Soziologin im Gespräch - „Langeweile ist nicht Nichtstun“

Langeweile ist nicht per se negativ und steht dennoch in Verbindung zu Depressionen und Aggressionen. Die Soziologin Silke Ohlmeier hat ein Buch zum Thema geschrieben. Im Interview erklärt sie unter anderem, warum Langeweile auch politisch ist.

„Viele wissen gar nicht, wie schlimm chronische Langeweile sein kann“/ dpa
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Autoreninfo

Felix Huber studiert Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin.

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Silke Ohlmeier, geboren 1986, ist Soziologin und Mitglied der International Society for Boredom Studies. Von ihr ist jüngst das Buch Langeweile ist politisch: Was ein verkanntes Gefühl über unsere Gesellschaft verrät“ im Leykam-Verlag erschienen. 

Frau Ohlmeier, warum ist Langeweile politisch?

In meinem Buch bezeichnet der Begriff „politisch“ die Tatsache, dass Langeweile immer aus der Gesellschaft als Ganzes kommt und nicht nur aus dem Einzelnen. Langeweile ist politisch, weil das Gefühl aus ungleichen Machtverhältnissen, einseitigen Weltanschauungen oder engen Normen entsteht.

Was genau ist das für ein Gefühl?

Das unangenehme Gefühl, eine befriedigende Tätigkeit ausführen zu wollen, es aber nicht zu können. Hierbei gibt es die situative Langeweile, die wir alle beispielsweise an der Supermarktkasse erleben. Diese tritt nur einen kurzen Augenblick auf und verschwindet dann wieder. Das echte Problem stellt die chronische Langeweile dar, bei der gesamte Bereiche des Lebens langfristig als unbefriedigend empfunden werden. Die existentielle Langeweile herrscht dann, wenn wir unser gesamtes Leben als langweilig erachten.

Wie ernst sollten wir Langeweile nehmen?

Viele wissen gar nicht, wie schlimm chronische Langeweile sein kann. Sie wirkt sich negativ auf das psychische und physische Wohlbefinden aus. Sie steht in Verbindung zu Depressionen, Einsamkeit und Aggressionen. Chronisch gelangweilte Personen sind anfälliger für Essstörungen, Alkohol- und Drogensüchte. Sie greifen dann beispielsweise nach der Alkoholflasche, um das unangenehme Gefühl der Langeweile loszuwerden.

Kann eine chronisch gelangweilte Person ein erfülltes Leben führen?

Was genau bedeutet Erfüllung? Kein erfülltes Leben, wenn das Lebensziel Glücksmaximierung ist – aber an diesem Ziel muss man sowieso zwangsläufig scheitern. Es ist natürlich möglich, dass man den langweiligen Job erträgt, weil einem die Sicherheit der eigenen Familie wichtiger ist. Dann priorisiert man andere Lebensziele und so kann man auch zufrieden sein. Aber chronische Langeweile macht einen auch generell sehr müde und lethargisch. In meiner Ausbildung zur Industriekauffrau konnte ich mich beispielsweise auch nach Feierabend für nichts anderes mehr aufraffen, da die Langeweile mich lähmte.
 

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Hatten sie in ihrer Ausbildung zu wenig zu tun?

Ja schon, aber es ging nicht nur um quantitative Unterforderung. Die Aufgaben waren insgesamt nicht fordernd, sehr monoton und passten nicht zu meinen Interessen. Ich hatte mir die Ausbildung anders vorgestellt. Langeweile ist immer auch eine Frage der Erwartung. Und wenn unsere Erwartung ist, so etwas wie Selbstverwirklichung oder Erfüllung in der Arbeit zu finden, dann ist die Langeweile ein Scheitern in diesem Lebensziel.

Geht es den Leuten denn heutzutage schlechter oder scheitern sie öfter?

Im Gegenteil, es geht den Leuten gesamtgesellschaftlich immer besser. Langeweile ist erst einmal ein Ausdruck von einem gewissen Wohlstand. Menschen im absoluten Überlebensmodus werden sich nicht langweilen. Wenn wir aber genug zu essen haben und ein Dach über dem Kopf, dann verschieben sich die Bedürfnisse. In der industrialisierten Welt haben wir Zeit, das Leben zu reflektieren und über die Qualität nachzudenken. Der Wohlstand ist gestiegen und die Arbeitszeiten haben sich verkürzt. Dieses Mehr an Freizeit und die Möglichkeit zur Reflexion über das eigene Leben ist der Nährboden für Langeweile. Langeweile bezieht sich auf die Qualität des Lebens, nicht auf das Überleben.

Gibt es bestimmte Gruppen, die sich häufiger langweilen?

Die Studienlage zeigt klar, dass Menschen in den unteren sozialen Klassen sich häufiger langweilen, als solche in den Oberen. Auch struktureller Rassismus kann Langeweile hervorbringen. Beispielsweise bei geflüchteten Menschen ist der Zugang zu Arbeit erschwert und der Bewegungsradius stark eingeschränkt. In so einem Kontext ist es schwer, einer für sich sinnvollen Tätigkeit nachzugehen.

