatt die Reste grünen Lebens zu retten, setzt man auf die völlige Ersetzung der einstmals echten Natur: „Als Nächstes kommen künstliche LED-Sonnen ins Spiel – eine neuartige Form von Satelliten, die man ‚Sun Simulator‘ nennt.“ Was nützt noch die Realität, wenn ihre Kopie bereits so viel schillernder und berauschender ist?

Die Literatur, so viel steht fest, wird die Welt nicht retten können. Leider. Aber sie kann mahnen und warnen. Lautstark, schrill, kompromisslos. Nicht mehr und nicht weniger, als eine Sprache für die planetare Krise des 21. Jahrhunderts zu entwickeln, ist die Herausforderung. Denn jede Diagnose und jede Therapie finden ihren Anfang im Wort. Es gibt ein Gerüst für das zu Beginn noch Volatile und Vage, indem es im buchstäblichen Sinne verdichtet. Dieses Potenzial noch weiter produktiv nutzbar zu machen, kann man sich nur wünschen. Denn es bedarf in einer utopiefernen Zeit noch vermehrt positiver Visionen. Wie könnte eine klimaneutrale Gesellschaft von morgen aussehen? Welchen wegweisenden Begriff von der Beziehung zwischen Mensch, Umwelt und Tier könnte es geben? Wenn es den Literaten der Gegenwart gelänge, sich aus der Dunkelheit heraus in die verlorenen Paradiese vorzuschreiben, könnten sie vielleicht zu Schöpfern neuer Landschaften werden.

Dieser Text stammt aus der Januar-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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