Afrika - Das Sachbuch des Jahres

Die Ethnologin Heike Behrend hat im Rahmen der Leipziger Buchmesse den Preis für das beste Sachbuch erhalten. Sie schreibt packend von ihren Forschungsjahrzehnten in Afrika – und zeigt uns, wie verflochten miteinander wir in unseren Kulturen sind.

Die Ethnologin Heike Behrend Foto: Anita Back
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Autoreninfo

Jens Nordalm leitete bis August 2020 die Ressorts Salon und Literaturen bei Cicero.

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Die Leipziger Buchmesse hat am Wochenende ihre Preise vergeben. Die Nominierungsliste in den Kategorien Belletristik, Sachbuch und Übersetzung hatte zuvor Proteste ausgelöst: Nur „Weiße“ waren nominiert. Die heftigen Einsprüche dagegen übersahen einiges, etwa den sehr hohen Anteil an Frauen – und deren recht hohes Alter: gerade dies ein schöner Zug der Liste. Und die Einsprüche überzeugten in ihrem Gesamtansatz nicht.

Denn Literatur ist nicht das Gleiche wie Gesellschaftspolitik. Die Jury setzte sichtbar und konsequent auf Qualität, verordnete sich in guter universalistischer Tradition Blindheit für Hautfarben – und erreichte trotzdem, oder gerade deswegen, eine beeindruckende Diversität an Stilen, Herangehensweisen, Fragestellungen, in allen Kategorien.

Es waren nun auch drei Frauen, die gewannen. Timea Tankó in der Übersetzung, Iris Hanika in der Belletristik und im Sachbuch Heike Behrend, eine der nominierten älteren Damen. Behrend, Jahrgang 1947, emeritierte Ethnologin und Afrikanistin, hat im vergangenen Jahr im feinen und eigenwilligen und dabei sehr erfolgreichen Berliner Verlag Matthes & Seitz eine Autobiografie von sich als Forscherin in Afrika veröffentlicht: „Menschwerdung eines Affen“. Mit diesem Preis hat sie nun also sozusagen das Sachbuch des Jahres geschrieben.

Komplizierte afrikanische Gemengelagen

Die Schilderung und behutsame Reflexion ihrer jahrzehntelangen afrikanischen Erfahrungen und Begegnungen und sozialen Mühen vor Ort treffen mitten hinein in eine Zeit der identitätspolitischen und postkolonialen Debatten, gerade auch um Raubkunst und Rückgaben. Und Heike Behrend tut in diesem Buch, was immer gut ist: Sie macht die Dinge komplizierter. Damit es Vereinfachungen schwerer haben.

Das Buch liefert (ohne dass das sein eigentliches Thema wäre) Belege, dass die jüngst in der Diskussion um die Rückgabe der Benin-Bronzen von Ethnologen ausgesprochene Warnung nicht aus der Luft gegriffen ist. Es gibt die Gefahr von politischen „Re-Ethnisierungen“ mittels restituierter Kulturgüter in afrikanischen Gesellschaften. Unter dem Königtum in Benin haben auch Afrikaner benachbarter Ethnien gelitten. Die Sache ist eben nicht so einfach, wie sie in der moralisch-schlichten Erzählung erscheint: Europäer geben geraubte Werke zurück, und dann haben afrikanische Gesellschaften oder Nationen endlich die Artefakte wieder, die ihre Identität ausmachen.

Wie kompliziert die Frage von Identitäten auch in Afrika gestern und heute ist, wie kompliziert die Gemengelage von Interessen, politischen Strategien, Neu-Erfindungen von Traditionen – das zeigt dieses Buch fast auf jeder Seite. Behrend erlebt Prozesse der Re-Traditionalisierung von Königtümern als Teil einer afrikanischen Moderne – ein Königtum, das abgeschafft war, versucht später in fragwürdigem politischem Kontext, seine zu Schaustücken gewordenen Kult-Objekte in sakrale Objekte zurückzuverwandeln.

