Mineralwasserboom in Deutschland - Bei Durst einfach den Wasserhahn aufdrehen

Unser Genusskolumnist beobachtet gerade im Sommer, was für manchmal unglaubliche Mengen Mineralwasser aus Supermärkten geschleppt werden. Und fragt sich: Haben die Menschen immer noch viel zu viel überschüssiges Geld?

Lecker und günstig: Leitungswasser / picture alliance
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Autoreninfo

Rainer Balcerowiak ist Journalist und Autor und wohnt in Berlin. Im Februar 2017 erschien von ihm „Die Heuchelei von der Reform: Wie die Politik Meinungen macht, desinformiert und falsche Hoffnungen weckt (edition berolina). Er betreibt den Blog „Genuss ist Notwehr“.

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Manch entsprechend disponierter Zeitgenosse wird es wohl schon als Bevormundung oder gar Gesundheitsdiktatur empfinden, wenn gerade in der heißen Jahreszeit permanent von der Notwendigkeit zu hören ist, doch bitte für ausreichend regelmäßige Flüssigkeitszufuhr zu sorgen, besonders in Form von Wasser. 1,5 Liter pro Tag gelten dabei als eine Art Untergrenze. Bei großer Hitze, beim Sport oder einer anstrengenden körperlichen Arbeit kann aber auch ein Mehrfaches notwendig sein. Der Bedarf ist auch abhängig von Alter, Geschlecht, Gesundheitszustand und Körpergröße.

Querdenker sollten sich jedenfalls sehr gut überlegen, sich da zu verweigern. Denn Wassermangel im Körper kann kurz- aber vor allem langfristig zu gravierenden gesundheitlichen Problemen führen. Dazu gehören Müdigkeit, eingeschränkte geistige und körperliche Leistungsfähigkeit, Kreislaufprobleme, Störungen der Nierenfunktion bis hin zum Kollaps.

Flächendeckend gutes Trinkwasser

Noch leben wir die Trinkwasserversorgung betreffend in Deutschland und anderen Teilen Europas auf einer Insel der Seligen. Trinkwasser gehört hierzulande zu den am umfassendsten kontrollierten und überwachten Lebensmitteln überhaupt. Es ist in fast allen Ecken des Landes in guter bis sehr guter Qualität nahezu uneingeschränkt verfügbar und mit einem Preis von durchschnittlich 0,2 Cent pro Liter unschlagbar billig. Man braucht bloß den Hahn aufzudrehen, um dieses gesunde Lebenselixier zu genießen. Gerne ein bisschen aufgepeppt, z.B. mit Zitrone, Limette oder frischer Minze.

 

Zuletzt in „Genuss ist Notwehr“ erschienen:

 

Ein lange Zeit gängiges Argument für Mineralwasser war die Gefährdung durch Bleirohre in der Hauswasserversorgung. Doch die dürfen schon sehr lange nicht mehr verbaut werden und wurden auch in Altbauten größtenteils ausgetauscht. Nennenswerte Grenzwertüberschreitungen wurden in den vergangenen Jahren kaum noch registriert. Im Zuge der letzten Novelle der Trinkwasserverordnung vom Juni 2023 sind Bleirohre als Wasserleitungen endgültig verboten, allerdings mit einer Übergangsfrist bis Anfang 2026. Die Probleme mit verunreinigtem Mineralwasser sind inzwischen deutlich relevanter, wie in diversen Tests nachgewiesen wurde. Generell kommen alle relevanten Tests zu dem Ergebnis, dass Leitungswasser den abgefüllten Varianten mindestens ebenbürtig ist – außer beim Preis.

Mineralwasser als Lebensgefühl

Der Ernährungssoziologe Daniel Kofahl will allerdings das Problem mit alten Wasserrohren in „bestimmten Wohnlagen“, in denen vor allem ärmere Menschen leben, nicht geringschätzen. Aber „das erklärt in der Menge keineswegs den Umsatz mit stillem Wasser“. Viele fallen „auf die Werbeclaims herein und kaufen sich nicht primär das Wasser, sondern ein Lebensgefühl“, so Kofahl.

