Umgang mit Impfgegnern - Das Ende der offenen Gesellschaft

Die Politik reagiere nicht politisch auf Impfgegner, sie reagiere pädagogisch, schreibt Alexander Grau. Dabei ist der Widerstand gegen das Impfen in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Aber zählen Gehorsam und Solidarität heute mehr als körperliche Selbstbestimmung?

Verständlich, aber zwiespältig: die Forderung nach einer allgemeinen Impfpflicht / dpa
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Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Corona macht deutlich: Unsere Gesellschaft ist gespalten wie niemals zuvor. Wirklich neu ist diese Erkenntnis nicht. Doch ältere Reizthemen wie Migration und Klimabewegung waren leichter geeignet, einen Teil der Gesellschaft diskursiv auszugliedern. Wer gegen Masseneinwanderung demonstrierte oder die klimapolitische Debatte der letzten Jahre als überzogen empfand, konnte noch relativ problemlos marginalisiert werden. Die Schweigespirale funktionierte perfekt. Viele schimpften hinter vorgehaltener Hand. Doch der Druck der öffentlichen Meinung arbeitete zuverlässig. Allenfalls Radikalinskis bekannten sich öffentlich zur Opposition – und trugen damit endgültig zur Stigmatisierung anderer Meinungen bei.

Doch Corona hat den Widerstandsgeist, auch den Trotz, endgültig in die Mitte der bürgerlichen Gesellschaft getragen. Wahrscheinlich gibt es kaum jemanden in diesem Land, der nicht jemanden kennt, der sich nicht impfen lassen möchte, der den Vakzinen misstraut, dem der ganze autoritäre Gestus nicht passt oder der schon von Anfang an die Maßnahmen gegen die Pandemie aus irgendwelchen Gründen für überzogen oder gar politisch inszeniert hielt.

Die Politik reagiert pädagogisch

Auffallend ist dabei, dass Mitbürger, die noch vor zwei Jahren weder durch radikale Ansichten auffielen noch durch esoterisches Getue, nun Impfstoffe verweigern, die auf einer erprobten Technologie basieren und nach Lage der Dinge nicht problematischer sind als die Präparate, die sie und ihre Kinder über Jahrzehnte und mit Erfolg gegen Masern und Röteln, gegen Tetanus, Diphtherie, Keuchhusten und Kinderlähmung verabreicht bekommen haben. Es liegt somit die Vermutung nahe, dass hier weniger medizinische oder wissenschaftliche Gründe für diese Verweigerungshaltung eine Rolle spielen als vielmehr politische.

Die Politik jedoch reagiert nicht politisch, sie reagiert pädagogisch. Man greift – zumindest verbal – zu Rute, Rohrstock und In-die-Ecke-stellen. Deutlich fordert man nun eine allgemeine Impfpflicht – immerhin eine Zwangsmaßnahme gegen die körperliche Selbstbestimmung des Einzelnen. Ein verständliches, aber dennoch zwiespältiges Unterfangen. Bemerkenswert war daher ein Zitat aus einem Artikel in der FAZ, für den Markus Söder und Winfried Kretschmann verantwortlich zeichneten: „Eine Impfpflicht ist kein Verstoß gegen die Freiheitsrechte – vielmehr ist sie die Voraussetzung dafür, dass wir unsere Freiheit zurückgewinnen.“ Es ist das alte Lied: Wer denkt, Freiheit bestünde in der Freiheit von Zwang, irrt. Erst durch Zwang wird man richtig frei. Schdanow hätte seine wahre Freude an dieser subtilen Dialektik gehabt.

Gehässigkeit und Aggressivität

Überhaupt: Mehr noch als die Debatte über die Impfpflicht irritieren die verbalen Ausfälle gegenüber Ungeimpften und Impfverweigerern. Impfungen sind sinnvoll. Nicht für das Gemeinwohl im Übrigen, sondern für jeden persönlich. Die sehr unterschiedlichen Inzidenzen von Geimpften und Ungeimpften sprechen eine deutliche Sprache. Die Beschimpfungen und Herabsetzungen von Menschen, die – aus welchen Gründen auch immer – sich nicht impfen lassen wollen, müssen jedoch Besorgnis erregen. Hier regiert mitunter eine bodenlose Gehässigkeit und Aggressivität. Unsolidarisch, dumm, egoistisch: das sind noch die vornehmeren Vorwürfe, die Impfgegnern entgegenschallen – und das zumeist von Leuten, die bei anderen Themen keine Sekunde zögern, anderen Hassrede zu unterstellen.

Keine Frage: Die offene Gesellschaft, einst das Ideal liberaler Demokratien, erodiert. Ihr von Karl Popper formuliertes Ziel, „die kritischen Fähigkeiten des Menschen freizusetzen“, ist nicht mehr gefragt. Angesagt sind Gehorsam und Solidarität. Eine offene Gesellschaft, das war für Popper eine Gesellschaftsordnung, „in der sich Individuen persönlichen Entscheidungen gegenübersehen“. Aber auch persönliche Entscheidungen sind aus der Mode gekommen. En vogue sind Gefolgschaft und Gleichschritt.

Das Tragische daran: Die offene Gesellschaft zerbricht an ihrem Erfolg. Die Menschen sind tatsächlich kritischer geworden und bereit, persönliche Entscheidungen zu treffen und zu tragen. Und solange eine allgemeine Wohlfühlatmosphäre herrschte, war das auch wohlgelitten. Doch in der ersten ernsthaften Krise ist es vorbei mit Offenheit. Erwartet wird Geschlossenheit.

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