Wechselseitige Durchdringungen

Glänzend beschreibt Behrend die Verschränkungen von Afrika und den Anderen seit Jahrhunderten: die Berührungen und Begegnungen, die Bewertungen und Benennungen zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten – hin und her gehen die Zuschreibungen (alle nannten sich tatsächlich gegenseitig immer wieder „Kannibalen“ und „Affen“), und alle verändern sich stetig in diesem Prozess der Spiegelungen, bis heute.

So sind Teile von Riten, die Behrend schildert, Imitationen der Verhaltensweisen von Europäern in den Expeditionen. Die Vermeidung des ausdrücklichen Zählens von Eigentum ist möglicherweise Reaktion auf koloniale Praktiken des Quantifizierens und der Abgabenerhebung. Es gibt nicht die eine westliche Moderne – und dann zöge Afrika nach; was geschieht, sind eher wechselseitige Durchdringungen und darin entstehende eigene afrikanische Modernen. Die Durchsetzung westlicher Rationalität etwa hat in Afrika, bis heute, eher zu einem Erstarken von Religion, Geistern, Magie und Hexerei geführt.

Angesichts dieser so offensichtlich geteilten und verflochtenen Geschichte fragt man sich, ob nicht auch der Ursprungsgedanke des Berliner Humboldt Forums doch mehr Sinn macht, als man heute wahrhaben will: Der Gedanke des „shared heritage“, des geteilten Erbes, das man gemeinsam antreten könnte – und aus dem heraus sich durch Rückgaben ein sauber-schuldloser Ursprungszustand eben nicht mehr herstellen lässt.

Seltsam sind wir alle – je nach Perspektive

Bei all dem ist es auch immer wieder ein komisches Buch. Die Komik rührt oft daher, dass die afrikanischen Gegenüber irgendeine Äußerung oder Verhaltensweise der Ethnografin mit einer gewissen Nachsicht lustig unplausibel finden – und wir wiederum darüber lachen und zugleich ahnen, dass wir selbst uns wahrscheinlich auch über manche groteske Haltung lustig machen, die in Wahrheit so grotesk nicht ist. So lächelt einer über die Frage von Behrend, wann ein bestimmtes Ereignis denn stattgefunden habe: Das sei nicht wichtig, denn das Ereignis werde ja sowieso bald wieder geschehen. Alles wiederhole sich doch! Nietzsche wäre dabei.

Schön auch, wie diese Forschung in ihren Perspektiven nie fertig aus Berlin mitgebracht wird. Behrend berichtet, um überhaupt erst ihre Fragen an die afrikanischen Weltsichten zu finden, habe sie sich erst einmal viele Geschichten erzählen lassen müssen. Immer wieder gelingt ihr dann die Schilderung afrikanischer Rituale, Vorstellungen und symbolischer Handlungen in einer Intensität, dass hinter dem verständlich werdenden Fremden auch die Gar-nicht-Selbstverständlichkeit unserer westlich-aufgeklärten Begriffe und Deutungen aufscheint.

So erfahren wir von Herrschaftsgliederungen über Altersklassen, wo in den ältesten Klassen Frauen und Männer gleichgestellt sind. „Häuptlinge“ wurden dann oft erst von den Kolonialverwaltungen eingesetzt. Wir lesen vom Verhältnis zwischen den Menschen und ihren Namen – eine zugleich intensivere und flexiblere Praxis als bei uns, wenn Menschen mehrere Namen im Laufe des Lebens erhalten: zwischen stets nur wenigen Ahnen-Namen, die eine Verpflichtung fürs Leben bedeuten (die man aber auch austauschen kann), Namen zu bestimmten sozialen Stationen im Lebenslauf und dazu noch eher situativ-spielerische Namen, die ganz individuell die Situation während der eigenen Geburt festhalten. Anregend auch die Variationen der Tisch- und Ess-Sitten, mit denen man hier bekannt wird. Man esse niemals seinen Teller leer! Denn damit zeigt man, dass man nicht satt geworden und überhaupt ein gefräßiger Mensch ist.

