Islam und Fundamentalismus - Ein Plädoyer gegen das Alles-oder-Nichts-Denken

Kann sich der Islam vom Fundamentalismus befreien? Das fragt Sozialwissenschaftler Ruud Koopmans in seinem neuen Buch „Das verfallene Haus des Islam“. Dass ein Verteufeln der Religion genauso wenig nützt wie sie schönzureden, erläutert er in einem exklusiven Buchauszug für „Cicero“.

Süleymaniye Moschee in Istanbul: Der Islam, der in jeder Hinsicht unbeschmutzt, friedlich, demokratisch, tolerant und frauenfreundlich ist, ist ein schöner Traum / dpa
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Autoreninfo

Ruud Koopmans ist Direktor der Abteilung „Migration, Integration, Transnationalisierung“ am Wissenschaftszentrum Berlin sowie Professor für Soziologie und Migrationsforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin und nimmt daneben wichtige beratende Funktionen wahr, etwa als Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. / Bild: David Ausserhofer

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Die Suche nach einem Ausweg aus der Krise der islamischen Welt wird durch die Polarisierung der Islamdebatte erschwert. Hier dominieren zwei extreme Positionen, nach denen Unterdrückung, Intoleranz und Gewalt entweder alles oder gar nichts mit dem Islam zu tun haben. Für diejenigen, die glauben, dass der Islam als solcher für die Krise der islamischen Welt verantwortlich ist und dass er nicht reformiert werden kann, gibt es keine andere Lösung, als die Gefahr einzudämmen: Sie plädieren für die Schließung der Grenzen für Muslime sowie strenge Sicherheitsmaßnahmen, die die Bürgerrechte der Muslime einschränken, und wollen im Übrigen der islamischen Welt ihre blutigen Konflikte überlassen.

Eine nachhaltige Lösung bieten solche Maßnahmen natürlich nicht. Der Kampf gegen den Fundamentalismus kann nicht gewonnen werden, wenn wir unsere Identität als offene Gesellschaften durch Maßnahmen aufgeben, die im Widerspruch zu den Freiheiten stehen, die wir nun gerade verteidigen wollen. Darüber hinaus spielt eine solche Politik den fundamentalistischen Argumenten in die Hände. Die Fundamentalisten behaupten, dass es einen unüberbrückbaren Widerspruch zwischen dem Islam und der westlichen Kultur gibt und dass der Westen und andere böse Kräfte darauf aus sind, den Islam zu zerstören. Maßnahmen gegen den Fundamentalismus, die die Muslime und den Islam als Ganzes betreffen, machen dieses Weltbild nur noch glaubwürdiger.

Auch Islamkritiker werden zu Fanaktikern

Kritiker, die den Islam für nicht reformierbar halten, haben mehr mit den Fundamentalisten gemeinsam, als ihnen wahrscheinlich bewusst ist. Beide Seiten gehen nicht nur von einem unüberwindbaren Gegensatz zwischen dem Islam und dem Westen aus, sondern glauben auch, dass Muslime keine andere Wahl haben, als den Koran wörtlich zu nehmen und die Handlungen und Aussagen des Propheten Mohammed, die in den Hadithen überliefert sind, eins zu eins in der Gegenwart umzusetzen.

Radikale Islamkritiker sind daher ebenso fanatische Koranexegeten geworden wie die Fundamentalisten. Thilo Sarrazin erklärt zum Beispiel in seinem 2018 erschienenen Buch Feindliche Übernahme stolz, dass er den Koran und viele Hadithe von vorne bis hinten gelesen habe. Er bringt eine endlose Reihe von Zitaten aus den islamischen heiligen Schriften, die beweisen sollen, dass der wahre Islam undemokratisch und frauenfeindlich ist und auf die gewaltsame Unterwerfung der Ungläubigen zielt.