Insgesamt haben Menschen mit geringen finanzielle Ressourcen und Macht größere Probleme ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten und einen schlechteren Zugang zu befriedigenden Tätigkeiten. Trotzdem kommt Langeweile in allen gesellschaftlichen Schichten vor, Geld und Status können einen nicht ultimativ davor schützen. Ich kenne einen Rechtsanwalt, der seinen Beruf am liebsten morgen an den Nagel hängen würde. Er tut es aber nicht, um den Status seiner Familie zu halten, auch wenn er die finanziellen Möglichkeiten hätte.

Finden Sie, dass wir ein falsches Bild von Langeweile haben?

Häufig gibt es zwei extreme Meinungen, die beide an der Sache vorbeigehen. Entweder ist Langeweile etwas unfassbar Schlimmes und nur faule Menschen erleben dieses Gefühl. Oder es wird völlig überhöht und es heißt, wir brauchen mehr Langeweile, um uns zu erholen und kreativ zu sein. In beiden Fällen wird Langeweile fälschlicherweise gleichgesetzt mit Nichtstun und je nach Haltung dazu entweder abgewertet oder eben aufgewertet. Dabei ist Langeweile eben nicht Nichtstun und auch nicht dasselbe wir mehr Zeit für sich selber zu haben, um zur Ruhe kommen, sondern höchst unangenehm. Langeweile entsteht nicht unbedingt, wenn wir nichts tun, sondern wenn wir das Falsche tun.

Aber gibt es in der heutigen Zeit überhaupt noch richtige Langeweile?

Viele Menschen sind der Meinung, dass Langeweile nicht mehr existiert. Auch wenn wir uns jederzeit ablenken können, können wir Langeweile nicht effektiv eliminieren. Langeweile ist kein Beschäftigungs-, sondern eher ein Sinn- oder Interessensproblem. Eine unerfüllte Beziehung wird nicht durch das Scrollen am Handy oder das Schauen mittelmäßiger Filme besser werden. Wir betäuben so lediglich die Symptome, auch wenn uns kurzfristige Ablenkung dabei hilft, die Langeweile zu vergessen. Am Ende des Abends wird uns in unserer Partnerschaft aber immer noch langweilig sein. Wir merken es nur weniger mit dem Handy in der Hand.

Autorin Ohlmeier / privat

Wäre in diesem Beispiel Langeweile nicht auch positiv, als Zeichen, unser Leben zu ändern?

Ich spreche hier nur ungern von negativ und positiv. Langeweile ist eine unangenehme Emotion, sie hat ihre Berechtigung und manchmal lässt sie sich nicht vermeiden. Wir können natürlich viel aus dieser Empfindung lernen. Langeweile kann mich langsam wieder an meine Interessen und Vorstellungen von einem guten Leben heranführen. Das gelangweilte Paar könnte sich zum Beispiel fragen, welche Erwartungshaltung sie oder die Gesellschaft an ein „aufregendes“ Beziehungsleben stellen und ob sie daran etwas ändern wollen oder ihre Erwartung angepasst werden muss.

Also doch eine gute Seite?

Aus der Unannehmlichkeit heraus kommen natürlich viele Menschen auch ins Machen, aber Langeweile gibt keine Richtung vor, deswegen bleibt es oft bei bloßer Betäubung. Viele Menschen fangen auch aufgrund von Schmerzen mit Sport an und Sport ist bekanntlich gut für die Gesundheit, trotzdem würden die meisten Menschen Schmerz nicht als etwas Positives beschreiben.

Langeweile hat positive Funktionen, aber ich verstehe nicht, warum sich viele Menschen, allen voran die Medien, so auf diese versteifen. In der Krise liegt natürlich immer auch eine Chance, aber deshalb ist die Krise an sich noch längst nicht gut. Meine Einschätzung bleibt, dass chronische Langeweile gefährlich ist, wir unseren Umgang mit ihr ändern müssen und strukturell benachteiligte Menschen gar nicht die Rahmenbedingungen haben, Langeweile positiv zu wenden.

Was kann im Umgang mit diesem Gefühl helfen?

Wenn wir Langeweile verspüren, dann müssen wir sie zuerst einmal zulassen und genau reflektieren, statt uns wahllos mit Ablenkung zu betäuben. Dafür ist es wichtig, sie ansprechen zu können und sie nicht zu stigmatisieren. Langeweile verschwindet dann, wenn wir sie aktiv zulassen und angehen – sofern wir privilegiert genug sind, das zu tun. Die Gleichsetzung mit Faulheit und persönlichem Versagen muss aufhören.

Fordern sie einen Langeweile-Beauftragten der Bundesregierung?

Der Ansatz ist sehr spannend. Wir müssen allen Menschen ermöglichen, ein freies und selbstbestimmtes Leben zu führen. Dazu muss die Politik ihren Teil beitragen. Daran, wie es Großbritannien mit dem Ministerium für Einsamkeit vorgemacht hat, zeigt sich ja, dass es funktionieren kann. Ein Ministerium für Langeweile wäre demnach auch wünschenswert.

Die Fragen stellte Felix Huber. 

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