Hexen, Kannibalen und Affen

In einem spannenden Großkapitel geht es um die sozialen Funktionen des Glaubens an Hexen und Kannibalen in den 90er-Jahren in Uganda – als Mittel, das zu erklären und adressierbar und handhabbar zu machen, was für uns im Westen meist „Zufall“ heißt: Die Ursache für Unglück und Tod. Behrend hadert mit der ambivalenten Rolle katholischer Gruppen, die Hexen und Kannibalen jagen, identifizieren und „heilen“, auf diese Weise zwar punktuell sozialen Frieden stiften, aber zugleich auch Einzelne stigmatisieren, sie sozialer und physischer Gewalt preisgeben – und mit all dem die „Realität“ von Hexen und Kannibalen immer neu bestätigen.

Behrend hat – und das ist doch der besondere Clou des Ganzen – immer ihre eigene Befremdlichkeit aus der Perspektive der von ihr Erforschten im Blick. Darauf zielt der Titel des Buches: „Menschwerdung eines Affen“. Sie selbst ist dieser Affe, so wird sie genannt (oder auch, in einer Forschungssituation, als sie den von ihr Erforschten verdächtig und unheimlich wird, die „Kannibalin“). Der Affe ist in dieser sozialen Weltdeutung das ständige, mal nähere, mal fernere Andere des Menschen – ein Ausgangspunkt, ein Rückkehrpunkt, ein immer erneuter Abstoßungspunkt. Das nun fände Darwin interessant.

Eindringlich schildert sie, wie sie vom „Affen“ erst zum sozialen „Ding“ wird, dann zu einer „kleinen Person“ durch gemeinsame Mahlzeiten, und noch weitere Stufen erreicht – eine soziale Aufstiegsgeschichte, die jedoch ihre Grenzen hat. Die Grenze wird durch das Lachen markiert: Behrend wird ausgelacht wegen ihrer äußeren Erscheinung und ihres als ungelenk empfundenen Benehmens (nie sei sie im Leben so viel ausgelacht worden wie in Afrika), über sie erzählt man sich erheiternde Geschichten, sie wird nicht ernst genommen, sie wird aufgezogen, sie wird pädagogisch sogar als Kinderschreck benutzt.

Geteilte Ängste

Am Ende der Lektüre hat man einen erfreulich gelockerten Blick auf den Menschen: Was sind wir doch alle für seltsame, uns mehr schlecht als recht magische Rituale und Erklärungen fürs Unverständliche zusammenzimmernde Wesen! Wir alle! Auch die Eucharistie ist ja ein Kannibalismus. Vorgeworfen haben das schon die antiken Christenfeinde den Christen und noch die Calvinisten den Katholiken. Oder wie erstaunlich treffen wir Menschen uns in unserer Scheu etwa vor der fotografischen Technik! Diese Scheu kennt auch die westliche Reaktionsgeschichte auf Fotografie und Film.

Behrend traf auf Vorstellungen vom Gefilmtwerden als einem Raub, der dem Gefilmten buchstäblich Substanz nimmt. Das Foto-Bild wie der Körper-Schatten als Teile der Person, über die man der Person selbst schaden kann. Etwa wenn man, auch versehentlich, auf den Schatten eines Menschen tritt. Es gibt auch eine westlich-religiöse Vorstellungstradition vom Schatten als Seele. Ähnlich die Sorge, mit der Behrend umgehen musste, etwas, das sie aufschrieb oder mit dem Tonband aufnahm, könnte den Menschen weggenommen werden in einem Sinne von Unwiederbringlichkeit. Auch das klingt, wenn man ehrlich ist, alles andere als absurd.

Sehr wahrscheinlich, dass in Leipzig tatsächlich das beste Sachbuch gewonnen hat.
 

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