Schulersatz in der Corona-Krise - „Wir laufen Gefahr, die Schwachen zu verlieren“

Um in der Corona-Krise nicht den Kontakt zu seinen Schülern zu verlieren, hat der Hamburger Schulleiter Björn Lengwenus auf YouTube eine eigene Late Night Show gestartet. Mit dem „digitalen Pausenhof“ will er Schüler und Kollegen nicht nur unterhalten. Er verfolgt damit eine Mission.

„Die Schule fehlt jetzt schon vielen.“ Schulleiter Björn Lengwenus in seiner Late Night Show / Screenshot Youtube
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Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Herrn Lengwenus, ein Schulleiter als Late-Night-Talker, das gibt es nicht mal in den USA. Was haben Sie noch, was David Letterman nicht hat?
Oha, ich glaube, ich habe eine andere Aufgabe als er. Ich muss keine Quoten generieren und die ganze Welt unterhalten. Meine Mission ist es, unsere Schulgemeinschaft in diesen Tagen der Krise zusammenzuhalten. Das macht es für mich komfortabler, weil die Zielgruppe klar umrissen ist.

Ihre tägliche Late Night Show läuft auf Youtube. Was hat Sie so zuversichtlich gemacht, dass Ihre Schüler sich das anschauen?
Ach, wissen Sie. Ich habe mir eine Woche lang angesehen, wie das mit Home Schooling läuft. Das hat wirklich gut geklappt. Ich bin viel mit Schülern ins Gespräch gekommen, über Email und auch übers Telefon. Und die haben mir gesagt, dass ihnen die Schule jetzt schon fehlt.

Tatsächlich? Man könnte meinen, viele seien ganz glücklich.
Das haben wir am Anfang auch gedacht. Aber eigentlich ist es klar. Unsere Schule ist riesig. Sie hat 1.600 Schüler. Sie reicht von der Vorschule bis zur 13. Klasse. Sie liegt in einem der sozial schwächsten Stadtteile in Hamburg. Es ist eine Schwerpunktschule der Inklusion mit fünf Flüchtlingsklassen und eine Schule für Hochleistungssportler. Unser Motto heißt: Be part.

Jeder soll das Gefühlen haben, er gehört dazu?
Genau, und so verstehen sich viele Schüler auch. Für sie ist Schule sehr viel mehr als Lernen. Die Late Night Show ist unser digitaler Pausenhof. Das macht Schule doch auch aus: Freunde treffen, über andere reden, Spaß haben. Dazu kommt: Unser Schwerpunkt ist Film. Es gibt professionelle Filmemacher, die mit den Schülern Filme drehen. Die wären jetzt arbeitslos geworden. Wir haben ihr Know-how genutzt.

Jede Folge beginnt damit, dass Sie traurig durch eine leere Schule streifen. Was vermissen Sie am meisten?
Es gibt ja diesen Spruch: „Schule ist gut – vor allem ohne Schüler.“ Das finde ich überhaupt nicht. Wir haben das Konzept der Offenen Tür. Das heißt, die Schüler können jederzeit zu uns kommen, zum Beispiel, um sich zu beschweren – oder aber auch, wenn sie etwas Schönes erlebt haben. Unsere Schüler haben das verinnerlicht. Die kommen ganz oft zu mir, um mir zu sagen, dass sie einen tollen Lehrer haben oder dass sie gerade eine tolle Stunde hatten. Dieser direkte Kontakt fehlt mir jetzt sehr.

Was zeigt Ihnen das?
Dass Schule nicht allein aus Lernen besteht.

Unter Ihren Kollegen gibt es bestimmt auch einige, die froh sind über die Verschnaufpause. oder?
Da würde ich sofort widersprechen. Ich finde, dass wir ein überragendes Kollegium sind. Wer sich bei uns bewirbt, weiß, an was für einer Schule er landet.

Dabei gibt es an den meisten Schule kaum Wertschätzung, geschweige denn Desinfektionsmittel.
Genau das ist der Punkt. Für mich ist das der tollste Job der Welt, auch, wenn er anstrengend ist. Aber viele Eltern haben erst in der Coronakrise erkannt, wie anstrengend es ist, was wir da tun. Ich hoffe, dass ihre Hochachtung auch dann bleibt, wenn die Krise wieder vorbei ist.

