Künstler im Kampf gegen Antisemitismus - Rhetorische Routine

In Sonntagsreden wird mit breiter medialer Unterstützung der Kampf gegen Antisemitismus betont. Nun haben sich mehr als 1.000 Künstler dieser Aufgabe verschrieben – und das Medienecho bleibt überschaubar. Ist die Ablehnung von Antisemitismus zur rhetorischen Routine verkommen?

Tocotronic beim Festival „Wir bleiben mehr“. Die Band gehört zu den Unterzeichnern von Artists against Antisemitism / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Julien Reitzenstein befasst sich als Historiker in Forschung und Lehre mit NS-Verbrechen und Ideologiegeschichte. Als Autor betrachtet er aktuelle politische und gesellschaftliche Entwicklungen.

So erreichen Sie Julien Reitzenstein:

Anzeige

Das Ausmaß des Antisemitismus ist ein Gradmesser für den Zustand der Demokratie. Nur in wenigen gesellschaftlichen Bereichen besteht ein ähnlich breiter Konsens. Politiker aller Parteien sagen jeder Form von Antisemitismus den Kampf an. Auch fehlen sie nur selten bei oft symbolischen Gedenkveranstaltungen, um an die mörderischen Folgen des Antisemitismus während der Herrschaft des Nationalsozialismus zu erinnern. Diese Veranstaltungen werden stets medial begleitet. So mag der Eindruck entstehen, das Engagement für die Demokratie sei untrennbar mit dem Engagement gegen den Antisemitismus verbunden.

Vor wenigen Wochen formierte sich in Berlin die Initiative „Artists Against Antisemitism“. Mehr als 1.000 Künstler – darunter die Bands Tocotronic, Die Sterne und Fehlfarben – zeigen dort Gesicht und ihr Engagement gegen jede Form von Antisemitismus. Wenn eine so große Zahl von Künstlern sich gesellschaftlich engagiert, findet dies in aller Regel ein breites Echo in Politik und Medien. Wenn sich das Engagement gegen Diskriminierung von Minderheiten und Religionen oder Menschenfeindlichkeit und Hass wendet, ist das Echo in der Regel gewaltig. Die Anzahl der Berichte über die Initiative „Artists Against Antisemitism“ hingegen ist – vorsichtig ausgedrückt – vergleichsweise übersichtlich.

Erstaunlich und beschämend

Das ist ebenso erstaunlich wie beschämend. Warum solche Ignoranz? Sicher ist nur: Es liegt nicht daran, dass der Antisemitismus verschwunden wäre. Vielmehr wächst er ständig. Es gibt verschiedene Formen von Antisemitismus, von denen hier nur drei erwähnt seien:

Antisemitismus ist ein wesentlicher Bestandteil jener völkischen Ideologien, die nach 1933 Markenkern des Nationalsozialismus wurden. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung sind hierfür die von 1903 an verbreiteten „Protokolle der Weisen von Zion“. Zwar wurde bereits kurz nach der Veröffentlichung bekannt, dass es sich um frei erfundene Phantasien handelte. Aber mit Vernunft kam man nicht weiter. Die Vorstellung, dass eine jüdische Weltverschwörung anhand von Sitzungsprotokollen bewiesen werden könnte, verfing in rechten Kreisen. Für jene, die an die Verschwörungstheorie glaubten, ergab plötzlich alles einen Sinn. So wurde auch der verlorene Erste Weltkrieg in rechten und konservativen Kreisen nicht mit Fehlern der Verlierer erklärt, sondern allzu oft mit einer jüdischen Verschwörung, die der Truppe den Dolch in den Rücken gestoßen hätte. Es wurde ein charakteristisches Narrativ im Nationalsozialismus, eine mythische Erzählung, wonach Juden eine gefährliche, todbringende Macht seien und vernichtet werden müssten.

