Philosophin über Judith Butler - "Geschlechtsidentität ist eine philosophisch leere Idee"

Sind die Gender Studies erledigt? Die britische Philosophin Kathleen Stock über die Irrtümer Judith Butlers, die Grenzen des Geschlechts und die Einschränkungen akademischer Freiheit durch Politik und Lobbyismus.

„Wir können nicht über ‚Gender‘ reden und von Judith Butler schweigen“ / dpa
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Autoreninfo

Vojin Saša Vukadinović (geboren 1979) ist ein in der Schweiz und Deutschland tätiger Historiker und Geschlechterforscher.

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Frau Professor Stock, wie viele Geschlechter gibt es eigentlich in Großbritannien?
Diese Frage ist heute gar nicht einfach zu beantworten. Was ich aber sagen kann: Vor anderthalb Jahren hat die britische Regierung eine öffentliche Beratung angekündigt, um den sogenannten Gender Recognition Act zu reformieren. Mit ihm werden die Kriterien bestimmt, nach denen jemand seine Geschlechtsidentität verändern kann.

Das ist vermutlich – wie in allen anderen Ländern auch – ein bürokratischer Vorgang.
Ja. Man braucht ein spezielles Dokument, das Gender Recognition Certificate. Man muss laut der bestehenden Regelung zwei Jahre in der bevorzugten Geschlechtsidentität leben und Schreiben von zwei Medizinern beziehungsweise Psychologen vorlegen, die bestätigen, dass man an Geschlechtsdysphorie leidet – dass also die biologischen Geschlechtsmerkmale und die geschlechtliche Selbstwahrnehmung sich unterscheiden. 

Was soll jetzt an diesem mehrstufigen Verfahren geändert werden?
Große LGBT-Organisationen gehen davon aus, dass man seine Geschlechtsidentität frei ausdrücken und selbst bestimmen solle. Darum sei die Vorgabe, dass man für zwei Jahre ein bestimmtes Leben führen, sich auf bestimmte Weise anziehen solle und dann auch noch ein Arzt dies beglaubigen müsse, illiberal, ja übergriffig und erniedrigend. Auf diese Weise werde ein Problem medikalisiert, das gar nicht medizinisch sei. Gleichzeitig arbeiten diese LGBT-Organisationen darauf hin, dass es künftig keine Situation mehr geben kann, in der eingeschlechtliche Räume bereitgestellt werden. Oder Ressourcen, die auf Grundlage von Geschlecht verteilt würden. Das Certificate und auch das Gleichheitsgesetz sollen so geändert werden, dass Räume, die bisher nur Frauen offenstanden, nun auch Menschen aufnehmen, die dem anderen Geschlecht angehören – weil sie jetzt auch „Frauen“ sind.

Fand dieses Anliegen Unterstützung?
Akademiker schwiegen oder waren begeistert, besonders in den Gender Studies. Dort wurde dieses Anliegen geradezu als ethisches Gebot dargestellt, das im Interesse unterdrückter Menschen liege. Ich hingegen erkenne erhebliche Auswirkungen auf Frauen. Darum bezog ich öffentlich Stellung.

Welche Probleme sehen Sie?
In den meisten Gesellschaften gibt es die Norm, sich in gewisse Räumlichkeiten zu begeben, wenn man männlich ist, und in andere, wenn man weiblich ist: in Umkleiden, Schlafsäle und andere Orte, an denen es sexuelle Interaktion geben könnte. Nun wird uns plötzlich gesagt, dass dies für Transfrauen „exkludierend“ sei. So sprechen jetzt große Institutionen im Vereinigten Königreich, keine randständigen Gruppen. Deswegen solle Transfrauen auch Zugang zu diesen Bereichen gewährt werden.

Transfrauen sind Menschen, die mit männlichen Geschlechtsmerkmalen zur Welt kamen, sich aber als Frau begreifen.
Künftig kann jeder „trans“ sein. Jeder kann behaupten, das richtige „innere Gefühl“ zu haben, das für den Zutritt in diese bisher geschützten Orte qualifiziert. Ganz offensichtlich schafft man so ein Einfalls­tor für bösartig Gesinnte. Die alte Vorstellung einer Transsexuellen – die sich chirurgisch die Genitalien angleichen lässt, Hormone nimmt, ihr Erscheinungsbild ändert und große Anstrengungen auf sich nimmt, ihr neues Leben zu leben – ist passé. Viele neue Transfrauen sagen einfach: „Ich bin eine Frau, weil ich mich wie eine Frau fühle.“ Aufgrund der relativ hohen Gewal­trate von Männern gegenüber Frauen in den meisten Ländern wird das zum Problem. 