Wird die Krise nicht die Zweiklassen-Gesellschaft verfestigen: Eltern, die es sich leisten können, unterrichten selbst oder organisieren Nachhilfe – der Rest muss sehen, wo er bleibt?
Die Gefahr besteht tatsächlich. Gute Schüler brauchen im Prinzip keinen Unterricht. Sie können selbst lernen. Diese Corona-Zeit ist deshalb so schwierig, weil wir immer Gefahr laufen, die Schwachen zu verlieren. Die, die noch nicht gut deutsch sprechen. Die, die so arm sind, dass sie sich keine Rechner zu Hause leisten können. Oder die, die an sozialer Armut leiden, weil es zu Hause nicht gut funktioniert.

Wie schaffen Sie es, diese Kinder durch die Krise zu bringen?
Wir haben einen großen Pool an Honorarkräften, die normalerweise in der Lernförderung arbeiten. Denen haben wir schon am ersten Tag gesagt: „Wir brauchen euch.“ In einer Poststelle packen Sie individualisierte Pakete mit Lernmaterialien für Schüler, die keinen PC oder keinen Drucker haben – und sie bringen ihnen diese Pakete nach Hause. Es sind 250 bis 400 Pakete am Tag. 

Ist es damit getan?
Nein, es gibt Schüler, denen reicht es nicht, Infoblätter auszudrücken. Die müssen Dinge anfassen. Die brauchen Knete oder solche Dinge. Es gibt auch Honorarkräfte, die täglich ein bis zwei Stunden mit Schülern telefonieren, die wir durch die Krise verlieren könnten. Ich saß gerade dabei und habe mir das angehört. „So, pass mal auf, welche Zettel hast du denn zu Hause? Nimm dir doch mal den vor. O, du findest den nicht? Okay, wir suchen den jetzt gemeinsam. Guck doch mal da und da nach.“

Das klingt schon beim Zuhören anstrengend.
Das ist total anstrengend. Aber das ist auch im Alltag unsere Arbeit. Denn nicht jedes Kind ist einigermaßen gut organisiert. Wir haben Kinder, die nicht so schnell lernen. Kinder, bei denen es zu Hause chaotisch ist. Wir wollen für alle eine gute Schule sein. Wir kennen diese Form des Lernens. Wir haben sie nur an die Krise angepasst.

Wieviel Prozent des Unterrichtsstoffes können Sie dadurch abdecken?
Weiß ich nicht. Ich glaube, wir dürfen uns da nicht überschätzen. Das Problem ist nicht, dass Unterrichtsstoff verpasst wird. Das ist nur für die Abiturienten wichtig. Uns ist wichtig, dass wir eine Ritualisierung des Tages beibehalten. Dass die Schüler eine Aufgabe haben. Dass wir jeden Tag mit jedem Schüler einmal in Kontakt kommen.

Deutschlands Schulen hinkten bislang bei der Digitalisierung hinterher. Wird sich das durch das Homeschooling ändern?
Kann schon sein. Wir sind ganz mutig und probieren viele Sachen aus. Und vieles ist auch schön. Aber was wir festgestellt haben, ist, dass diese Form von Digitalisierung gar nicht das ist, was unsere Schüler brauchen. Also, die Lehrer kennen doch ihre Methoden. Die wissen auch, wie man ein Youtube-Anleitungsvideo dreht. Aber sie stellen eben fest, dass so ein Video zwar lustig ist und cool. Aber wie sagt man jemandem augenzwinkernd, dass er etwas nicht kann? Das online umzusetzen, ist die große Herausforderung.

Zurück zur Late Night: Wie bewerten Ihre Schüler Ihren Coolness-Faktor als Talker?
Besser als ich gedacht hatte. Ich gehe zwischen den Clips in so einer grauen Schlunzhose und einem ausgeleierten Hoodie durch die Schule. Und dann schreibt so ein Schüler: „Wo kriegt man diesen geilen Pullover her?“ Also, dass ausgerechnet mich als Schulleiter irgendjemand auf meine Klamotten ansprechen würde, hätte ich nie gedacht. 

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