Die Getränkeindustrie hat es jedenfalls geschafft, uns einzureden, dass es irgendwie besser wäre, Mineralwasser zu trinken. Schon die Bezeichnung ist einigermaßen absurd, weil es für diese Produkte keinen vorgeschriebenen Mindestgehalt an Mineralien gibt. Der Mineralstoffgehalt von Leitungswasser liegt meistens zwischen 150 und 600 Milligramm pro Liter Wasser, und bei Vergleichstests gab es auch Mineralwasser mit einem Gehalt von unter 100 Milligramm. Ohnehin wird nur ein sehr geringer Teil der für den Körper notwendigen Mineralstoffe mit Wasser aufgenommen.

Der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch von Mineralwasser hat sich in den vergangenen 50 Jahren mehr als verzehnfacht, von 12,5 auf 129 Liter. Insgesamt wurden 2022 knapp über 10 Milliarden Liter Mineral-, Tafel und Heilwasser in Deutschland abgesetzt. Rund 10 Prozent davon wurden sogar aus dem Ausland importiert, vor allem stilles Wasser ohne zugesetzte Kohlensäure.

Restaurants mauern bei Leitungswasser

Gibt es bei sprudelndem Mineralwasser noch einige stichhaltige Argumente für den Konsum von Flaschenware, so erfordert das bei der sich zunehmender Beliebtheit erfreuenden stillen Variante schon heftige PR-Verrenkungen der Getränkeindustrie bis hin zu einem Luxussegment, in dem für Distinktionskonsumenten ein ähnlicher Budenzauber wie mit Salz veranstaltet wird. Und natürlich gibt es mittlerweile auch Mineralwasser mit einem (nichtamtlichen) „Bio-Siegel“.

Auf der anderen Seite wird eine seit 2022 geltende, aber nicht verpflichtende EU-Richtlinie, laut der in Restaurants Leitungswasser kostenlos zum Essen angeboten werden soll, in Deutschland kaum beachtet. Während es in Frankreich und den meisten südeuropäischen Ländern Standard ist, zum Essen oder zum Espresso stets eine Karaffe oder ein Glas Wasser zu bekommen, wird man in Deutschland in der Regel auf Mineralwasser aus der Getränkekarte verwiesen.

Teuer und ökologisch verheerend

Dass Mineralwasser aber auch beim häuslichen Gebrauch ausgerechnet im Land der Schnäppchenjäger so einen anhaltenden Boom erlebt, ist schwer nachzuvollziehen. Für 10 Euro kann man 4000-5000 Liter Leitungswasser bekommen – oder 2 bis 60 Liter Mineralwasser (je nach Marke und Einkaufsort).

Auch die Öko-Bilanz von Mineralwasser ist verheerend. Es wird in Mehr- oder Einwegflaschen abgefüllt, die wiederum transportiert und recycelt werden müssen und oftmals lange Transportwege benötigen. Mineralwasser hat einen erheblichen Anteil an dem jährlichen Abfallberg von deutschlandweit 16,5 Milliarden Einwegplastikflaschen. Produktion und Vertrieb von Mineralwasser sorgen pro Jahr für einen CO2-Ausstoß, der das Anderthalbfache des innerdeutschen Flugverkehrs (vor Corona) beträgt.

Darauf ein Glas Château Wasserwerk

Wie dem auch sei: Es gibt – von wenigen Ausnahmen abgesehen – keinen rationalen Grund, seinen Trinkwasserbedarf ganz oder überwiegend mit stillem Mineralwasser zu decken. Selbst die Bequemlichkeit taugt nicht als Argument, schließlich muss man die Flaschen ja transportieren und entsorgen.

Kofahl hat einen Erklärungsansatz. Möglicherweise „sind viele Deutsche auch besonders misstrauisch gegenüber der kontrollierten Wasserqualität“ oder folgen dubiosen Verschwörungstheorien über die gezielte Beimengung von Psychopharmaka im Trinkwasser. „Aber diesen Verdacht spüle ich natürlich sofort mit einem kühlen Glas frisch gezapftem Kraneberger herunter.“ Kranebeger kannte ich noch nicht, aber in seinem Sinne gönne ich mir jetzt ein Glas Château Wasserwerk.

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