Über das Verschwinden der ästhetischen und sozialen Schamgrenzen - Ist Schönheit gerecht?

Wir sind nicht alle im gleichen Maße gutaussehend, hochbegabt und musikalisch. Es gibt jedoch immer Claqueure, die das ästhetische Mittelmaß wortreich in den Himmel der Kultur loben. Im Namen der Toleranz wird eine weichgespülte Uniformität des Geschmacksurteils verlangt.

Schön ist anders: Designer Kilian Kerner (M.) mit Models auf der Berlin Fashion Week 2024 / dpa
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Autoreninfo

Dr. phil. Dominik Pietzcker studierte Philosophie, Geschichte und Germanistik. Von 1996 bis 2011 in leitender Funktion in der Kommunikationsbranche tätig, u.a. für die Europäische Kommission, Bundesministerien und das Bundespräsidialamt. Seit 2012 Professur für Kommunikation an der Macromedia University of Applied Sciences, Hamburg. Seit 2015 Lehraufträge an chinesischen Universitäten.

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„Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen“, heißt es in Rilkes „Duineser Elegien“. Kein Problem für uns Heutige, die wir uns längst angewöhnt haben, auch den bizarrsten Selbstentblößungen des menschlichen Körpers und Geistes einen geheimen ästhetischen Reiz abzugewinnen. Alles und alle sind irgendwie schön! Während Mode, Portraitkunst und Kosmetikindustrie über Jahrhunderte damit beschäftigt waren, menschliche Makel geschickt zu verbergen, ist die Gegenwart zu der überraschenden Erkenntnis gelangt, dass das Hässliche aufgehört hat zu existieren. 

Ob Plattfüße, behaarte Tellerwaden oder missglückte Tätowierungen: Auch du bist schön! Niemand soll sich, weil unvollkommen, zurückgesetzt oder gar minderwertig fühlen müssen. Ist das nicht auch ein Gebot der gegenseitigen Achtsamkeit, dieser brühwarm aufgetischten und zu nichts verpflichtenden Sozialtugend unserer Zeit? Mehr Komplimente, bitte, für uns alle! Ob Freak oder Supermodel, das Verschwinden verbindlicher ästhetischer Maßstäbe kann auch etwas Befreiendes haben, wie gerade bei der Berliner Fashion Week zu besichtigen war.

Es lebe die Body Positivity!

Zugegeben, das rigorose Schönheitsdiktat der Modebranche führt noch immer zu heilloser Verwirrung. Vor allem deswegen, weil ein kommerziell motiviertes artifizielles Idealbild – aufwändig in Szene gesetzt und millionenfach medial gespiegelt – als individuell erreichbar dargestellt wird. Vergebliches Unterfangen, welches erst gar nicht versucht werden sollte! Es ist in etwa so, als ob wir die Herrscherporträts der Renaissance mit den Gesichtszügen heutiger Entscheidungsträger vergleichen wollten. Oder einen antiken Athletenkörper mit unserer eigenen Wohlstandsphysiognomie. Kein Grund, jetzt Minderwertigkeitskomplexe zu entwickeln oder in Kulturpessimismus zu verfallen! 

Dennoch, das Füllhorn menschlicher Talente und Attraktivität ist höchst ungerecht verteilt. Wir sind eben nicht alle im gleichen Maße gutaussehend, hochbegabt und musikalisch. So wenig es ein Vergnügen ist, einem dilettierenden Violinisten zu lauschen, so gering ist die ästhetische Befriedigung an der ostentativen Zurschaustellung menschlicher Körpermassen, die sich ungebeten ins Bild drängen. Die Frage „Gefalle ich dir?“ ist keine private oder persönliche mehr, sondern wird öffentlich im Talkshowformat kuratiert.

Ignoranz und Maulheldentum

Das Plumpe erscheint als anmutig, das Grobschlächtige als raffiniert und das Ordinäre als richtungsweisend. Wir alle sind schön, gut und wahrhaftig – oder könnten es zumindest sein. Der Exhibitionismus der Talentlosigkeit stößt nicht etwa auf Spott und Ironie, sondern auf wortreiche mediale Liebeserklärungen. Auf diese Weise gewöhnt sich eine Gesellschaft die Fähigkeit ab, ein differenziertes ästhetisches Urteilsvermögen auszubilden und das Wünschenswerte vom Wirklichen zu unterscheiden. 

