Hundertster Geburtstag von Friedrich Dürrenmatt - Der Chronist im Irrenhaus

Fortschrittsskeptiker, Kapitalismuskritiker und dennoch der beliebteste Bühnenautor unserer Zeit: Vor 100 Jahren wurde der Schweizer Schriftsteller und Dramatiker Friedrich Dürrenmatt geboren, ein Visionär mit einem düsteren Weltbild.

Friedrich Dürrenmatt zusammen mit Charlotte Kerr im Jahr 1990 7 dpa
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Autoreninfo

Björn Hayer ist habilitierter Germanist und arbeitet neben seiner Tätigkeit als Privatdozent für Literaturwissenschaft als Kritiker, Essayist und Autor.

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Welche Gültigkeit hat die Moral? Ist sie wirklich unveräußerlich? Mit diesen Fragen beschäftigen sich nahezu sämtliche literarischen Zeugnisse Friedrich Dürrenmatts, der wie kein anderer Dramatiker des 20. Jahrhunderts Fortschrittsskepsis und provokationsfreudige Kapitalismuskritik für die Bühnen zu popularisieren wusste. Dass sich seine Texte zu seinem 100. Geburtstag ungebrochener Aktualität erfreuen, wird in der Corona-Pandemie mehr als deutlich.

Nehmen wir nur einmal sein berühmtestes Drama, „Der Besuch der alten Dame“ (1956), das man wie einen voll und ganz gegenwärtigen Kommentar auf die Gesellschaft im Schatten des Virus lesen kann. Nur kommt unsere Gegenwart dabei sichtlich besser weg als die verarmte Kleinstadtgemeinschaft in Dürrenmatts schwarzgalliger Groteske. Geradezu heimgesucht wird sie von der Multimillionärin Claire Zachanassian. Zwar stellt die bizarre Dame mit Vorliebe für Panther- und Männerjagden ihrem einstigen Heimatort üppige finanzielle Hilfe in Aussicht, fordert dafür aber den Kopf des Krämerladenbesitzers Alfred Ill, der sie in ihrer Jugend verstieß. Obwohl die Bürger und Bürgerinnen sich zunächst auf die hehren Ideale der westlich-abendländischen Hemisphäre berufen, schwinden die ethischen Vorsätze mit jedem neuen Paar Schuhe – bis sich der Protagonist zuletzt für die Gier des Kollektivs opfert. Wie viel ist also ein Menschenleben wert?

Der wichtigste Schweizer Bühnenautor

Während die aktuelle Politik dem Schutz des Einzelnen Vorrang gegenüber wirtschaftlicher Prosperität gibt und damit Anlass zur Freude über die Durchsetzung von Menschenrechten bietet, hat der – neben Max Frisch – wichtigste Schweizer Bühnenautor der Moderne seine kulturkritische Haltung nie abgelegt. Seine Kriminalromane „Das Versprechen“ (1958) oder „Der Richter und sein Henker“ (1950) zeugen von einem zutiefst dunklen Menschenbild. Dasselbe trifft auf seine Werke, die im Dunstkreis des Kalten Krieges entstanden sind, zu.

1921 in Konolfingen als Sohn eines Dorfpfarrers geboren, wuchs Dürrenmatt in einer Epoche schwerster globaler Krisen auf: erst die Rezession der Weltwirtschaft, dann der grassierende Faschismus und schließlich der Ost-West-Konflikt. Am eindrücklichsten trägt ihn der Schriftsteller in seinem Stücken „Die Physiker“ (1962) aus. Um der Öffentlichkeit eine Weltformel zum Bau einer verheerenden Bombe vorzuenthalten und die Apokalypse zu verhindern, täuschen die titelgebenden Wissenschaftler eine Geisteskrankheit vor. Als die Chefärztin der Psychiatrie davon allerdings Wind bekommt, ist ihr jedes Mittel recht, um an das Wissen zu gelangen.

Die Zivilisation ist fragil

Noch eindringlicher erweist sich das Ringen um Herrschaftsansprüche in dem heute leider etwas in Vergessenheit geratenen Hörspiel „Das Unternehmen der Wega“ (1954), einer pessimistischen Sci-Fi-Robinsonade. Hierin haben Amerikaner und Sowjets die Outlaws ihrer jeweiligen Gesellschaften auf die Venus verbannt. Mit der Zuspitzung der Lage zwischen den Großmächten scheinen diese für eine Seite aber wieder in den Blick zu geraten. Eine US-Delegation versucht die Bewohner des unwirtlichen Planeten gegen den Feind zu mobilisieren. Als das Unterfangen scheitert, wirft diese einfach eine Bombe ab, die alles Leben in der Fremde zerstören wird.

Was Dürrenmatt unentwegt veranschaulicht, ist die Fragilität der zivilisatorischen Decke, bedroht durch Triebhaftigkeit, Gier, Dekadenz und ungebändigten empirischen Drang. In seinen Texten wird nie auf bloßen Anklageton gesetzt, nie auf ein politisches Theater, das nur proklamatorischen Zwecken dienen soll. Im Gegenteil: Der Vielschreiber war ein echter Satyr, ein Genie für absurde Komik, ein begnadeter Dialogschreiber mit dem Gespür für die Pointe im rechten Augenblick. Tragödie und Trauerspiel waren ihm nicht genug, erst das verzweifelte Lachen galt ihm als Ausdruck des völligen Wahnsinns!

Ein Schüler Brechts

Sichtlich ist er bei Brecht in die Schule gegangen und hat dessen episches Theater mitsamt all seiner Verfremdungsmechanismen weiterentwickelt. Das Publikum sollte schon qua Form, qua Irritationsmomente auf der Bühne wachgerüttelt werden. Mindestens so schwer wie der Werteverfall wiegt daher immer wieder die Passivität, wie man in seiner 1949 uraufgeführten Komödie „Romulus der Große“ beobachten kann. Hierin treffen wir auf einen regierungsmüden Herrscher. Da er die Verkommenheit seines Volkes verachtet, sieht er dem Einmarsch der Germanen in Westrom gelassen entgegen.

Statt die Armee zur Gegenwehr aufzufordern, führt er auf seinem Landsitz das Leben eines Hühnerzüchters und Gärtners. Man kann das Ganze unter dem zeitgemäßen Schlagwort der „Postpolitik“ subsumieren. Sie steht für die Lähmung des demokratischen Austausches, wie er mit dem jedweden Diskurs sedierenden „Merkelismus" unserer Tage verknüpft ist. Wo andere nach Visionen rufen, wartet sie in der Rolle der Moderatorin auf die bestmögliche Lösung für den Moment. Auch Romulus gehört dieser Gattung an und macht – ex negativo – deutlich, dass Politik Vordenker und vor allem Utopien braucht.

Humor als Waffe

Dürrenmatt war kein Nihilist, auch wenn sich seine Texte einer positiven Vision von der Welt verweigern. Ob wir heute gereifter, klüger, verantwortungsbewusster sind als das Publikum damals? Dass die Dramen des am 14. Dezember 1990 in Neuenburg verstorbenen Autors alljährlich noch immer die Spielpläne der deutschsprachigen Theater säumen, ist zumindest ein Indiz dafür, dass Dürrenmatt uns noch viel zu sagen hat – als wirkmächtiger Literat, dessen stärkste Waffe sein skrupelloser Humor war.

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