Identitätspolitik und Rechtssprechung - „Judensau“-Urteil: Unser ungleicher Umgang mit Minderheiten

Der Bundesgerichtshof (BGH) genießt hohes Ansehen in Deutschland – obwohl oder gerade weil er da und dort auch in Debatten, die die Gesellschaft spalten, einer Seite recht geben muss. Nun aber hat er ein Urteil gefällt, dass wegweisend sein dürfte. Vielleicht nicht in juristischer Hinsicht, sondern in der Kunst, sich zwischen alle Stühle zu setzen. Denn der Zeitgeist scheint auch vor den Toren höchster Rechtsgelehrtheit nicht haltmachen zu wollen.

Nicht die einzige „Sauerei“: Auch den Regensburger Dom ziert bis heute eine „Judensau“. Doch das Relief an der Stadtkirche in Wittenberg hat eine unvergleichliche historische Dimension / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Julien Reitzenstein befasst sich als Historiker in Forschung und Lehre mit NS-Verbrechen und Ideologiegeschichte. Als Autor betrachtet er aktuelle politische und gesellschaftliche Entwicklungen.

So erreichen Sie Julien Reitzenstein:

Anzeige

Worum geht es? Auf einer Ebene geht es um einen konkreten Fall, der entschieden wurde. Auf einer anderen um die ungleichen Reaktionen der Gesellschaft in Bezug auf Minderheiten – sie sind eine Gefahr für jene Demokratie, deren Schutz auch Auftrag des BGH ist.

Wittenberg ist ein besonderer Ort für den evangelischen Glauben. Hier soll der katholische Mönch und Theologieprofessor Martin Luther (1483-1546) am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen an das Portal der Schlosskirche geheftet haben, um zur Disputation über den von ihm kritisierten Ablasshandel der Kirche aufzufordern. Das war an sich nichts Ungewöhnliches. Niemand, auch nicht Luther selbst dürfte im Herbst 1517 geahnt haben, dass sein Anliegen eine Spaltung der Kirche zur Folge haben würde – und eine der ersten gezielten, großflächigen Zerstörungen von Kunstwerken, die nicht mehr (religions-)politisch korrekt erschienen.

Im Laufe seines Lebens hatte sich Luthers – unter christlichen Theologen jener Zeit schon lange populäre – Abneigung gegen Juden in blanken Hass verwandelt. Dieser Antijudaismus gipfelte in der 1542 veröffentlichten Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“. Darin forderte er die Zerstörung der Synagogen und die Vertreibung der Juden. Luther wurde der Resonanzraum für den – vor allem von der Kirche genährten – Judenhass seiner Zeit und die daraus resultierenden Pogrome.

Eine besondere „Judensau“

Der Islam bezieht sich in vielen Aspekten auf das Judentum; in beiden Religionen gelten Schweine als unrein. An der Stadtkirche in Wittenberg befindet sich seit etwa 1290 eine Plastik, deren Ziel zweifelsfrei war, jüdische Menschen und ihre Religion herabzuwürdigen und zu verspotten. Sie zeigt im Zentrum ein Schwein. An deren Zitzen saugen zwei als Juden erkennbare Menschen, während ein Rabbiner den Schwanz des Schweins anhebt und ihm in den Anus schaut. Aufgepeitscht von Luthers Judenhass ergänzten seine Anhänger die Plastik 1570 mit einer Schrifttafel. Diese nahm Bezug auf Luthers Schrift „Vom Schem Hamphoras“. Darin nahm Luther seinerseits auf die Wittenberger „Judensau“ Bezug und setzte in obszöner Sprache die Juden, den biblischen Judas, Exkremente, Schweine und den Teufel bildhaft gleich.

Die Wittenberger „Judensau“ ist also nicht eine beliebige der rund 50 ähnlichen Plastiken in Deutschland, sondern eine, deren Symbolkraft weit über ihre Stadtgrenzen hinauswirkt. Eine Stadt, die seit 1938 amtlich „Lutherstadt Wittenberg“ heißt – die Bezugnahme auf Luthers Judenhass war in jener Zeit recht populär.

Das könnte Sie auch interessieren:

So wundert es nicht, dass ein jüdischer Bürger diese steingewordene Hetze als Beleidigung seiner Religion und seiner selbst empfand. Daran änderte auch die künstlerisch gestaltete und als Mahnmal gedachte Distanzierung der Kirchengemeinde aus dem Jahre 1988 auf dem Boden vor der Kirche nichts. Auf der können Passanten lesen: „Gottes eigentlicher Name / der geschmähte Schem Ha Mphoras / den die Juden vor den Christen / fast unsagbar heilig hielten / starb in sechs Millionen Juden / unter einem Kreuzeszeichen.“ Ob das als Erklärung und Distanzierung verstanden wird, wird nicht nur unter Historikern bezweifelt. Daher begleitete viel Sympathie das Anliegen des jüdischen Bürgers, die Gemeinde möge die Plastik von der Fassade entfernen. Nachdem dies verweigert wurde, klagte er durch die Instanzen: Er verlangte die Entfernung der Plastik und für den Fall, dass dies aus Denkmalschutzgründen nicht möglich sein würde, auf Feststellung, dass es sich bei der Judensau um eine Beleidigung der Juden handle.

Doch der Kläger scheiterte in jeder Instanz – und nun auch vor dem BGH. So weit, so misslich für ihn, so problematisch für den heutigen Kampf gegen den dramatisch zunehmenden Antisemitismus. Die Urteilsbegründung ist ebenso bemerkenswert wie die ausbleibende Empörung der sich sonst stets mit großem Fleiß Empörenden. Doch der Reihe nach.

