Hamed Abdel-Samad über deutsche Identität - Neues vom alten Affen German Angst

Der engagierte Politologe Hamed Abdel-Samad legt Deutschland mit seinem neuen Buch „Aus Liebe zu Deutschland“ auf die Couch und will auf diesem Weg ein ausgewachsenes Identitätsproblem kurieren.

Hamed Abdel-Samad: Deutschland braucht eine offene Wertedebatte / dpa
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Für einen Zeitgenossen wie den Publizisten und Politologen Hamed Abdel-Samad muss man dankbar sein. Abdel-Samad nämlich sorgt für Abkühlung in unserer heiß gelaufenen Gesellschaft. Er ist wie ein guter Therapeut. Er geht dahin, wo es wirklich wehtut, und stellt beizeiten wichtige Fragen. Mit seinem neuen „Warnruf“ „Aus Liebe zu Deutschland“ bittet er uns alle auf die psychoanalytische Couch, lädt ein zu mehr Selbstreflexion, Selbsterkenntnis und Selbstbewusstsein. Und das ist genau das Therapeutikum, das Deutschland in diesen Tagen bitter nötig hat.

Hamed Abdel-Samads Diagnose – Deutschland habe ein Identitäts- und Werteproblem – liest sich wie das Gutachten eines erfahrenen Analytikers. Klar, nüchtern, präzise. Und mit eben solcher Schärfe geht der Autor auf Ursachenforschung. Da wäre etwa die „German Angst“ beziehungsweise die deutsche „Untertanen-Mentalität“. Linke hätten hierzulande vor Rechten Angst, Rechte fürchteten sich vor Migranten. Jeder habe vor jedem Angst. Laut Abdel-Samad hänge dieser Hang zur Unterwerfung mit den vielen unverarbeiteten Niederlagen in der deutschen Geschichte zusammen: Da wäre etwa das Scheitern des Heiligen Römischen Reiches oder die Niederlagen in den beiden Weltkriegen. Deutschland: Land der Angsthasen?

Land der Ideologen und Selbstunsicheren?

Des Weiteren tendiere Deutschland dazu, sich vornehmlich über das Andere, also „durch die Abgrenzung von der Gegenseite“ zu definieren. Linke täten dies über die Rechten und Rechte wiederum über Migranten. Das befeuere ein Freund-Feind-Denken, das ideologisches Gedankengut hervorbrächte und am Ende die Gesellschaft spalte. Begriffe wie „Nazi“ oder „Islamophobie“ zeugten von dieser wahnhaften Feindseligkeit. Deutschland: Land der Ideologen?

Hinzu käme drittens das fehlende Selbstbewusstsein. Das ständige Hin und Her zwischen Hybris und Verbitterung stachle diese Selbstunsicherheit weiter an. Ein Blick in die deutsche Vergangenheit könne das erklären: Voller Enthusiasmus und Engagement sei Deutschland etwa in die beiden Weltkriege gegangen, voller Demut und Verbitterung sei es aus beiden wieder herausgekommen. Deutschland: Land der Selbstunsicheren?

Land der Möglichkeiten?

Für die deutsche Identitätsfindung stellen diese Faktoren eine toxische Mischung dar. Und genau deshalb will Abdel-Samad diese Trias überwinden. Indem er sich traut, das zu sagen, was viele nicht zu sagen wagen. Er führt uns die Probleme dieses Landes klar vor Augen und bietet pragmatische Lösungsvorschläge an.

Der wichtigste Schritt in Abdel-Samads Therapieprogramm: Deutschland braucht eine offene Wertedebatte. Diese dürfe aber nicht vornehmlich den politischen Rändern überlassen werden, vor allem die gesellschaftliche Mitte sei bei dieser wichtigen Aufgabe gefordert. Denn nur gemeinsam könne Deutschland zu sich selbst finden. Das Potenzial jedenfalls sei vorhanden. Deutschland: Land der Möglichkeiten? 

Jetzt heißt es, den Weg aus der Enge zu finden. Einen besseren Begleiter als Abdel-Samad kann man sich für dieses Vorhaben nicht wünschen. Wer besser verstehen möchte, was hierzulande falsch läuft, der kann an Abdel-Samad und seinem neuen Buch nicht vorbei. Die Lektüre lohnt sich – nicht nur für jene, die Deutschland lieben.

Hamed Abdel-Samad: Aus Liebe zu Deutschland. Ein Warnruf. dtv, München 2020. 224 Seiten, 14,99 €.

Dieser Text stammt aus der Oktober-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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