Leben in Zeiten von Corona - Eine internationale Schicksalsgemeinschaft

Die Corona-Krise erschüttert unsere Gesellschaft und fördert neue Verhaltensmuster zutage. Dabei ist es wichtig, die Krise nicht unabhängig von anderen Problemen zu analysieren oder zu lösen. Klimawandel, Globalisierung und Kapitalismus werden durch sie in ein neues Licht gerückt.

Wo steht die deutsche Gesellschaft in Corona-Zeiten und was erwartet sie noch? / dpa
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Autoreninfo

Prof. Dr. Wolfgang Welsch ist Philosoph und lehrte unter anderem an der Universität Jena, der Humboldt-Universität in Berlin und an der Standford University.

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Wolfgang Welsch ist emeritierter Professor der Philosophie und lebt in Berlin. Er lehrte u.a. in Berlin, Jena, Stanford und Atlanta. 1992 erhielt er den Max-Planck-Forschungspreis, 2016 den Premio Internazionale d'Estetica.

Mich überrascht, wie die Deutschen auf Corona reagieren. Plötzlich steht die Rücksichtnahme auf die Alten und Schwachen an erster Stelle. Die Jungen machen das ganz und gar mit. Dabei war doch das Verhältnis zwischen ihnen und den Älteren bis vor kurzem deutlich angespannt. Sie hielten uns vor, dass es uns hätten gut gehen lassen und unsere Altersversorgung gesichert hätten – auf ihre Kosten. Sie wüssten nicht, wie sie den Schuldenberg, den wir aufgetürmt haben, je abtragen sollten; ihre Beschäftigungssituation sei völlig unsicher und ihre Alterssicherung stehe in den Sternen.

Fridays for Future beklagte nicht nur den Raubbau an der Natur, sondern auch die soziale Verantwortungslosigkeit der älteren Generation an. Jetzt aber wird auf einmal allenthalben die Solidarität mit den Alten und Schwachen verkündet. Dabei könnte man doch auch eine Gegenrechnung aufmachen: Dass eine hohe Sterberate die Überlast an Alten mäßigen, die Alterspyramide halbwegs normalisieren und die Rentenkasse wieder zahlungsfähiger machen würde. Aber nichts davon wird geäußert. Solidarität ist die Parole der Stunde. Merkwürdig auch, wie klaglos die Einschränkungen akzeptiert werden, die man uns auferlegt. Wir sollen zu Hause bleiben, nur in dringenden Fällen nach draußen gehen und dann einen Mindestabstand von anderthalb, besser noch zwei bis drei Metern einhalten.

Klaglose Akzeptanz trotz Ungereimtheiten

Auch wird das Zusammensein mit anderen drastisch eingeschränkt: Eine Gruppe darf aus nicht mehr als zwei Personen bestehen. All das wird frag- und klaglos akzeptiert, obwohl doch offensichtliche Ungereimtheiten bestehen. Die Supermärkte sind erwiesenerrmaßen Ansteckungsorte erster Güte. Das gilt in erster Linie für die dort Beschäftigten, welche die Regale auffüllen oder an der Kasse sitzen, aber es betrifft auch die Kunden. Mir ist völlig unverständlich, dass man hier nicht Schutzmasken zur Pflicht macht. Natürlich müssen wir einkaufen. Aber dann doch bitte mit maximaler Vorsicht an einem so riskanten Ort, also bitte nur mit Schutzmaske – andere Länder haben es uns erfolgreich vorgemacht.

Und der Grund, warum keine Schutzmaskenpflicht erlassen wird, ist absolut beschämend: Derlei Schutzmasken stehen in good old Europe schlicht nicht ausreichend zur Verfügung. Sträfliche Unterlassung von Schutzmaßnahmen auf der einen, völlig überzogene und sinnlose Interventionen auf der anderen Seite. Beispielsweise sind alle Sportstätten geschlossen, Dabei hat man vergessen, zwischen Mannschaftssport und Individualsport zu unterscheiden. Der letztere wäre selbstverständlich ohne jegliche Gefahr möglich.