Kirchen-Anwältin: „Die Erinnerungskultur nicht dem Zeitgeist opfern“

Zunächst einmal versteckt sich der BGH hinter rechtlichen Formalia. Die Richter befanden, dass zur erfolgreichen Entfernung ein „gegenwärtiger Rechtsanspruch“ notwendig sei, den der Kläger allerdings nicht habe. Mit dieser für den Kläger ärgerlichen Feststellung könnte der Fall abgeschlossen sein. Doch das Gericht hat sich verleiten lassen, sich über dieses Kriterium hinaus einzulassen – und sich dabei auf das dünne Eis begeben, unter dem der Zeitgeist lauert.

Denn das Gericht billigte dem Kläger durchaus zu, dass er sich in seinem Persönlichkeitsrecht verletzt sehen könne. Doch der rechtsverletzende Zustand sei mit der genannten „Distanzierung“ beseitigt worden – weshalb keine Rechtsverletzung mehr vorliege. Anders als der Kläger meine, könne die Rechtsverletzung nicht nur durch die Entfernung der Schmähplastik erreicht werden, sondern durch deren Umwandlung in eine „Stätte der Mahnung zum Zwecke des Gedenkens und der Erinnerung an die jahrhundertelange Diskriminierung und Verfolgung von Juden bis hin zum Holocaust“. Es müsse also der Kirchengemeinde überlassen bleiben, auf welche Weise sie sich von dieser Schmähung und damit Rechtsverletzung distanzieren wolle.

Die Rechtsanwältin der Kirchengemeinde forderte, man dürfe die „die Erinnerungskultur nicht dem Zeitgeist opfern.“ Es gebe zahlreiche Beispiele für Darstellungen, die aus heutiger Sicht nicht mehr zeitgemäß seien und womöglich aus Büchern und Filmen gestrichen werden müssten. „Wie sollen Kinder in der Schule etwas über die Diskriminierung von Juden lernen, wenn es dazu nichts mehr zu sehen gibt?“ Zu Ende gedacht steht die Frage im Raume, ob die Entfernung von Hakenkreuzen im Öffentlichen Raum die historische Bildung behindert hat – oder ob die Kinder in Gaza besonders effektiv etwas über die Diskriminierung von Juden lernen, wenn die „Protokolle der Weisen von Zion“ auf dem Lehrplan stehen.

Wer heute Straßenumbenennungen oder Denkmalentfernungen fordert, begründet dies in aller Regel damit, dass die so Geehrten Werte lebten, die zu ihrer Zeit für eine Mehrheit selbstverständlich waren, aber nicht mehr dem heutigen Wertekanon der Bevölkerungsmehrheit entsprächen.

Der Skandal liegt auf einer anderen Ebene

Doch bei der Judensau liegt der Sachverhalt anders. Nicht nur, weil sich die Antisemiten des NS-Regimes oft auf Luthers Judenhass bezogen, sondern weil Aufrufe zur Zerstörung, Vertreibung und Entmenschlichung wohl nie dem Wertekanon einer Mehrheit entsprochen haben. Gleichwohl gibt es zweifelsfrei andere Wege zwischen einer Demontage der Plastik und einer auf viele Betrachter halbherzig wirkender Kontextualisierung mit einem Mahnmal im Boden nebst Erklärtafel.

Der Skandal dieses Urteils liegt auf einer anderen Ebene: Seit Jahrhunderten – vor und nach der Shoa – werden Juden herabgewürdigt und geschmäht. Allerdings bietet die Rechtsordnung Juden nicht seit Jahrhunderten die Möglichkeit, sich dagegen zu wehren – und öffentliches Interesse daran anzuführen. Allein der Antisemitismus in der DDR ist schon ein Kapitel für sich. Das BGH-Urteil bedeutet auch, dass Juden sich heute in diesen Fällen nicht wehren können – und es Nichtjuden überlassen müssen, wie sie Beleidigung und Entmenschlichung zu empfinden haben.

Aus ähnlichen Gründen wie im Judentum werden Schweine und Gleichsetzungen mit dem Teufel im Islam als beleidigend empfunden. Es ist gut und richtig, dass der Staatsschutz wegen Hassverbrechen ermittelt, wenn Schweineköpfe vor Moscheen abgelegt werden oder deren Mauern mit Schweineblut getränkt werden. Als ein Karikaturist Mohammed mit Schweineohren gezeichnet haben soll, gab es – wie auch bei ähnlichen Schmähungen – große Solidarität mit muslimischen Gemeinden. Das ist gut und einer Demokratie würdig. Man stelle sich zudem die Empörung vor, wenn eine Plastik an einer Kreuzfahrerkirche entdeckte, die seit Jahrhunderten Muslime herabwürdigt – wie groß würde die Solidarität sein?

Gleichbehandlung und Gemeinschaftlichkeit müssen der Maßstab sein 

Die Werte der Demokratie beinhalten den Gleichbehandlungsgrundsatz auch jenseits staatlichen Handelns. Sie gebieten, standhaft zu bleiben, wenn sich eine laute Minderheit von einem Straßenschild beleidigt fühlt und zu handeln, wenn es eine Mehrheit als nicht mehr zeitgemäß empfindet. Vor allem aber gebieten sie, die selbstverständliche Solidarität gegen das Schmähen einer Religionsgemeinschaft in gleicher Weise zu üben, wenn eine andere Religionsgemeinschaft geschmäht wird.

In beiden Fällen sollte diese Art demokratischer, menschlicher Solidarität dazu führen, dass genau hingeschaut wird, wie nun weiter mit der Herabwürdigung in Form der Judensau umgegangen wird. Die Wittenberger Kirchengemeinde wäre gut beraten, sich sehr eng mit verschiedenen jüdischen Einrichtungen und Protagonisten abzustimmen, welche Form von Distanzierung das geringste Übel sein wird.

Anzeige