Ideologische Nischen

Diese Form des Antisemitismus bestand nach 1945 nur noch in ideologischen Nischen fort. Gänzlich verschwunden ist sie aber bis heute nicht. Im Gegenteil, flankiert von der Bemerkung, „das wird man doch wohl noch mal sagen dürfen“, steigt dieser Antisemismus seit einigen Jahren rapide an. Gewiss spielt das Internet bei der Selbstradikalisierung dieser Antisemiten eine Rolle. Das Attentat in Halle und die Gedankenwelt des Attentäters sind nur ein Beispiel dafür.

Aber neben diesem rechten Antisemitismus wird zu oft die Bedeutung des linken Antisemitismus übersehen. Dieser war schon in den Köpfen, bevor Begriffe wie „Israel-Kritik“ Eingang in den Duden fanden. („Nordkorea-Kritik“ oder „Venezuela-Kritik“ sucht man hingegen vergeblich – will man vielleicht nur Demokratien kritisieren, nicht aber sozialistische Menschenrechtsfeinde?) Bereits Karl Marx schrieb über den Mitgründer der späteren SPD, Ferdinand Lasalle: „Der jüdische Nigger Lassalle, […] das wüste Fressen und die geile Brunst dieses Idealisten. Es ist mir jetzt völlig klar, dass er, wie auch seine Kopfbildung und sein Haarwuchs beweist, von den Negern abstammt. […] Nun, diese Verbindung von Judentum und Germanentum mit der negerhaften Grundsubstanz müssen ein sonderbares Produkt hervorbringen.“ Soweit die „N-Wörter“ des Karl Marx, nach dem auch heute noch zahlreiche Straßen in Deutschland benannt sind – die allerdings eher selten Ziel von Straßenumbenennungsanträgen werden.

„Tupamaros West-Berlin“

Als gut 80 Jahre nach Marx‘ Tod die „Tupamaros West-Berlin“ um Dieter Kunzelmann in West-Berlin eine bewaffnete Terrororganisation aufbauen wollten, benötigten sie eine militärische Ausbildung. Diese erhielten sie bei Jassir Arafats Fatah in Jordanien. Bis zur Vertreibung der Fatah aus Jordanien im September 1970, als die dort aufgenommenen Palästinenser versuchten, ihr Gastland durch einen Staatsstreich zu übernehmen, wurden auch Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof, Horst Mahler und weitere Terroristen von den Palästinensern an der Waffe und im Umgang mit Sprengstoff ausgebildet, aber auch ideologisch infiltriert.

Sofort nach ihrer Rückkehr bereiteten die Absolventen des Terrorkurses um Kunzelmann ihren ersten Anschlag vor. Sie wollten am 9. November 1969 den Regierenden Bürgermeister von Berlin, den Vorsitzenden des Zentralrats der Juden und 250 Gäste einer Gedenkveranstaltung an die Novemberpogrome 1938 im Berliner Jüdischen Gemeindehaus töten. Nur durch ein technisches Versagen detonierte die Bombe nicht. Spätestens seit jener Zeit sind in manchen linken Milieus Judenhass und palästinenserunterstützende „Israel-Kritik“ identitätsstiftend. Um diese Form des aus Fatah-Camps importierten linken Antisemitismus zu verstehen, hilft zu wissen, woher diese Prägung Arafats und der Fatah rührten:

Schmachvolle Niederlage

Der Großmufti von Jerusalem, Amin el-Husseini, war eine der prägenden Gestalten der panarabischen Bewegung. Deren Kern war die Überzeugung, dass es nur ein arabisches Volk gibt, gekennzeichnet durch gemeinsame Kultur und Sprache. Dieses Volk sei von den Kolonialmächten verschiedener Staaten aufgeteilt. Das sei rückgängig zu machen. Nach dem Ersten Weltkrieg betraute der Völkerbund – Vorläufer der Uno – die Briten mit der Verwaltung des vormalig osmanischen Palästina. Dieses seit biblischen Zeiten von Juden besiedelte Gebiet war nach den Eroberungszügen des Islam im 7. Jahrhundert von muslimischen Arabern kolonisiert worden. Schon früh trennten die Briten den größeren Teil ihres Mandatsgebiets für ein arabisch-muslimisches Königreich Jordanien ab; ein Teil des verbleibenden Gebietes sprach die Uno dann dem zukünftigen Staat Israel zu. Von 1936 bis 1939 führte el-Husseini den „Arabischen Aufstand“ gegen die Briten an – und erlitt eine schmachvolle Niederlage.