Hätte eine solche Wahlfreiheit des Geschlechts weitere Konsequenzen?
Die Rede von „Geschlechtsidentität“ verwirrt Kinder hochgradig. In Großbritannien beobachten wir einen enormen Anstieg an Kindern und Jugendlichen, die als „trans“ gelten – meist Mädchen, von denen viele Pubertätsblocker verschrieben bekommen. Niemand kennt die Langzeitauswirkungen dieser Medikamente: Sterilität, Nierenfunktion und Knochendichte könnten beeinflusst werden. Manche dieser Kinder sind 13 oder 14 Jahre alt. In den USA ist es noch schlimmer, weil die Sache vollständig dereguliert ist. Meiner Meinung nach passiert das, weil eine fürchterliche philosophische Idee durch politischen Lobbyismus – zumeist von Männern vorangetrieben – kulturelle Griffigkeit entwickelt hat. Je weiter sich Transfrauen von Operationen und körperlichen Modifikationen entfernen, desto mehr bewegen sich Frauen und Mädchen auf diese zu. Sie sind es, die mit permanenten körperlichen Veränderungen leben müssen. Geschlechtsidentität ist eine schreckliche, philosophisch leere Idee. 

Kathleen Stock

Wir können nicht über „Gender“ reden und von Judith Butler schweigen und von der Theorie, das biologische Geschlecht sei genauso konstruiert wie „Geschlechts­identität“. Der Untertitel ihres Buches „Das Unbehagen der Geschlechter“ erklärt unverblümt, dass es um den Umsturz des Feminismus aus dessen Innerem geht. Schon auf den ersten Seiten gibt es diese Attacke auf den Feminismus und das Konzept „Frau“. Es frappiert mich, dass Butlers Sprache heute überall verwendet wird, der Begriff „exkludierend“ vor allem, aber auch die fixe Idee, alles sei „normativ“, weswegen man beständig Werturteile fälle. Es ist fürchterlich. Für mich repräsentiert „Das Unbehagen der Geschlechter“ von 1990 Butlers Prioritätensetzung. Sie bezeichnet sich als Feministin, obwohl sie dessen Grundlage zerstörte. Sie interessiert sich für „Heteronormativität“, anstatt den Feminismus zu verteidigen.

Butler arbeitet bezeichnenderweise in der Literaturwissenschaft. Wie finden Sie ihr Vorgehen?
Nicht besonders philosophisch. Sie brennt ein angeberisches, smartes, oberflächliches Feuerwerk ab, das nichts bedeutet – oder offensichtlich falsch ist. Butler glaubt, alles sei Schauplatz der „Macht“, alles sei „normativ“, und Dinge würden durch Beschreibung zum Leben erweckt: Als ob man Harry Potter wäre. Für manche Leute ist das sehr attraktiv. Und politisch effektiv, weshalb sie wahrscheinlich so erfolgreich ist. Akademiker haben die LGBT-Aktivisten mit diesem butlerschen Plunder ausgestattet. 

Welche Kritik müssen Sie sich aus akademischen Kreisen anhören, wenn Sie Butler kritisieren?
Man lässt sich gar nicht auf meine Argumente ein, sondern sagt einfach, dass ich eine „weiße Frau“ sei, die eine „neoliberale“, „kolonialistische“ Struktur durchsetzen wolle. Das ist einfach eine hochtrabende Form des Lästerns. Man will gemein sein. Mein Interesse liegt darin, Ideen zu durchdenken, zu sagen, was an diesen falsch ist, und bessere Ideen zu finden.