Zwischen Kapitalismus und Gesundheit

Wenn ein Golfspieler seine Runde allein oder zu zweit zieht, dann kann er niemanden anstecken – man hält schon unter Normalbedingungen mehr als anderthalb Meter Abstand, jeder fasst nur den eigenen Ball an, und die Fahne lässt man stecken, also erfolgt keinerlei gegenseitige Berührung. Außerdem kräftigt man sein in diesen Zeiten so wichtiges Immunsystem. Da ist jeder Supermarktbesuch tausendmal gefährlicher. Aber, wie gesagt, bezüglich des Letzteren ist man sträflich nachlässig, beim Sport hingegen unsinnig rigoros. Unmut regt sich allenfalls an einer Stelle: Wir tun alles für die Gesundheit und nichts für die Wirtschaft.

Wenn das noch lange weiter geht, werden die wirtschaftlichen Schäden weit größer sein als die gesundheitlichen. Das ist die Weise, wie unter Corona-Bedingungen ein Konflikt zutage tritt, der die Gesellschaft in normalen Zeiten auf umgekehrte Weise bestimmt: Der Gegensatz zwischen der kapitalistischen Wirtschaftsweise und dem guten Leben. Wir wissen, dass die kapitalistische Wirtschaftsweise unserem Leben nicht zuträglich ist. Sie zerstört nicht nur die Natur, sondern auch unsere Gesundheit und die humanen Beziehungen. Aber für gewöhnlich geben wir in diesem Konflikt der Wirtschaft den Vorrang.

Hat die Corona-Krise langfristige positive Auswirkungen?

Genau das Gegenteil aber geschieht in der Coronakrise: Jetzt steht die Gesundheit an erster Stelle, die Wirtschaftsinteressen treten dahinter zurück. Im Blick auf die Zukunft werden bereits entsprechende Veränderungen erwogen. Im Bereich der Kliniken und Pflegeheime haben sich in den vergangenen Jahrzehnten infolge einer zunehmend strikteren Ökonomisierung des Gesundheitswesens massive Defizite angehäuft. Alles wurde nach finanziellen Gesichtspunkten ausgerichtet. Es geht um Gewinnmaximierung, Renditensteigerung, Shareholder Value. Das Kostbarste, was wir haben, die Gesundheit, wurde finanziellen Interessen geopfert.

Krankenhäuser und Pflegeheime arbeiten zunehmend nach Vergütungsplan, anstatt sich an den gesundheitlichen Erfordernissen der Patienten zu orientieren. Diese Perversion will man in Zukunft wieder rückgängig machen. Kapitalismus und Neoliberalismus müssen zurückgedrängt werden. So könnte Corona, wenigstens in the long run, auch eine positive Auswirkung haben. Es gibt jedoch auch gefährliche Fehleinschätzungen. Corona wird gerne in die Nähe einer Naturkatastrophe gerückt. Corona überkomme uns quasi schicksalshaft, wir seien dem Virus ausgeliefert, hätten es aber nicht verursacht.

Corona ist so menschengemacht wie der Klimawandel

So sagte der deutsche Finanzminister Olaf Scholz am 19. März 2020 in der Talkshow von Markus Lanz: „Die Finanzkrise von 2008 war menschengemacht – die Coronakrise ist nicht menschengemacht." Das ist grotesk falsch. Die wet markets, die Ursprungsorte der Ausbreitung des Virus, sind zivilisatorische Einrichtungen, nicht Naturgegebenheiten. Und die Tatsache, dass zunehmend Viren aus dem Tierreich auf den Menschen überspringen, ist eine Folge unserer fortgesetzten Störung und Zerstörung von Ökosystemen. Corona ist keine Naturkatastrophe, sondern eine Folge zivilisatorischen Fehlverhaltens. Corona ist so menschengemacht wie der Klimawandel.

Das aber schiebt man derzeit weit von sich weg. Gewiss, im Moment müssen wir mit medizinischen Mitteln und sozialen Vorsichtsmaßnahmen gegensteuern. Aber nur von der Erhöhung der Bettenkapazitäten und den dafür notwendigen Finanzmitteln zu sprechen, ist fahrlässig. Es ist unerlässlich, neben dieser Kurzzeitperspektive die Langzeitperspektive einer ökologischen Umstellung ins Auge zu fassen. Europas „Green Deal" und das Ziel eines „Green Planet" dürfen nicht aus den Augen verloren werden. Aber just das geschieht derzeit.

