Freiheit gegen Vernunft - Sei doch vernünftig!

Nicht nur in der Corona-Krise greift der Staat im Namen einer angeblichen Vernunft zunehmend in die Freiheitsrechte des Einzelnen ein. Eine bedenkliche Entwicklung. Denn wer entscheidet, was vernünftig ist? Und warum eigentlich sollte man vernünftig leben?

Ebbelwoi, Schnitzel, Zigaretten: nicht vernünftig, aber lecker / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Freiheit ist die Freiheit unvernünftig zu sein. Klingt etwas provozierend, ist aber so. Denn was vernünftig ist, scheint relativ klar zu sein. Glaubt man der gängigen Sicht der Dinge, dann ist es vernünftig, sich gesund zu ernähren, keinen Alkohol zu trinken, nicht zu rauchen, beim Radeln einen Helm zu tragen, auf der Autobahn 80 zu fahren. Und am besten trägt man immer, aber auch immer einen Mundschutz nebst Latexhandschuhen – man weiß ja nie.

Wenn die Vernunft ihr griesgrämiges Haupt erhebt, ist es schnell vorbei mit der Freiheit. Was vernünftig ist, scheint evident. Zu entscheiden braucht man dann eigentlich nichts mehr. Was man zu tun oder zu lassen hat, versteht sich von selbst. Doch Freiheit ohne Entscheidungsfreiheit ist keine mehr.

Vernunft ist relativ

Die ganze Sache hat natürlich einen Haken. Sie ahnen es: Was vernünftig ist, gilt als umstritten. Ist es wirklich vernünftig keinen Alkohol zu trinken? Ist es tatsächlich vernünftig, den trögen Tipps der Ernährungsberater Folge zu leisten? Oder nicht zu rauchen? Sie kennen die Antwort: Kommt darauf an, was man für vernünftig hält. Wenn man denkt, ein kurzes aber exzessives Leben sei erstrebenswert, dann scheint jeder Anflug von Askese unsinnig. Akademisch ausgedrückt: Vernünftigkeit ist ein relationaler Begriff. Vernünftig ist etwas immer nur in Bezug auf ein Ziel oder ein Ideal. Ob dieses Ziel selbst vernünftig ist, lässt sich nicht sagen. Ist es vernünftig lang und gesund zu leben oder kurz und exzessiv? Wer will das entscheiden?

Doch wie es das Schicksal so will: Wir leben nicht allein auf dieser Welt. Daher hat meine Freiheit nicht nur Auswirkungen auf mich, sondern auch auf andere. Gemeinschaften geben sich daher Regeln, die das Miteinander steuern sollen. Wir nennen diese Regeln Moral. Sie soll die Handlungsimpulse der Individuen zu Gunsten des sozialen Friedens zähmen. Deshalb ist die Moral die natürliche Feindin der Freiheit.

Im Kern handelt es sich um ein Tauschgeschäft: Das Individuum gibt ein Teil seiner Freiheit her, indem es sich den kollektiven Verboten unterwirft (Moral bedeutet im Wesentlichen Verzicht). Dafür bekommt es soziale Sicherheit. Ob die Moral, auf die sich das Individuum einlässt, aus seiner Sicht vernünftig ist, spielt dabei keine Rolle. Vernünftig ist in dem Fall ganz einfach, was die herrschende Meinung für vernünftig hält. Das ist gut, solang man der herrschenden Meinung anhängt. Andernfalls lebt man ein Leben im Kompromiss. Sie kennen das.

Der Staat will Regeln

Nun haben moderne Massendemokratien die ungute Tendenz, immer mehr Lebensbereiche vernünftig regeln zu wollen. Das hat zum einen systemische Gründe: Verwaltungen wollen verwalten. Und sie wollen immer mehr verwalten. Verwalten aber bedeutet zu regeln. Hinzu kommt ein politischer Ur-Impuls. Politiker wollen „gestalten“, wie das in der Politikersprache heißt. Und auch das bedeutet zumeist: regeln. Und schließlich neigen Wohlstandsgesellschaften dazu, die Verantwortung des Individuums für sein Leben vom Einzelnen weg zur Gesellschaft zu delegieren. In dem Willen auch die letzten sozialen Friktionen aufzuheben, reißt der Staat immer mehr Kompetenz an sich – von der frühkindlichen Erziehung über die Gestaltung der Ausbildung bis zur Pflegeverordnung.

Um die damit verbundenen Eingriffe in die Lebensführung seiner Bürger zu rechtfertigen, berufen sich die Regierenden zumindest implizit auf die Vernünftigkeit der jeweiligen Maßnahmen. Vernünftigkeit wird hier mit allgemeiner Wohlfahrt gleichgesetzt. Aus der Sicht einer Staatsverwaltung mag das so sein. Aus Sicht des Individuums mitnichten. Doch mitgefangen, mitgehangen sagt der Volksmund. 

Vom Recht auf Unvernunft

In geradezu hegelscher Manier erhebt sich der Staat so zum Sachwalter der Vernunft schlechthin. Und damit das nicht allzu autoritär klingt, inszeniert er sich als Anwalt der „Solidarität“. Dass Zwangssolidarität keine Solidarität ist, sondern die Einschränkung individueller Freiheit mit Hilfe moraliner Rhetorik, wird dabei geflissentlich übersehen.

Das Ende ist absehbar: Es ist das total vernünftig geregelte Leben aller: nachhaltig, gesund und ethisch zertifiziert. Wer kann schon etwas dagegen haben? – Man sollte. Nicht um unethisch zu leben. Sondern um die Freiheit zu verteidigen. Denn ohne Freiheit wird auch die schönste Vernünftigkeit belanglos.
 

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