Man sieht nur, was man sucht - Die Lüsternheit des Sultans Süleyman des Prächtigen

Rokokomaler Anton Hickel sah im muslimischen Lebensstil ein Vorbild für galante Freizügigkeit – die im 19. Jahrhundert allerdings ihr Ende fand.

'Roxelane und der Sultan' von Anton Hickel (Ausschnitt) / picture alliance
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Beat Wyss hat an zahlreichen internationalen Universitäten gelehrt. Er hat kontinuierlich Schriften zur Kulturkritik, Mediengeschichte und Kunst veröffentlicht. Beat Wyss ist Professor an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe.

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Die in sinnlicher Schönheit strahlende Konkubine singt zum Spiel der Oud, mit hurtiger Könnerschaft umspinnen ihre Finger die Saiten des bauchigen Instruments, das zu Ende des ersten Jahrtausends christlicher Zeitrechnung, zusammen mit der Expansion des Islam, die Landstriche rund ums Mittelmeer mit vielstimmig zitterndem Klang eroberte. Anton Hickel, der böhmische Maler des ausgehenden 18. Jahrhunderts, verschwistert das orientalische Vorbild mit der abendländischen Laute, da er den Steg mit Bünden versieht, auf die das orientalische Vorbild verzichtet, um den angeschlagenen Saiten jauchzend klagende Glissandi zu entlocken.

Der Sultan steht hinter der Schönen, seine vor Verzückung halb geschlossenen Augen verraten nicht, ob ihn die Musik so verzaubert oder mehr noch jene leibhaft warme Nähe der Geliebten. Lange wird er ihrem Singen nicht mehr Raum gewähren, der Mann hat schon sanft, doch bestimmt den Schleier der Schönen, Zeichen züchtiger Zurückhaltung, vom Gesicht gezogen, seine von Lüsternheit feucht glänzenden Lippen werden sich bald dem Mund der Sängerin nähern.

Roxelane und der lüsterne Sultan

Um das sagenumwobene Paar ranken sich Legenden. Roxelane, die Favoritin im Harem des Herrschers, war als junge Sklavin nach Istanbul gekommen, entführt von Menschenhändlern, die in der Kiewer Rus tätig waren, jenem Gebiet, wo sich die heutige Ukraine, Polen und Weißrussland begegnen. Relativ bequem zu Wasser war der Weg der Verschleppten zu meistern aus dem Innern des eurasischen Kontinents an die Abnehmer der kostbaren Ware: vom Fluss Dnjepr zum Schwarzen Meer an die Mündung des Bosporus. Dass sich das Wort „Sklave“ von jenen slawischen Gegenden ableite, wird heute allgemein angenommen. Mit einer Sklavin von weißer Haut und reizendem Körperbau konnte ein Menschenhändler gut das Zehnfache des Preises für ein farbiges Mädchen erzielen.

 

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Beim lüsternen Sultan handelt es sich um keinen Geringeren als Süleyman den Prächtigen, unter dem das Osmanische Reich seine größte Ausdehnung erzielte: die Kontrolle über die Nordküste Afrikas, Herrschaft über Ägypten, Palästina, Syrien und den heutigen Irak, die Türkei und Griechenland bis hoch nach Ungarn, Moldawien und die Halbinsel Krim. Nur mit Mühe konnte das Habsburgische Heer im Verein mit den Armeen des Heiligen Römischen Reiches im Oktober 1525 die Eroberung Wiens abwehren. Wetterglück für die Wiener spielte dabei die Hauptrolle: Ein früher Vorbote des Winters ließ es dem Sultan geraten sein, sich zurückzuziehen. Hauptsache, man habe dem christlichen Kaiser Ferdinand gezeigt, „was ’ne Harke ist“.

Muselmanischer Lebensstil galt als Vorbild für Freizügigkeit

Wie unterschiedlich, im Vergleich zu heute, ist doch der Kulturvergleich zwischen Europa und dem perso-arabischen Raum vom Mittelalter bis zur Schwelle der Moderne. Noch sah unser Rokokomaler im muselmanischen Lebensstil ein Vorbild für galante Freizügigkeit. Wir dürfen nicht vergessen, dass der Islam sich kulturgeografisch an den Mittelmeerküsten zum Persischen Golf hin ausbreitete, wo antike Kultur und damit ein Lebensstil fortbestand, wo ein körperbetonter Hedonismus und Homoerotik zum Alltag gehörten.

Zu den Begründern einer deftigen Liebeslyrik gehört Abu Nuwas im 9. Jahrhundert, der in den „Geschichten von 1001 Nacht“ als Begleiter von Harun ar-Raschid auftaucht. Auf städtischen Märkten zu kaufen gab es, nebst Aphrodisiaka, Ratschläge fürs Liebesleben wie etwa „Die Sex-Stellungen des Sultans“, eine Adaption des „Kamasutra“ aus Indien, verfasst von Nasir al-Din al-Tusi. Kein Sultan hätte sich doch von einem fanatisch religiösen Schriftgelehrten vorschreiben lassen, wie er sein Liebesleben zu gestalten habe.

Mit dem „West-Östlichen Diwan“ setzte Goethe ein spätes Denkmal auf die muslimische Kultur der Erotik. Dann wandte sich das Blatt. Mit den nationalen Bewegungen des 19. Jahrhunderts verlor das Osmanische Reich eine um die andere Provinz im Balkan. Darum ist die Rede, in den islamischen Ländern heute herrsche ein „Rückfall ins Mittelalter“, so verkehrt. Der fanatische Islamismus unserer Tage ist eine Reaktion auf die Kolonisierung der muslimischen Territorien in Nordafrika und der Levante durch den Westen, der dank dem stahlglänzenden Segen der Industrialisierung die uralte muslimische Kultur gnadenlos überholt hat – als Überbleibsel der römischen Antike. 

 

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