Die Corona-Krise lässt sich nicht von der Klimafrage trennen

In den Feuilletons faseln manche davon, wie schnell die Klimakrise in den Hintergrund getreten ist; die Aufregung um das Klima war wohl nur eine Modeerscheinung; jetzt hat die Realität ein anderes Thema aufs Tapet gebracht. Coronakrise und Klimakrise seien völlig verschieden und hätten nichts miteinander zu tun. Corona sei nah, die Klimaproblematik weit weg; Corona sei ein medizinisches, die Klimakrise ein globales Problem; Corona brauche Forschung, Technologie und sofortiges Handeln, Weltanschauungswolken könne man hingegen getrost der Klimafrage überlassen. Ich halte das für völlig falsch, töricht und gefährlich.

Denn die Corona-Pandemie und weitere Pandemien, die absehbar auf uns zukommen werden, sind Folgen unserer zivilisatorischen Eingriffe in die Natur, unserer Zerstörung von Ökosystemen. Man kann die Coronakrise nicht von der Klimaproblematik abtrennen. Wer das tut und Corona gegen die Klimakrise ausspielt, versucht Feuer mit Benzin zu löschen. Politisch hat Corona gefährliche Auswirkungen. Das Virus breitet sich global aus. Paradoxerweise versucht man es aber national zu bekämpfen. So erhält der Nationalismus, der seit etlichen Jahren in Europa und anderswo wieder erstarkt ist, durch die Coronakrise zusätzlichen Auftrieb.

Die Globalisierung zeigt ihre Schattenseiten

Die europäischen Staaten haben ihre Grenzen gegeneinander dicht gemacht. Wie hilflos, wie unsinnig, wie grotesk! Das Virus kennt keine Grenzen und ist ohnehin schon überall. Warum soll denn die nationale Zirkulation des Virus weniger gefährlich sein als die internationale? Fatale alte Fantasien kommen wieder hoch, etwa die vom gesunden Volkskörper, den man gegen Einfluss von außen schützen und rein halten muss. Die Politik bedient sich zunehmend einer martialischen Sprache – aus Frankreich tönte Macrons „Nous sommes en guerre" zu uns herüber. Man kündigt jetzt schon an, dass nach der Krise eine Verstärkung der nationalen Vorsorge erfolgen müsse.

Die Globalisierung zeige gerade bei einer weltweiten Pandemie ihre Schattenseiten. Wenn Schutzmasken und Schutzkleidung praktisch nur in China und Indien produziert werden und von dort bezogen werden müssen, dann ist eine dort grassierende Seuche für die ganze Welt fatal, die Versorgung mit Schutzmasken und Schutzkleidung bricht global zusammen. Also muss man in Zukunft national vorsorgen. Und das wird nicht nur Schutzausrüstung betreffen, sondern sämtliche Güter, die für das tägliche Leben und Überleben wichtig sind.

Sind die Deutschen wieder obrigkeitshörig geworden?

Der Nationalismus, den uns die führende Macht des Westens schon länger gepredigt hat („America first!"), wird sich durch solche Maßnahmen drastisch verstärken. Paradoxerweise glaubt man, die globale Bedrohung national stoppen zu können. Wie ist diese Schnapsidee zu erklären? Neuerdings heißt es, das Coronavirus greife auch das Nervensystem an. In der Tat scheint es von etlichen Gehirnen schon Besitz ergriffen zu haben. Wird die Bevölkerung die auferlegten Beschränkungen weiterhin hinnehmen?

Viele bezweifeln Sinn und Notwendigkeit einzelner Vorschriften, aber insgesamt begehrt niemand auf oder widersetzt sich. Auch das ist ein gespenstischer Aspekt. Sind die Deutschen wieder obrigkeitshörig geworden? Sie ducken sich, anstatt aufrecht für ihre Ansichten einzutreten. Es mangelt an öffentlicher Diskussion. Irgendwie unterwirft man sich dem Diktum von Virologen und staatlichen Stellen – obwohl die Virologen keineswegs einer Meinung sind und zum Teil geradezu konträre Vorschläge unterbreiten, beispielsweise behaupten die einen (das Robert-Koch-Institut), man könne sich durch das Tragen normaler Masken überhaupt nicht schützen, während andere sagen, jede Maske würde helfen und wir sollten alle in der Öffentlichkeit Masken tragen.

Finanzprogramme in Billionenhöhe

Ebenso sind die staatlichen Stellen uneins: Einzelne Bundesländer haben, über die nationalen Grenzsperren hinausgehend, zeitweise ihre Landesgrenzen gegenüber Bürgern aus anderen Bundesländern dicht gemacht. Die Bevölkerung aber kuscht und folgt den Vorgaben – teilweise zwar murrend, aber doch insgesamt wie eine gehorsame Herde. Wie wird sich das soziale Klima verändern, wenn die Krise dereinst überstanden sein wird? Die wirtschaftlichen Einbußen werden gravierend sein, die Erholung wird aufgrund der globalen ökonomischen Schäden keineswegs so rasch erfolgen, wie manche Experten es derzeit in Aussicht stellen.