Was wären denn Ihrer Ansicht nach bessere Ideen?
An der Vorstellung, dass es zwei Geschlechter gibt, ist nichts verkehrt. In jeder Kultur gibt es Normen, die mit dem Männlich- und dem Weiblichsein in Verbindung gebracht werden. Das kann ziemlich restriktiv und repressiv sein. Vieles am sogenannten Feminismus der Zweiten Welle von den siebziger Jahren an war nicht verkehrt. Einige Protagonistinnen bestanden aber darauf, dass alle Unterschiede der Geschlechter in der Sozialisation gründeten und niemals in Biologie und im Gehirn. Es gibt seriöse Neurowissenschaftler, die von männlichen und weiblichen Unterschieden in Gehirnen ausgehen. Ich weiß nicht, ob sie recht haben. Es ist aber ein Befund, dessen Wissenschaftlichkeit nicht einfach von Feministinnen bestritten werden darf. Die Idee, dass alles Sozialisation sei, ebnete der Vorstellung totaler Freiheit den Weg. Daraus wiederum entstand die Idee, Geschlechtsidentität sei von materiellen Fakten abgekoppelt.

Sie haben sich mit mehreren Kolleginnen zusammengeschlossen, allesamt ebenfalls Philosophinnen, und den genderkritischen Feminismus ins Leben gerufen. Wie kam es dazu?
Als ich zu schreiben anfing, erfuhr ich viel Kritik aus der Öffentlichkeit, von Akademikern und Studierenden. Ich fühlte mich recht allein, bekam aber allmählich die notwendigen Kontakte, mit Jane Clare Jones etwa und Rebecca Reilly-Cooper. Nach und nach fand sich dieses Cluster an Philosophinnen zusammen. Wir hatten genug von den muffigen Behauptungen, die uns auf Twitter oder gar von anderen Akademikerinnen zugeworfen worden waren: „Sie sind doch eine Rassistin“, „Geschlecht ist ein Spektrum“, „Transfrauen sind Frauen“. Solche Zeilen kommen wieder und wieder. Leute halten sie hoch, als ob es die genialsten Einsichten aller Zeiten wären. Also haben wir ein Statement mit Antworten auf die schlimmsten dieser argumentativen Verrenkungen verfasst. Ich schreibe gerade ein Buch, Holly Lawford-Smith auch, und im vergangenen Jahr sind genderkritische Artikel in konventionellen akademischen Journalen erschienen, interessanterweise alle von Männern verfasst. Sie kamen durch diese Begutachtungswand, die ein Teil des Problems ist. Genderkritische Texte werden feministischen Philosophinnen geschickt und kommen mit Kommentaren zurück wie „Das ist so verletzend!“, „Sie haben offensichtlich dies und das nicht gelesen!“ – schäbige Gutachten. Dafür sind jetzt Verlage interessiert. Sie sehen, dass das ein heißes Thema ist, und dass es dumm wäre, dem nicht nachzugehen. Zumal es ein öffentliches Interesse gibt.

Der Konflikt ist in Großbritannien offensichtlicher als in Deutschland. In Frankreich wiederum scheint das Problem weniger dramatisch, was mit den französischen Theorietraditionen zu tun haben könnte. 
Die hatten Foucault!

Stimmt, der hat aber vor allem die US-amerikanische und die deutsche Akademie geprägt. Was ebenfalls eine Konjunktur der Misogynie zufolge hatte.
Ich nehme an, das Problem liegt auch darin, dass Menschen denken, Frauen hätten, wenn sie alt sind, nichts mehr zu sagen. Wer hört schon auf alte Damen? Es ist verblüffend, wie die Klischees des Sexismus durch das Personal der Gender Studies recycelt werden, um sie gegen meine Generation und Ältere zu wenden: „Ach, die sind doch von vorgestern“, „die sind so alt“, „die sind ohnehin nicht besonders attraktiv“. 

Alles, was Sie sagen, wird die Gender Studies als Disziplin enorm herausfordern. Haben Sie eine Prognose für deren Zukunft?
Von außen betrachtet sieht es für mich aus, als ob die Gender Studies erledigt sind. Ich sehe nicht, wie sie noch einen geistigen Raum eröffnen könnten, um über all dies rational, intellektuell und frei zu diskutieren. Die Gender Studies haben ihre Position zu eng an diese moralische Effekthascherei gebunden, an dieses emotionale „Jeder, der anderer Meinung ist, ist intolerant“! Wenn diese Generation in Pension geht und eine neue antritt, wird sie sich umschauen und sehen, was passiert. Insbesondere Lesben werden das tun. Ich hoffe, dass es eine neue Welle an radikalem Feminismus oder eine Variation geben wird. Frauen muss es wieder gestattet sein, Interessen zu haben, über diese zu sprechen und sie zu verteidigen, ohne andauernd achtgeben zu müssen, was sie sagen. Die Gender Studies haben sich für einen anderen Weg entschieden. Sie wollen offenbar, dass Frauen ihre eigenen Interessen negieren, um nach „verwundbaren Menschen“ Ausschau zu halten.