Anschließend zog er als Hitlers Gast nach Berlin. Während seines Aufenthaltes kooperierte er eng mit dem Regime und radikalisierte – auch über den Reichsrundfunk – die Judenfeindschaft der arabischen Nationalisten. Waren die vom Koran als minderwertig definierten Juden bis dahin vor allem verachtet worden, so übernahm el-Husseini nun das NS-Narrativ von den mächtigen Juden, gegen die man sich mit aller Gewalt wehren müsse. Bei Kriegsende zog el-Husseini nach Kairo, wo er den Kontakt mit ebenfalls in den arabischen Raum geflohenen NS-Ideologen und Tätern hielt, darunter etwa Johann von Leers. Dieser nahm gemeinsam mit el-Husseini in Kairo erheblichen Einfluss auf die ideologische Entwicklung von dessen Verwandten, dem zukünftigem „Palästinenserführer“ Jassir Arafat.

Das Narrativ vom allmächtigen Juden

Dessen Übernahme des Narrativs vom allmächtigen Juden prägt im arabischen Raum seit mehr als 60 Jahren viele Menschen. Während auch Arafat die „Protokolle der Weisen von Zion“ als glaubhafte Quelle propagierte, änderte er Ende der 1960er-Jahre die Überzeugung, dass es nur ein arabisches Volk gebe. Er führte den Begriff des „Palästinensischen Volkes“ ein, der so zuvor in den öffentlichen Debatten nicht vorkam. Den Mangel an gemeinsamer Sprache und Kultur dieses Volkes ersetzte er durch eine gemeinsame Unterdrückung durch die Juden.

Das führt nun zur dritten Form von Antisemitismus zwischen rechts und links: Dem importierten Antisemitismus. Es ist kaum anzunehmen, dass Menschen beim Überqueren der deutschen Grenze Überzeugungen abwerfen, die ihnen Lehrer, Geistliche, Politiker, Medien und oft auch ihren Familien eingetrichtert haben.

Die Werte des Grundgesetzes

Es darf keine Alternative zu den Werten des Grundgesetzes geben. Es lässt weder Raum für linken, für rechten und für importierten Antisemitismus. Das Grundgesetz bildet das Rechtsempfinden und die Kultur der Mehrheit unserer Gesellschaft ab. Diese Werte aber tilgen den Antisemitismus in den Köpfen nicht durch staatliche Weisungen. Nur wenn Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, vor allem aber Multiplikatoren, sich gegen Antisemitismus positionieren, kann es zu einem nachhaltigen Umdenken führen.

Die mehr als 1.000 Künstler der Initiative „Artists against Antisemitism“ haben sich diesem Ziel verschrieben – und betonen, gegen jedwede Form von Antisemitismus laut werden zu wollen. Es wäre also Aufgabe von Politik und Medien, deren Engagement zu diskutieren, zu unterstützen oder vielleicht auch zu kritisieren – und es in jedem Falle sichtbar zu machen. Denn nur so kann ein demokratischer Diskurs über Antisemitismus und seine Gefahren entstehen. Schweigen ist keine Alternative. Es führte zum Gegenteil des stets aufs Neue von Politik und Medien beschworenen Kampfes gegen Antisemitismus. Dieses Schweigen schadet der Demokratie. Denn das Ausmaß des Antisemitismus ist ein Gradmesser für den Zustand der Demokratie.

Anzeige