Die Armut wird zunehmen, die Schere zwischen Arm und Reich noch weiter auseinandergehen. Da ist absehbar, dass soziale Spannungen wachsen, dass soziale Konflikte aufbrechen und sich gelegentlich auch entladen werden. Zwar hat die Regierung alles getan, um die Schäden aufzufangen oder abzumildern. Sie hat zu diesem Zweck ein gigantisches Finanzprogramm aufgelegt. Die Dimensionen sind immens: Der Normalhaushalt der Bundesrepublik Deutschland für das Jahr 2020 betrug 362 Milliarden Euro. Dazu kamen inzwischen aufgrund der Coronakrise Bereitstellungen in einer Höhe, die mittlerweile die Billionengrenze überschritten hat.

Die Armut wird zunehmen

Was das für die Finanzsituation bedeutet, kann man ermessen, wenn man sich vor Augen führt, dass die Gesamtverschuldung der Bundesrepublik Deutschland bislang ca. zwei Billionen Euro betrug. Sie ist also nun innerhalb weniger Monate um mehr als die Hälfte angestiegen. Das sind Beträge, die den Staatshaushalt auf Jahrzehnte hinaus belasten werden. Gerade in der zu erwartenden ökonomischen Schwächezeit nach Corona wird eine Konsolidierung der Finanzen nicht möglich sein. Die Kürzungen, die man wird vornehmen müssen, werden für die Billionenschulden nicht mehr als einen Tropfen auf den heißen Stein bedeuten, aber ihre Folgen für das Sozialsystem werden gravierend sein.

Die unumgänglichen Einschnitte werden viele Bürger an die Armutsgrenze bringen oder direkt in die Armut stürzen. Und wenn man sich die genannten Zahlen vor Augen hält, so ist es zudem mehr als wahrscheinlich, dass Eingriffe in das Währungssystem werden erfolgen müssen – bis hin zu einer Währungsreform. Dann werden alle Bürger beträchtlich ärmer sein als vorher. Dass dies alles friedlich abgeht, wird auch der größte Optimist kaum erwarten. Und noch weitaus schlimmer ist die Situation in den armen Ländern dieser Erde.

Die Lehre aus der Coronakrise

Die Lehre aus der Coronakrise kann meines Erachtens nur lauten: Wir müssen uns der Globalität der heutigen Lebensverhältnisse bewusst werden und uns voll auf diese Situation einstellen – nicht gegen sie agieren. Die Gefahren, das hat Corona gezeigt, sind global und machen vor keiner nationalen Grenze halt. Dann müssen auch der Schutz und die Abwehrmaßnahmen global erfolgen – und nicht einfach national. Welch ein Unsinn, dass in nächster Zeit jeder einzelne Staat einen ausreichenden Vorrat an Schutzkleidung anzulegen gedenkt (abgesehen davon, dass den Proklamationen ohnehin nicht überall Taten folgen werden).

Wir benötigen ein globales Reservoir, das dann jeweils dort, wo es benötigt wird, zum Einsatz kommen kann. Die Globalität, die planetarische Dimension aller Bedrohungen wie aller Erfolge ist das Faktum, auf das wir uns einstellen müssen. Das betrifft die Gefahr wie die Überwindung von Corona, es gilt aber ebenso im Blick auf andere Zukunftsaufgaben wie die Neujustierung des weltweiten Wirtschaftssystems oder die Klimakrise. Wir Menschen bilden alle eine einzige große Schicksalsgemeinschaft auf diesem Planeten.

Man konnte das immer schon wissen, und viele Kulturen wurden sich dessen bewusst, wenn sie zum Himmel schauten. Der Himmel ist das eine Dach, das alle regionalen und nationalen Besonderheiten überwölbt und sie alle durch eine gemeinsame Sphäre zusammenschließt. Orion und Venus und die anderen Himmelserscheinungen sind überall auf der Erde zu sehen, und sie sind überall gleich. Aus kosmischer Perspektive bilden die menschlichen Gesellschaften eine Einheit. Dies sollte endlich auch auf der Erde unsere Überzeugung und Leitschnur werden.

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