Welche Rolle spielt der Staat? Im Gegensatz zum Feminismus der siebziger Jahre sind die Gender Studies wie auch viele Organisationen institutionell und finanziell mit dem Staat verbunden.
Stimmt. Stonewall etwa, die wichtigste Vertretung von Schwulen, Lesben, Bisexuellen und Transpersonen in Großbritannien, vertritt dieses „Diversity“-Schema: Man zahlt ihnen Geld, kommt ihren Konditionen nach und bekommt dafür die Erlaubnis, „Stonewall“ im eigenen Branding zu verwenden. Das ist cool, weil alle denken, Stonewall sei die Schwulenrechtsorganisation schlechthin. Zahllose Institutionen in diesem Land sind von Stonewall abgesegnete „Diversity Champions“: das Justiz- und das Bildungsministerium, mehrere Polizeiabschnitte, die Strafverfolgungsbehörde, die Bank von England. Stonewall sagt ihnen, dass das Hinterfragen von Geschlechtsidentität „transphob“ sei, dass man Regeln zur Ächtung von „Transphobie“ haben müsse, die sie nun alle eingearbeitet haben. Fast alle Universitäten sind „Diversity Champions“ – auch diese. Wir haben hier in Sussex eine Regelung, der zufolge Transpersonen positiv im Curriculum repräsentiert werden müssen. Universitäten sollten aber die akademische Freiheit beschützen und dafür sorgen, dass auch kontroverse und unbeliebte Meinungen gehört werden.

Wie sieht es außerhalb der Universitäten aus? Gibt es dort auch Auswirkungen der von Ihnen gerade beschriebenen Prioritätensetzung?
Das Gefängnissystem wird gerade herausgefordert, weil nichtoperierte Männer in Haftanstalten für Frauen gebracht worden sind, manchmal sogar ohne Gender Recognition Certificate: Diese Männer haben einfach behauptet, eine Frau zu sein, und kamen dann ins Frauengefängnis. So etwa der bereits verurteilte Vergewaltiger und Pädophile Karen White, der dann prompt weibliche Inhaftierte sexuell überfiel. Vor Gericht hieß es, „ihr Penis“ hätte während des Übergriffs aus der Hose gehangen – ein weiblicher Penis also. Bildung, Gesetzgebung und Justiz sollten wieder autonom werden und sich aus dem Klammergriff der Lobbyisten befreien.

Worin sehen Sie vor diesem Hintergrund die Aufgabe von Akademikerinnen und Akademikern, die Widerspruch anmelden?
Sie müssen beginnen zu reden, viel mehr als bislang. Ich denke, dass sie das zu ihrer Kompetenz machen müssen, anstatt es dem Personal der Gender Studies oder manchen „feministischen Philosophinnen“ zu überlassen. Man kann einfach nicht davon ausgehen, dass immer alle Meinungen repräsentiert werden müssen. Wenn ich zum Beispiel eine Konferenz zu einem dieser Themen organisieren wollte, sähe ich mich dem prüfenden Blick der Universität ausgesetzt. Die würde wissen wollen, ob die Zusammenkunft „ausgewogen“ ist. Das bedeutet, es müssten Trans-Individuen auf dem Panel sitzen und Personen mit anderer Meinung als ich. Dann gäbe es die Sorge um eine adäquate Sprache. Diese Erwartungen würden es schwierig machen, und es gäbe Proteste. Wenn aber Akademikerinnen der Gender Studies eine Tagung veranstalten wollen zum Absenken des Mindestalters der Gender Recognition oder über vereinfachten Medikamentenzugang für Kinder, können sie das. Sie können einladen, wen sie wollen. Es müsste nicht „ausgewogen“ sein, und es gäbe Uni-Gelder dafür. Akademikerinnen müssen anfangen, zu kämpfen und sich zusammenzuschließen, um gehört zu werden. Wenn sie nicht direkt eingreifen können, müssen sie wenigstens mein Recht stärken, sagen zu können, was ich denke. Das ist das Mindeste, was sie tun können.
 

Dieser Text ist in der März-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

 

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