Amateurhafte theologische Analysen

Rechtspopulisten wie der Niederländer Geert Wilders und seine Partij voor de Vrijheid (Partei für die Freiheit) beschäftigen sich ebenfalls regelmäßig mit dem Koran und kommen in ihren amateurhaften theologischen Analysen zu ähnlichen Schlussfolgerungen wie Sarrazin: Der Islam der Fundamentalisten sei der einzig wahre Islam. Der islamische Fundamentalismus kann sich keine besseren Feinde wünschen. Die umgekehrte Behauptung, dass Fundamentalismus, Unterdrückung und Gewalt „nichts mit dem Islam zu tun haben“, ist jedoch ebenso kontraproduktiv, weil sie einer kritischen Auseinandersetzung mit den religiösen Wurzeln der Krise im Wege steht.

Ruud Koopmans / © David Ausserhofer

Dieses Denken ist weit verbreitet, nicht nur unter den Sprechern muslimischer Organisationen, sondern auch in Kreisen von Meinungsmachern und politischen Entscheidungsträgern. Aussagen amerikanischer Präsidenten auf beiden Seiten des politischen Spektrums können dies veranschaulichen. Wenige Tage nach den Anschlägen vom 11. September 2001 erklärte der republikanische Präsident George W. Bush: „Das Gesicht des Terrors ist nicht der wahre islamische Glaube […,] Islam ist Frieden“. Anderthalb Jahrzehnte später twitterte sein demokratischer Nachfolger Barack Obama: „IS spricht für keine Religion […,] keine Religion lehrt ihre Anhänger, unschuldige Menschen zu töten.“

Intolerante und gewalttätige Koranpassagen

Seine damalige Außenministerin Hillary Clinton meinte: „Muslime sind friedliche und tolerante Menschen, die gar nichts mit dem Terrorismus zu tun haben.“ Die Behauptung, der Islam sei Frieden, ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass in wenigen islamischen Ländern Frieden herrscht und dass Fundamentalisten, die sich ausdrücklich auf intolerante und gewalttätige Passagen aus dem Koran und den Hadithen berufen, für die tödlichste Welle des Terrorismus verantwortlich sind, die die Welt je gesehen hat.

Das häufig erwähnte Koranzitat, dass es „keinen Zwang in Glaubenssachen geben wird“, steht im krassen Widerspruch zu der Tatsache, dass es in fast allen islamischen Ländern religiösen Zwang gibt und dass Menschen auf der ganzen Welt bedroht und getötet werden, weil sie dem Islam den Rücken gekehrt oder eine kritische Meinung über ihn geäußert haben. Die Behauptung, dass der Islam frauenfreundlich sei, steht im diametralen Gegensatz zu der Tatsache, dass in einer großen Mehrheit der islamischen Länder von der Scharia abgeleitete Gesetze gelten, die Frauen zu Bürgern zweiter Klasse degradieren.

Die Realität des Islams

Nach allen internationalen Statistiken über die Rechte der Frau gibt es keinen Teil der Welt, in dem die Situation der Frauen so schlecht ist wie in der islamischen Welt. Wenn Unterdrückung, Intoleranz und Gewalt nichts mit dem Islam zu tun haben, warum sind sie dann in der islamischen Welt so weit verbreitet? Der Islam, der in jeder Hinsicht unbeschmutzt, friedlich, demokratisch, tolerant und frauenfreundlich ist, ist ein schöner Traum, hat aber wenig mit der Realität des Islam im Hier und Jetzt zu tun.

Jeder, der glaubt, dass der real existierende nichts mit dem wahren Islam zu tun hat, wird die Frage beantworten müssen, warum dann so viele Muslime ihren Glauben missverstanden haben und warum der Islam offenbar so viel Raum für intolerante, repressive und gewalttätige Interpretationen lässt.

Dieser Text ist ein Auszug aus dem neuerschienenen Buch Das verfallene Haus des Islam von Ruud Koopmans. C.H. Beck, 2020, 22,00 Euro. Hier können Sie das Buch bestellen

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