 

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Psychologen nennen diese Unfähigkeit, Wunsch und Wahrheit auseinanderzuhalten, infantil. Das hat auf Dauer Konsequenzen für die Diskursqualität und die Höhe der Zivilisationsstufe, auf der wir uns alle befinden. Zumal in einer Gegenwart, die noch etliche Zumutungen und Bewährungsproben bereithält. Denn alles, was nicht gar so schön ist, etwa Krieg, Umweltzerstörung oder Unterdrückung, wird mit behaupteten Zeitenwenden, forcierten Nachhaltigkeitsdebatten und werteorientierter Politik nur sehr eingeschränkt bekämpft. Intellektuelle Unlust, ästhetische Ignoranz und politisches Maulheldentum wachsen eben auf ein und demselben Stamm.

Noch Kritik oder schon Diskriminierung?

Die verbreitete Haltung, Ansprüche zu adressieren, ohne diese selbst zu erfüllen, ist mittlerweile ein in allen Schichten zu beobachtendes Sozialsyndrom. Man kann nicht kochen, aber das zubereitete Essen ist exzellent. Man kann nicht schreiben, aber der Roman ist phantastisch. Man hat keinerlei Stilgefühl, ist aber dafür ein anerkannter Lebenskünstler. Es gibt immer genug Claqueure, Feuilletonisten und Follower (sofern es hier einen Unterschied gibt), die das ästhetische Mittelmaß wortreich in den Himmel der abendländischen Kultur loben. Vielleicht aus Berechnung, vielleicht, weil sie es selbst nicht besser wissen, welche Rolle spielt das schon. Der inflationäre Gebrauch emphatischer Floskeln wie „traumhaft“, „zum Niederknien“ oder „ich liebe es“ ist eben nicht Ausdruck enthusiastischer Kennerschaft, sondern im Gegenteil, von Nivellierung der Kritikfähigkeit.

Ist es bereits diskriminierend, das künstlerisch Mittelmäßige, politisch Fragwürdige und zwischenmenschlich Indiskutable als das zu benennen, was sie sind: Tiefpunkte hypertropher Zivilisationspraktiken? Aber Vorsicht: Subjektive Präferenzen können auch Beleg gefährlicher Vorlieben und Vorurteile sein. Irgendjemand fühlt sich immer beleidigt. Denn kritisch zu unterscheiden bedeutet ja, alternative Haltungen und Handlungsweisen bewusst ausschließen. Wir können gar nicht anders, als permanent das Potenzielle zu zerstören. Jede Straße, die wir nehmen, ist eine Abzweigung, die wir nicht genommen haben. 

Hart formuliert: In unserem Schönheitsempfinden sind wir alle ästhetische Rassisten. Bitte jetzt nicht falsch verstehen. Toleranz ist ein hohes Gut. Niemand hat das Recht, den Lebenswandel, die individuellen Präferenzen und mannigfachen Ausdrucksformen eines anderen zu verurteilen oder einzuschränken. Allerdings gibt es auch keine Pflicht, sie zu bewundern, zu unterstützen oder ihnen öffentlich zu applaudieren. Dies zu verlangen, erscheint widersinnig, ja geradezu aberwitzig. In der Konsensfabrik der heutigen Gesellschaft ist aber genau dies die vorherrschende Erwartungshaltung. Im Namen der Toleranz und des Respekts wird eine weichgespülte Uniformität des ästhetischen Geschmacksurteils verlangt, die jeglicher Realität Hohn spricht. Immanuel Kant würde sich in seinem Kaliningrader Grab umdrehen.

„Wir kennen und besitzen sie nicht“, schreibt Ivo Andric über die Schönheit, „aber wir leben für sie und sterben mit ihr.“ Ja, das Schöne ist überhaupt nicht lieblich und gefällig, nicht gendergerecht und politisch korrekt, es ist erhaben, außerordentlich und grenzt dabei ans Fürchterliche. Mit Rilke: „Wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht uns zu zerstören.“ Darüber würde es sich wirklich lohnen, eine Debatte zu führen.
 

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